EINS

Es sah wie ein Unfall aus, aber es war Mord. Doch das merkte ich erst viel später. Eine ganze Weile stocherte ich frohgemut im Nebel herum, stöberte hier etwas auf, versetzte dort jemanden in Panik und drehte dabei jeden Stein um, den es in Bokau und Umgebung gab. Allerdings befand ich mich mit meiner Ahnungslosigkeit in bester Gesellschaft. Denn niemand im Dorf hielt es schließlich für eine Gewalttat, alle sprachen von einem tragischen Unglücksfall. Tragisch für das Opfer, natürlich, aber auch und vielleicht noch mehr für den Täter.

Dabei liefen bei mir alle Hinweise zusammen. Ich hätte sie nur zu sortieren und zu bündeln brauchen. Dann wäre ich klüger gewesen. Ich tat es nicht, weil ich die Zeichen einfach nicht erkannte. Und das lag an Gustav, was natürlich keine Entschuldigung war, aber vielleicht doch einer Erklärung für meine überaus lange Leitung in diesem Fall gleichkommt. Denn mein Schildkröterich und Wohngefährte war eines Morgens wie vom Erdboden verschluckt, und ich machte mir mittlerweile tierisch Sorgen um ihn. Ich weiß, dass die Beziehung zu einem Reptil bei den meisten Leuten nicht besonders innig ist – es hat rein gar nichts zum Knuddeln und ist darüber hinaus nicht gerade mit einer nobelpreisverdächtigen Intelligenz gesegnet –, aber wer mich, Hanna Hemlokk, kennt, weiß, dass ich meinen kleinen Sonnenschein nun einmal liebe. Immerhin sind wir zusammen aufgewachsen.

Zunächst suchte ich eher nachlässig mein zwölf Quadratmeter großes Gärtlein nach ihm ab und befragte dabei die Krötendame Hannelore nach dem Aufenthaltsort ihres Galans. Sie hatte keine Ahnung, schloss ich aus ihrem Schweigen, sondern döste gelangweilt und stumm unter ihrem Salbeibusch vor sich hin. Auch gut. Hannelore war gewissermaßen ein Erbstück aus meinem vorletzten Fall, und wir kamen so lala miteinander aus. Ihren Verlust hätte ich weitaus eher verschmerzt als Gustavs dauerhaftes Verschwinden.

Am nächsten Morgen bezog ich schon meine Villa in das Suchprogramm mit ein, schaute hinterm Klo nach und unter der Couch. Ich fand nichts außer ein paar Staubflocken, die dort zweifellos hingehörten. Jetzt endlich begann ich, mir ernsthaft Sorgen zu machen. Ob vielleicht jemand meinen Kröterich geklaut hatte? Aber wer? Und weshalb? Um mit ihm ordentlich Geld zu scheffeln?

Die Preise für Griechische Landschildkröten bewegten sich schon seit Jahren nach unten. Gut, erwachsene Tiere waren immer noch gesucht, allerdings, die Herren der Schöpfung werden es nicht gern hören, nur weibliche Exemplare für die Zucht. Denn spätestens wenn ein zweiter Schildkröterich hinzukommt, beginnt zwischen den beiden konkurrierenden Kronen der Schöpfung ein Hauen und Stechen, als wenn ihnen mehr als ein Zacken in selbiger fehlte.

Nein, mit Gustav wurde niemand reich. Schweren Herzens tippte ich deshalb eher auf einen großen Greifvogel, der sich den armen Kerl geschnappt und ihn irgendwo im Nirgendwo wieder fallen gelassen hatte, als er merkte, dass diese seltsame Dose keineswegs ein schmackhaftes Abendbrot bot.

Erst am dritten Tag entdeckte ich das Loch im Gartenzaun. Es war nicht groß, kann ich zu meiner Ehrenrettung sagen, doch es reichte eindeutig, dass sich ein dummer Kröterich hindurchschieben und in den Weiten Bokaus verschwinden konnte. Eine detektivische Glanzleistung meinerseits war das nicht, zugegeben, denn so sank ich erst, als die Fährte bereits erkaltet war, vor dem Zaun auf die Knie, um wie weiland Winnetou jeden platten Grashalm zu interpretieren, den der Ausbrecher auf seinem Weg in die Freiheit niedergewalzt hatte.

Die Spur führte eindeutig zu Silvia, meiner kühischen Nachbarin mit den seelenvollen Augen und dem Mopp zwischen den Hörnern. Und hier endete die Fährte auch – an einer graubraunen Flade von der Größe einer Familienpizza. Von da ab war alles reine Spekulation, nicht einmal Old Shatterhand hätte aus dem Wirrwarr von geknickten Halmen, Hufabdrücken und Maulwurfshügeln noch etwas Brauchbareres herauslesen können, als dass es sich um eine satte nasse Wiese im Herzen Schleswig-Holsteins handelte.

Mist! Ich fluchte lauthals vor mich hin und befragte meine beiden direkten Nachbarn, ob mein Kröterich vielleicht bei ihnen vorbeigeschlendert war. War er nicht. Weder der alte Hermann noch einer von den Pliemkes hatte ihn gesehen, sonst hätte man mir natürlich schon längst Bescheid gegeben.

»Kümmt schon wedder«, lauteten die trostreich gemeinten Kommentare, doch ich wusste es besser.

Gustav lebte im Hier und Jetzt, ihn zog nichts zu seinem Heim und in meinen Garten. Er wusste vermutlich überhaupt nicht einmal, dass es ihn gab. Ich machte mir da gar nichts vor. Wenn der Junge zurückkam, war das nichts als der blanke Zufall.

Und zu allem Überfluss ging es mittlerweile auch noch auf den Winter zu. Morgens hing die Feuchtigkeit zwischen den Bäumen wie ein glitzerndes Tuch, und auf den Wiesen lag der Tau bis mittags, weil es der Sonne bereits an Kraft fehlte.

Was das alles mit Gustav zu tun hatte? Eine Menge, denn Reptilien sind wechselwarm, das heißt, sie besitzen in ihrem Inneren keine Heizung wie Säugetiere, sondern sind darauf angewiesen, dass die Wärme von außen kommt. Sonne eben. Aber wenn die den Laden dichtmacht, weil es Herbst und danach bekanntlich Winter wird, dann kann mein Kröterich nicht anders, dann vergräbt er sich, um auf bessere, sprich wärmere Zeiten zu warten. Das ist ein an sich überaus sinnvolles Konzept – aus demselben Grund sind die Kanarischen Inseln schließlich von Oktober bis Mitte März gerammelt voll mit bundesdeutschen Rentnern –, solange die Erde nicht friert. Wenn der Winter jedoch richtig kalt werden sollte, hätte Gustav keine Chance, sondern würde schwuppdiwupp zu einem Eisklumpen mutieren. Und Eisklumpen sind bekanntlich tot. Ich hätte heulen können und verfluchte mehr und mehr sowohl meine Tüffeligkeit als auch meine Trägheit, die ich anfangs bei der Suche an den Tag gelegt hatte.

Dabei war der diesjährige Sommer, nachdem ich den ebenso tragischen wie furchtbaren Lenkdrachen-Fall aufgeklärt hatte, ausgesprochen friedvoll verlaufen. Die Touristen waren ebenso planmäßig eingefallen wie die Quallen, wobei Letztere einem das Baden immer früher im Jahr verleiden. Ich hatte ausgiebig gekocht, war viel spazieren gegangen und hatte mich mit Freunden getroffen.

Ab und an fabrizierte ich auch in meinem Noch-Brotberuf als Tränenfee eine Liebesgeschichte, denn von irgendetwas muss selbst ein erfolgreiches Private Eye leben. Außerdem verschlang ich, mit einer Kanne Earl Grey gemütlich auf meiner Gartenbank sitzend, etliche Krimis und studierte in meinen Mußestunden mit Interesse die klugen Regeln zum Trinkverhalten bei großer Hitze: Durst als Indikator reicht da schon lange nicht mehr aus, lernte ich, die Experten befürworteten mittlerweile für den modernen Menschen von heute einen »Trinkplan«, damit man nicht blöd im Kopf wurde oder als Dörrpflaume endete.

Wahrscheinlich wurden solche erhellenden Artikel in einer mitteleuropäischen Zentralredaktion verbrochen, die damit unterschiedslos die Leute in der Sahara wie auch die in der Max-20-Grad-Celsius-Zone der nördlichen Hemisphäre beglückte. Oder ich vertiefte mich mit Aufmerksamkeit in die Grilltipps, weil sie für mich als leidenschaftliche Köchin so schön gruselig waren. Also Jungs, ich sag’s an dieser Stelle besser noch einmal klar und deutlich: Mann kippt weder Bier aufs Fleisch noch Benzin oder Spiritus in die Kohle, auch wenn der Magen noch so knurrt. Die XXXL-Spieße und Herrenkoteletts sollten nicht in der Marinade ersaufen wie ein Ferkel in der Jauchegrube, denn das Männermotto »Viel hilft viel« hilft in diesem Fall wenig. Dann kokelt nämlich das dergestalt misshandelte Grillgut nur an, und heraus kommt ein schwarzer Klumpen, mit dem man Scheiben einschmeißen kann und sonst nichts.

Aber das alles gehörte natürlich lediglich zur lebensbefindlichen Makulatur. Meine Zufriedenheit rührte daher, dass ich tief im Innern das Gefühl genoss, beruflich endlich auf dem richtigen Weg zu sein. Denn der Job als Privatdetektivin, das war es einfach für mich. Zugegeben, ich hatte lange und auch ein paar Umwege gebraucht, um das herauszufinden. Sei’s drum. In manchen Dingen bin ich eben keine Blitzmerkerin. Damit konnte ich mittlerweile ganz gut leben – wenn es nicht ausgerechnet Gustav traf.

Der Fall, um den es hier geht, begann, als ich wieder einmal voller Verzweiflung über der nun schon leicht angetrockneten Pizzaflade auf Silvias Wiese hing und versuchte, sie auf telepathischem Weg dazu zu bringen, mir zumindest die ungefähre Richtung von Gustavs Fluchtweg zu verraten. In diesem schicksalhaften Moment hörte ich mein Telefon in der Villa klingeln.

Ich stutzte. Gustav konnte es schließlich nicht sein. Aber vielleicht hatte ihn ja eine milde Seele gefunden und wollte mir das umgehend mitteilen, um mich aus meinem Elend zu erlösen! Also sprang ich rasch auf, sauste ins Haus und meldete mich. Musik säuselte in mein Ohr. Irgendetwas Klassisches, was nicht wehtat. Mozart wahrscheinlich. Dann knackte es. Und dann erkundigte sich eine Frauenstimme mit leichtem englischem Akzent nach Frau Hemlokk, Hanna Hemlokk.

»Ja doch«, brummte ich nervös, »die bin ich.« Hatte mein Kröterich bereits den Kanal überquert, weil er unbedingt an der königlichen Moorhuhnjagd in Schottland teilnehmen wollte? Hatte er nicht.

»Mo-me-hent, ich verbinde mit Herrn Dr. Gravenstein«, flötete Lizzys Untertanin und war aus der Leitung verschwunden, noch ehe ich piep sagen oder sie etwas fragen konnte.

Gravenstein?

Nachdenklich bohrte ich meine Zunge in die rechte Wange, während ich hoch konzentriert auf meine rote Couch starrte. Da bimmelte doch etwas im hintersten Winkel meines kleinen Köpfchens! Natürlich, Gravenstein. Den Mann hatte ich während meines ersten Falls kennengelernt, in Hamburg, als ich –

»Frau Hemlokk?«, unterbrach mich eine kultivierte Männerstimme, der man den regelmäßigen Opernbesuch, die manikürten Fingernägel sowie die perfekten Französischkenntnisse anhörte.

»Ja«, bestätigte ich knapp. Ich hielt mich lieber ein bisschen bedeckt. Bei unserem ersten und einzigen Zusammentreffen war ich nämlich ordentlich auf die Schnauze gefallen, weil ich den Mann wegen seines geleckten Äußeren sträflich unterschätzt hatte. Doch er sah zwar aus wie aus einem Herrenmagazin gehupft, aber sein Verstand und seine Beobachtungsgabe glichen mehr einem Rasiermesser, wie ich leidvoll hatte erfahren müssen.

»Sie erinnern sich an mich?«

»Sicher.«

Er arbeitete in einer hochfurznoblen Hamburger Anwaltskanzlei, die sich auf internationales Seerecht spezialisiert hatte. Das heißt, ihm gehörte der Laden zur Hälfte, wenn ich mich recht entsann. Wie gesagt, ich bin nur einmal dort gewesen: Alles atmete Geld und Gediegenheit; vom Empfangstresen aus irgendeinem sündhaft teuren tropischen Holz über die geschmackvollen abstrakten Gemälde an den Wänden bis hin zum Personal, das vom Scheitel bis zur Sohle schnieke in Schale war. Blaugrau die Herren, steingrau die Damen mit dem Hang zu einem roten Accessoire.

Ich war mir damals vorgekommen wie ein Landei auf Urlaub in der Großstadt und hatte den Verdacht gehegt, dass mein Gegenüber diese Einschätzung teilte. In diesen heiligen Hallen lachte niemand laut oder gar schallend. Niemand erhob in ungebührlicher Art und Weise die Stimme oder fluchte vulgär vor sich hin. Hier wurde geflüstert, auch wenn man noch so echauffiert war. Alles klar?

»Oh Scheiße, verfluchte«, glaubte ich Gravenstein in diesem Moment sagen zu hören, gefolgt von einem »Entschuldigung, ich bin gegen die Kaffeetasse gestoßen«.

Ich schwieg verdattert. Mir war es trotz des verbalen Ausrutschers ein Rätsel, was der Vorsteher eines solchen Etablissements ausgerechnet von mir wollte. Sicher, ich hatte ihm damals durch meine Ermittlungen einiges erspart, und wir waren im Guten auseinandergegangen. Trotzdem kam dieser Anruf völlig unvermutet. Wenn der Papst mich hätte sprechen wollen, um mich zur Kardinälin zu krönen und mir die Leitung der Vatikanbank zu übertragen, wäre ich nicht weniger baff gewesen.

»Wie geht es Ihnen?«, erkundigte sich Herr Gravenstein höflich.

»Danke, bestens. Und Ihnen?«, erwiderte ich formvollendet und war direkt stolz auf mich. Konversation ist sonst nicht so meine Stärke.

»Ebenfalls bestens, danke der Nachfrage.«

Er verdiente mindestens das Zigzigfache von dem, was ich so Monat für Monat zusammenbekam, aber man konnte ja mal für ein paar Minütchen so tun, als ob wir uns auf Augenhöhe befänden. Außerdem wollte er offensichtlich etwas von mir und ich nichts von ihm. Doch nach dem Austausch der Höflichkeiten schwieg der Mann, was ich überaus irritierend fand.

»Was kann ich für Sie tun, Herr Gravenstein?«, unterbrach ich die Stille schließlich fast ein wenig ungeduldig. Wenn das alles nur Taktik war, hatte sie ihren Zweck erfüllt. Ich war jetzt richtig neugierig. Denn dass der Mensch nicht mal eben kurz zum Tee bei mir vorbeischauen oder seine Hilfe bei der Suche nach Gustav anbieten wollte, war sonnenklar. Es musste schon etwas mehr sein.

»Tja«, begann er zögerlich. »Was ich fragen wollte: Sind Sie eigentlich immer noch als Ermittlerin tätig? Wenn ich mich recht entsinne, deuteten Sie damals an, dass Sie sich beruflich für diesen Weg interessierten, nicht wahr?«

»Ja, bin ich«, bestätigte ich kurz, knapp und äußerst professionell. Winkte da am Hamburger Horizont möglicherweise ein Auftrag? Das wäre wirklich ein echter Knüller und eindeutig der nächste Schritt auf der ganz privaten Hemlokk’schen Karriereleiter.

»Hhm, sind Sie zurzeit frei?«

»Mmh«, machte ich bedauernd, um wertvolle Sekunden zum Nachdenken zu gewinnen. »Um ehrlich zu sein, bin ich momentan ziemlich beschäftigt. Aber wenn es wichtig ist … Also es käme darauf an, als wie zeitintensiv sich Ihre Angelegenheit entpuppt.«

»Natürlich«, sagte er.

Total gelogen war das ja wirklich nicht. Die Suche nach Gustav würde sich bestimmt noch länger hinziehen. Und bevor ich meinen Hausgenossen nicht wieder an die Brust drücken konnte, musste alles andere warten. Sorry, aber man ist doch nicht nur Privatdetektivin, sondern auch noch Mensch. Und zwar in allererster Linie. Da konnte sich der Herr Anwalt auf den Kopf stellen!

»Ich würde natürlich den üblichen vollen Satz zahlen«, bemerkte Gravenstein in diesem Moment geradezu widerlich sachlich und so, als ob er sich überhaupt nichts dabei denken würde, mir diesen Köder direkt vor die Nase zu hängen.

»Natürlich«, echote ich dümmlich und zwang mich energisch, nicht auf der Stelle in berauschende Zahlenspiele zu verfallen. Was mir auch fast gelang. Denn ich hörte mich blasiert sagen: »Meine Aufklärungsquote liegt bei einhundert Prozent.«

Mein Gott, Hemlokk, der arme Gustav ist noch nicht einmal kalt, und du denkst nur ans Geld! In diesem Moment fand ich mich ausgesprochen unsympathisch.

»Das ist wirklich beachtlich«, erwiderte Gravenstein ohne eine Spur von Spott in der Stimme. »Aber ich hatte auch nichts anderes erwartet. Mein Anliegen ist nämlich … äh … ein wenig delikat. Man braucht Fingerspitzengefühl, deshalb wende ich mich an Sie.«

Hach, das flutschte doch nun wirklich runter wie Öl.

»Ich nehme das als Kompliment, Herr Gravenstein. Worum geht es also?«

»Sie sind interessiert?«, vergewisserte er sich.

»Ja«, bestätigte ich ungeduldig. Wie lange wollte der Junge denn noch um den heißen Brei herumschleichen? Wollte er mich vielleicht zum Abmurksen seiner Schwiegermutter anheuern? Oder sollte ich seinen Teilhaber in Stücke zersägen und unauffällig auf einem der zahlreich pendelnden Containerfrachter nach Malaysia verschiffen?

»Schießen Sie los!«, forderte ich ihn auf. »Ich werde sehen, was ich tun kann. Allerdings muss ich Sie warnen: Ich bearbeite zurzeit noch einen anderen Fall, der sich mehr und mehr als äußerst knifflig erweist. Dabei geht es um Leben und Tod, deshalb werden Sie sicher verstehen, dass der im Zweifelsfall Vorrang hat.« Ein bisschen Übertreibung hatte schließlich noch keinem Geschäft geschadet.

»Natürlich«, versicherte er denn auch hörbar beeindruckt. »Darf ich fragen, um was es sich dabei handelt?«

Ich zögerte. Nee, das durfte er nicht. Ich würde den Teufel tun und ihm von Gustav erzählen. Der Mann hielte mich dann für doch reichlich überkandidelt, was man ihm nicht einmal übel nehmen konnte. Wie gesagt, nicht jeder liebt sein Hausreptil so wie ich das meinige.

Gravenstein verstand mein Schweigen jedoch falsch.

»Verzeihung, das war dumm von mir. Selbstverständlich können Sie nicht mit einem Fremden über Ihre aktuellen Fälle sprechen. Ich weiß gar nicht, wo ich meinen Kopf habe. Das muss an der Sache mit Daphne liegen.«

Er sagte das dermaßen bekümmert, dass ich geradezu spürte, wie mein Widerstand dahinschmolz. Es musste etwas sehr Persönliches sein mit dieser Daphne. Ob sie seine Geliebte war? Oder seine Frau? Der Mann hatte ein bisschen mehr Vertrauen von meiner Seite verdient, fand ich.

»Es geht bei diesem anderen Fall um eine Art falsch verstandener Selbstverwirklichung«, erklärte ich daher mit ernster Stimme. »Der Kerl hat alles stehen und liegen lassen, als er das Loch in der Mauer entdeckte.« Na gut, es handelte sich in echt um einen Maschendrahtzaun, aber Mauer klang einfach besser, weil dramatischer.

»Und die Angehörigen bringt die Sorge schier um. Ich verstehe«, meinte Gravenstein bedächtig. »So ein Verhalten ist einfach rücksichtslos, kommt aber häufiger vor, als man annimmt.«

»Ja, das habe ich auch gehört«, log ich gefühlvoll. Wie Hannelore mit dem Schicksal der sitzen gelassenen Gattin umging, vermochte ich nicht zu sagen, aber mir als Wohnkumpanin und Bananenbesorgerin dieses rücksichtslosen Knilchs ging es beschissen damit. Jawoll! Und wenn ich Gustav in diesem Leben jemals wiedersah, würde ich ihm gehörig die Meinung geigen!

»Arbeiten Sie mit der Polizei zusammen?«, erkundigte sich Gravenstein.

»Nein«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. »Die Angehörigen möchten das lieber in aller Stille regeln.«

»Ich verstehe. Aber nach meiner Erfahrung ist es sinnvoller, möglichst früh die Behörden einzuschalten. Deren Möglichkeiten sind einfach größer. Und es kann ihm ja auch tatsächlich etwas passiert sein. Strafrechtlich liegt nichts gegen den … Flüchtigen vor?«

Nein. Und außerdem hielt ich es für ziemlich unwahrscheinlich, dass es möglich sein sollte, eine Vermisstenanzeige für einen abgängigen Krötenherrn aufzugeben. Ich angelte nach meinem Schreibblock. Es war eindeutig an der Zeit, das Thema zu wechseln.

»Er ist unbescholten«, teilte ich ihm also im besten Basta-Tonfall mit, um dann sanfter fortzufahren: »Herr Gravenstein, wenn Sie mir jetzt bitte sagen würden, weshalb Sie meine Hilfe benötigen.«

»Natürlich. Also, es geht um eine entfernte Cousine von mir.« Pause. Vor meinem inneren Auge konnte ich geradezu sehen, wie der Mann an seiner taubengrauen Krawatte nestelte, eine geschäftsmäßige Miene aufsetzte und – »Sie ist tot.«

»Ach«, rutschte es mir heraus. Normalerweise sagt man ja auf eine solche Eröffnung hin so etwas wie »Tut mir leid« oder quetscht sich die Floskel vom »Herzlichen Beileid« ab. Bei Gravenstein hatte ich das Gefühl, dass das irgendwie nicht nötig, wenn nicht sogar unangemessen war. Seine anschließenden Worte bestätigten meinen Verdacht.

»Es bestand kein enges persönliches Verhältnis zwischen uns. Ihre Großmutter und meine Großmutter waren Cousinen, glaube ich. Ich weiß es nicht einmal genau. Wir waren mehr verwandtschaftlich verbandelt. Man kannte sich, hatte sich aber nicht allzu viel zu sagen, wie das oft so ist. Daphne war ein völlig anderer Typ als ich. War sie schon immer gewesen.«

Die geheimnisvolle Daphne. Was für ein Name, schoss es mir durch den Kopf. Die einzige Daphne, die ich kannte, spielte in dem Film »Manche mögen’s heiß« mit und war eigentlich Jack Lemmon, der von einem großmäuligen Multimilliardärssöhnchen gnadenlos betanzt wird, während Tony Curtis sich die Monroe angelt.

»Ja, so etwas gibt’s«, bemerkte ich weise. Gravenstein war an meinen cineastischen Erinnerungen bestimmt nicht weiter interessiert. Außerdem existieren auf der Welt mehr sprachlose Verwandtschaftsverhältnisse als sprachmächtige; man denke nur an meine Mutter und mich. So etwas kommt in den besten Familien vor. Mich interessierte in diesem Zusammenhang jedoch ein viel bodenständigerer Aspekt. »Nur der Form halber, Herr Gravenstein, wie heißt Ihre Cousine mit Nachnamen?«

»Oh, bitte entschuldigen Sie. Natürlich. Ich bin wirklich etwas konfus. Das Ganze scheint mir doch mehr an die Nieren zu gehen, als ich dachte. Sie heißt Merkenthal. Daphne Merkenthal.« Er buchstabierte mir den Namen sicherheitshalber in den Block. »Sie war sechsunddreißig Jahre alt, als sie starb, und nicht verheiratet. Tja … also das ist genau genommen auch schon alles, was ich über sie weiß«, stellte er verblüfft fest.

»Gut«, sagte ich geschäftsmäßig. »Lassen wir Ihr persönliches Verhältnis zu der Dame einmal beiseite. Das ist nicht so wichtig. Die Frau ist also tot, und darum geht es, oder?«

»Ja«, bestätigte er, ohne zu zögern.

»Wie ist sie gestorben? Und weshalb plagen Sie da irgendwelche Zweifel?«

Er genehmigte sich einen Schluck Kaffee, bevor er bedächtig meinte: »Daphne ist verblutet. Man hat ihr mit einem Säbel die Halsschlagader aufgerissen.«

»Du großer Gott!«, entfuhr es mir. Ob die Frau sich im Zuge der fortschreitenden Emanzipation womöglich duelliert hatte? Unwahrscheinlich, befand ich augenblicklich. Die Damen eiferten den Herren zwar in vielem nach, aber davon hatte ich noch nie etwas gehört. Da war es weitaus wahrscheinlicher, dass etwas bei den mittlerweile ja allgegenwärtigen mittelalterlichen Ritterspielen schiefgegangen war. Hatte so ein Freizeit-Lancelot sich vielleicht mit seinem Säbel verpeilt und beim Herumspielen aus Versehen den Hals seiner Liebsten angeratscht?

»Es handelt sich bei dem Tötungsinstrument nicht um eine richtige Waffe, sondern um einen Champagnersäbel«, erklärte Gravenstein in diesem Moment in bestem Juristendeutsch. »Können Sie damit etwas anfangen? Ein derartiges Utensil ist ja nicht sehr verbreitet.«

»Aha«, sagte ich, weil mir nicht mehr einfiel.

»Ihnen sagt der Begriff nichts«, interpretierte Gravenstein meine verhaltene Reaktion ganz richtig.

Nö, tat er nicht. In meiner bescheidenen Klause greift man bei Wein zum Korkenzieher oder entfernt bei Prickelgetränken den Verschluss sorgfältig mit der Hand, um ja keinen kostbaren Tropfen zu verschenken. Bei den oberen Zehntausend mag der Säbel ja zum Tafelset gehören wie der Löffel zur Suppe, bei Hemlokks kommt der nicht in die Tüte beziehungsweise auf den Tisch. Oder an die Halsschlagader, was in diesem speziellen Fall eins war.

»Wenn auf einem größeren Fest der Champagner in Strömen fließt«, erklärte Gravenstein, »ist es mittlerweile in manchen Kreisen auch bei uns durchaus üblich, der Flasche mit einem genau gezielten und dosierten Hieb den Kopf, also den oberen Halsteil abzuschlagen.«

»Klingt nach dekadentem Adel, aber auch nach Französischer Revolution und mächtig viel Guillotine«, murmelte ich aufsässig und fühlte in diesem Moment zutiefst mit den armen hungernden Bauern, denen bei so viel Luxus am französischen Königshof der leere Magen grummelte.

Denn die bildungsfernen Schichten, um auch sprachlich wieder in der heutigen Zeit anzukommen, meinte Gravenstein bestimmt nicht, sondern eher die besser bis bestens verdienenden Leistungsträger dieser Gesellschaft. Na, da passte so ein Vorname wie Daphne doch wie die Faust aufs Monokel! Wahrscheinlich hieß in so einer Gesellschaft auch niemand popelig Gisela, Sabine oder Petra, geschweige denn Marlene-Chantal oder Luzy-Maria. Die hießen alle so wie Daphne: kühl, vornehm, damenhaft. Und der Butler, wenn man denn überhaupt mit einem auskam, hörte in solchen Kreisen garantiert auf den Namen James.

All das schluckte ich jedoch mannhaft herunter und stellte stattdessen die einzige praktische Frage, die mir einfiel: »Bleiben denn da keine Glassplitter zurück? Ich meine, ist das nicht gefährlich?«

»Nein«, lachte Gravenstein. »Das habe ich zunächst auch gedacht. Aber man hat mir erklärt, der Druck in der Flasche sei dermaßen groß, dass die Flüssigkeit beim Abschlagen des Halses nur so herausschießt. Eventuelle Splitter landen auf dem Teppich und gefährden niemanden.«

»Nur das Hausmädchen beim Aufwischen hinterher«, knurrte ich bockig. Mir war diese Grande Dame von Daphne einfach unsympathisch.

»Ich finde es auch nicht so toll«, seufzte Gravenstein. »Glauben Sie mir, ich verstehe Ihre Gefühle vollkommen. Darf ich trotzdem fortfahren?«

»Natürlich.« Mittlerweile hätte ich mein gesamtes Monatseinkommen für eine schöne Tasse Tee hingeblättert. Süß, heiß und stark. Aber die musste warten, bis ich auch noch den Rest über diesen Säbelmord erfahren hatte. Denn, das muss ich zugeben, ich war nicht nur abgestoßen von der ganzen Sache, sondern durchaus auch neugierig.

»Also, Daphnes Tod soll sich folgendermaßen abgespielt haben«, fuhr Gravenstein fort. »Der Mensch, der die Flasche öffnen will, holt aus, köpft sie auch wie beabsichtigt, hat sich jedoch in der Schlagkraft verrechnet und trifft mit dem verbleibenden Schwung den Hals meiner Cousine, die schräg vor ihm steht, um ihm zuzusehen.«

»So ein Säbel ist also ziemlich scharf?«, schlussfolgerte ich.

»Nein, im Gegenteil. Er ist stumpf«, widersprach er. »Schneiden kann man damit nichts. Die Scheide ist sogar ziemlich breit. In einer Weinhandlung habe ich mir so ein Ding einmal angesehen. Die Polizei hat allerdings bei der Untersuchung des Falles festgestellt, dass dieser Säbel unglücklicherweise am vorderen Ende etwas aufgeraut war, also mehrere kleine Einkerbungen und Häkchen besaß.«

»Sonst hätte der Täter den Hals Ihrer Cousine also nur quetschen, aber nicht aufreißen können?«, fragte ich.

»Vermutlich ja. So war jedoch nichts mehr zu machen. Sie haben selbstverständlich versucht, die Blutung zu stillen, aber es gelang ihnen in ihrer Panik nicht. Außerdem waren die Verletzungen einfach zu schwer.«

»Welche Beziehung bestand denn zwischen Opfer und Täter?«, stellte ich die naheliegende Frage.

Die Antwort begann mit einem abgrundtiefen Seufzen.

»Tja, das ist es ja gerade. Es gab keine. Der Täter gehört zu einem Catering-Service und ist ein noch ziemlich junger Mann, der schon Hunderte von Flaschen auf diese Weise geöffnet hat. Daphne und er kannten sich bis zu diesem bewussten Wochenende nicht. Jedenfalls haben die polizeilichen Ermittlungen nichts Gegenteiliges ergeben, und der Junge ruft sämtliche Heiligen als Zeugen an, dass er meine Cousine nie zuvor gesehen habe. Er kann natürlich lügen wie gedruckt«, setzte er nachdenklich hinzu.

»Möglicherweise hatten die beiden ein heimliches Verhältnis«, schlug ich vor.

»Auch daran hat die Polizei natürlich gedacht«, tadelte er mich sanft. »Sie hat beide Lebenswege intensiv untersucht, aber da war nichts. Opfer und Täter haben weder einen gemeinsamen Liebesurlaub auf Kreta verbracht noch sich heimlich in stillen Hinterstübchen getroffen. Und weshalb hätten zwei erwachsene, nicht gebundene Menschen das auch tun sollen? Der Junge schwört jedenfalls Stein und Bein, dass es ein Unfall war.«

Na ja, das behauptet natürlich jeder, der Dreck am Stecken hat. Das gehört sozusagen zum Geschäft. Nach meiner langjährigen Erfahrung im Detektivgeschäft muss man so etwas wirklich nicht allzu ernst nehmen. Da kam man nur weiter, wenn man sich zunächst einmal ausschließlich um die Fakten kümmerte. Die reinen Fakten und sonst nichts.

Ich fasste zusammen: »Ihre entfernte Cousine Daphne Merkenthal hat also inmitten der oberen Zehntausend ein rauschendes Fest irgendwo unter einem der quietschteuren Sylter Reetdächer gefeiert –«

»Sylt?«, unterbrach mich Gravenstein deutlich irritiert. »Wie kommen Sie denn darauf? Nein, das Fest fand ganz in Ihrer Nähe statt. Auf Hollbakken. Das ist doch einer der Gründe, weshalb ich mich an Sie wende.«

Jetzt war es an mir, reichlich verdutzt auf den still daliegenden Passader See zu starren. Bestimmt nicht nur in meiner Vorstellung wurden Champagnersäbel selbstverständlich einzig und allein auf dem einzigen Nobel-Eiland geschwungen, das das ländlich-sittliche Schleswig-Holstein zu bieten hat. Auf Sylt eben, wo die Schönen und Reichen wohnen.

Aber auf Hollbakken? Das war mehr als merkwürdig und für mich nur äußerst schwer vorstellbar. Denn bei dem Herrenhaus am anderen Ende des Passader Sees handelte es sich um eine Anlage, die meinem Freund Johannes von Betendorp gehörte. Bei gutem Wetter und klarer Sicht konnte ich sie sehen, wenn ich aus dem Fenster meiner Villa schaute.

Ich spürte, wie ich ungläubig den Kopf schüttelte. Nein, das passte einfach nicht zusammen. Das Haus besaß nämlich schon äußerlich absolut nichts Glamouröses, und außerdem gab Johannes grundsätzlich keine rauschenden Feste, auf denen der Champagner in Strömen floss und Flaschen mit einem Säbel traktiert wurden. Der Typ war er nicht, mal ganz abgesehen davon, dass er auch das Geld dafür nicht hatte. Denn durch den alten morschen Kasten, den er als Familiensitz derer von Betendorp geerbt hatte, war mein Freund Johannes meistens mehr als klamm und immer arm wie eine Kirchenmaus. Und noch ein drittes Argument kam hinzu: Von einem mysteriösen Todesfall auf Hollbakken hätte ich als Privatdetektivin und langjährige Einwohnerin Bokaus selbstverständlich gehört. Hatte ich aber nicht.

»Sie müssen sich irren«, sagte ich spontan.

»Nein«, gab Gravenstein ruhig zurück.

»Aber das kann nicht sein!«

»Und wieso nicht?«

Ich erklärte es ihm.

»Es ist aber auf Hollbakken passiert«, beharrte er. »Das weiß ich genau. Und ich irre mich selten. Wo waren Sie Mitte September? Vielleicht liegt hier des Rätsels Lösung.«

Das tat es tatsächlich. Denn zu der Zeit hatte ich für zwei Wochen eine ehemalige Mitstudentin in Heidelberg besucht. Wir hatten die alten Zeiten wiederaufleben lassen und die neuen ausgiebig begossen. Immerhin hatte sie es doch gerade bis zum fünften, wieder auf ein halbes Jahr befristeten Vertrag an der Uni gebracht. Und danach hatte ich Johannes nur einmal kurz gesehen, wie ich mich jetzt erinnerte. Er hatte bei unserem Gespräch zwar etwas von einem »chaotischen Haufen« und einem Unfall angedeutet, aber ins Detail war er nicht gegangen. Er verdrängte Todesfälle nun einmal lieber, gewalttätige allemal, was bei seiner persönlichen Geschichte auch nicht verwunderte. Und ich war nicht hellhörig geworden und hatte nicht nachgebohrt, weil mir ausgerechnet in diesem Moment ein besonders schön geschnitzter Buddha aufgefallen war, den er in seiner Werkstatt bearbeitete. Johannes ist nämlich nicht nur Herrenhausbesitzer, sondern auch ein verdammt guter Tischler mit religiös-esoterischen Neigungen. Tja, dumm gelaufen, Hemlokk.

»Ihre Cousine hat also auf Hollbakken gefeiert und ist auch dort gestorben?«, fragte ich sicherheitshalber noch einmal nach.

»So ist es«, bestätigte Gravenstein.

Knirschend begannen sich die Räder in meinem Kopf zu drehen. Und wo war Johannes zu diesem Zeitpunkt gewesen? Hatte er etwa mitgefeiert? Nein, das konnte ich mir nicht vorstellen. Vielleicht war er ja mit Nirwana, seiner Schecke, in der fraglichen Zeit ausgeritten? Nein, das schien mir auch unwahrscheinlich. Und wer, um alles in der Welt, waren die Leute, die sich auf dem Betendorp’schen Familiensitz vergnügt hatten?

Langsam schwirrte mir wirklich der Kopf. An diesem Fall stimmte von Anfang an nichts. Die Leute passten nicht zu dem Ort, der Ort passte nicht zu den Leuten, und die Mordmethode passte zu gar nichts.

»Es handelte sich um eine Betriebsfeier«, klärte mich Gravenstein auf, ohne etwas von meinem Gedankensalat zu ahnen.

»Für welche Firma hat Ihre Cousine denn gearbeitet?«, rettete ich mich in die nächste Frage.

Gravenstein hüstelte. »Also, um ehrlich zu sein, das weiß ich nicht so genau. Die Firma schimpft sich FKK, wie diese Nacktanbeter. Aber was die produzieren oder vertreiben, entzieht sich meiner Kenntnis. Wie schon erwähnt, Daphne und ich haben nie viel miteinander gesprochen, wenn wir uns auf Familienfeiern trafen. Sie lebte ihr Leben, ich lebte meins. Wir plauderten ausschließlich über Nichten, Neffen, Tanten und Onkel. Allerdings denke ich, dass sie bestimmt einen ganz normalen Job gemacht hat. Also, es ist sicher nichts Unangenehmes, meine ich damit.«

Ich schwieg eisern, obwohl es mich höllisch interessiert hätte, was Gravenstein unter »Unangenehmes« verstand. Pornos? Drogen? Holländischer Gemüsegroßhandel? Doch ich wollte meinen Klienten nicht noch mehr in Verlegenheit bringen, denn es war ziemlich eindeutig, dass ihm seine komplette Ahnungslosigkeit, was das Leben seiner Cousine betraf, peinlich war. Er interpretierte mein Schweigen jedoch offenbar als verkappten Zweifel.

»Wirklich«, bekräftigte er deshalb noch einmal, »es handelt sich bestimmt um eine ganz seriöse Firma. Lassen Sie sich nicht durch den Champagner und die Tötungsmethode irritieren. Das Unternehmen scheint recht erfolgreich zu operieren, und da ist es durchaus üblich, dass man die Mitarbeiter mal kräftig auf Firmenkosten feiern und auf die Pauke hauen lässt. Das verbessert das Betriebsklima, und daran haben alle Parteien ein vitales Interesse.«

»Ziehen Sie so etwas auch durch?«, rutschte es mir heraus. Ich konnte sein Grienen geradezu hören.

»Nein«, erwiderte er. »Unsere Damen und Herren ziehen es vor, gepflegt zum Essen eingeladen zu werden. Und wenn wir besonders gut und erfolgreich gearbeitet haben, kann es auch schon mal vorkommen, dass wir uns über ein Wochenende gemeinsam eine Stadt anschauen. Mit Champagner und den dazugehörigen Säbeln haben wir es aber auch dann nicht so. Sie ebenfalls nicht, nehme ich an?«

»Nee«, stimmte ich aus vollem Herzen zu; allerdings stellte sich für meinen Einfrauenbetrieb diese Frage ohnehin kaum.

Er schwieg. Ich auch. Jetzt waren wir endlich so weit, dass er die Hosen runterlassen und mir sagen musste, was genau er eigentlich von mir erwartete.

»Nach offizieller Lesart war Daphnes Tod ein Unfall«, begann er langsam und sehr bewusst formulierend. »Sie habe einfach Pech gehabt, weil sie im falschen Moment an der falschen Stelle stand. Aber mein Bauchgefühl sagt mir etwas anderes. Und darauf habe ich mich bislang immer verlassen können.«

»Ihr Bauchgefühl?«, quietschte ich entzückt. Dass ich eins hatte, wusste ich ja. Aber dass so ein Mann, immerhin ein erfolgsgewohnter, stinkreicher Rechtsanwalt in Hamburg, der allein schon von Berufs wegen die Rationalität mit Löffeln gefressen hatte, auch darunter litt, war mir neu. Halt, nein, korrigierte ich mich, Hemlokk, das stimmt nicht ganz. Du bist nicht platt, weil er so etwas kennt, du bist platt, weil er es offen zugibt.

»Sie sind erstaunt?«, fragte er und lachte leise. »Da habe ich ja eine gute Tat vollbracht. Ich mag es gern, wenn ich vorgefasste Meinungen ein wenig erschüttern kann. Aber davon einmal abgesehen, glaube ich einfach nicht an die Unfallthese, wie sie die Polizei vertritt. Sie ist mir zu glatt. Da passt alles auf wundersame Art und Weise zusammen. Nichts stört, alles stimmt vordergründig. Aber so ist es in der Realität nach meiner Erfahrung nicht. Da bleibt oft ein Haken. Oder zumindest ein Häkchen. Wie gesagt, es ist mein Bauchgefühl, das in diesem Fall rebelliert und eine andere Sprache spricht. Da stimmt einfach etwas nicht. Und da der Tatort quasi bei Ihnen um die Ecke liegt, Sie Herrn von Betendorp zudem persönlich kennen, wie ich weiß, dachte ich, Sie sind genau die Richtige, um einmal vorsichtig nachzuforschen, was da wirklich passiert ist.«

»Mmh«, machte ich. Wirklich kompliziert und zeitaufwendig hörte sich das Ganze ja nicht an. Was ein kapitaler Irrtum war, wie sich bald herausstellen sollte, aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht.

»Es ist nicht nur Ihre Nähe zum Tatort«, setzte Gravenstein hinzu. »Es sind auch Ihre unkonventionellen Methoden, von denen ich mir Ergebnisse verspreche. Die Detekteien, die wir in Hamburg beschäftigen, arbeiten eher konventionell. Also, die sind gut, natürlich, und sie machen ihren Job, keine Frage. Aber in diesem Fall ist einfach ein anderes Vorgehen, ein anderer Blickwinkel auf das Geschehen gefragt. Sie sind mir doch nicht böse, wenn ich das so deutlich ausspreche?«

Aber nicht doch, Herr Gravenstein. Sie wissen offenbar, wie man mit Privatdetektivinnen umgeht.