ELF

Heute ruhte alle Detektivarbeit, denn heute war Familientag. Gestern Abend waren meine Eltern planmäßig in Kiel eingetroffen, und meine Mutter hatte sich sogleich bei mir gemeldet – mit dem verstörenden Wunsch, sich meine Villa anschauen zu wollen und nicht etwa die Stadt. Ich war baff. Was sollte das denn? Ihr Interesse an meinem Leben hielt sich doch auch sonst in äußerst überschaubaren Grenzen. Ich hatte wohl ein Sekündlein zu lang geschwiegen, denn sie ruderte gleich wieder hastig zurück, indem sie betonte, Vati und sie würden zwar wirklich gern sehen, wie ich wohnte, doch wenn ich bereits andere Pläne für den Tag hätte …

Hatte ich nicht. Und bei genauer Betrachtung der Lage freute ich mich sogar über ihr Ansinnen und ertappte mich doch tatsächlich dabei, dass ich schon während des Telefonats überlegte, ob ich meine Hütte in Hinblick auf das geschärfte Hausfrauenauge meiner Mutter auf Hochglanz polieren musste. Nein, entschied ich spontan, musste ich nicht. Ich war neununddreißigeinhalb, deshalb ging sie mein Dreck ebenso wenig etwas an wie mein chaotisches Leben.

Natürlich war ich in den letzten Tagen trotz des dräuenden elterlichen Besuchs nicht untätig gewesen. Gleich nach meiner Rückkehr aus Hamburg hatte ich mich um Lutz Sörensen gekümmert, das heißt, ich hatte es versucht, aber der Junge war nicht zu erreichen gewesen. Permanent erwischte ich lediglich seinen Anrufbeantworter, und als ich gestern höchstselbst nach Laboe gefahren war, um ihn Aug in Aug damit zu konfrontieren, dass ich ihn verdächtigte, mir den Knüppelknilch auf den Hals gehetzt zu haben und den FKK-Boss möglicherweise mehr als nur flüchtig zu kennen, stand ich vor verschlossener Tür.

»Der ist verreist«, hatte mir ein griesgrämiger älterer Mann mitgeteilt, eine stinkende Mülltüte in der Hand. »Der ist oft nicht da.«

»Wissen Sie zufällig, wann Herr Sörensen wiederkommt?«, hatte ich mich höflich erkundigt.

Er wusste es nicht. Weil sich diese jungen Leute heutzutage ja um nichts mehr kümmerten. Machten immer nur Party, lebten auf Kosten der Allgemeinheit und grüßten nicht einmal, wenn man ihnen im Treppenhaus begegnete. Wahrscheinlich hatte Sörensen nur nicht laut genug »Guten Morgen« geschrien, dachte ich ketzerisch und hatte den Rückzug angetreten. Sicher, der Mann war wahrscheinlich einsam, aber so ein alter Knabe sollte sich doch nicht wundern, dass alle Fersengeld gaben, sobald sie ihn sahen – wenn er dermaßen schlechte Luft und miese Laune um sich herum verbreitete.

Und jetzt kam also Mutti. In einem Anfall von Panik hatte ich gestern Abend noch versucht, Marga zu überreden, schon am Morgen ein Tässchen Tee mit den versammelten Hemlokks zu trinken, aber sie hatte abgelehnt und nur ziemlich mitleidlos gemeint, dass ich da einfach durchmüsse, weil eben jeder seine Mutter zu ertragen habe. Sie habe außerdem etwas vor.

Na klar, hätte ich fast in den Hörer geblökt, ich weiß genau, womit du beschäftigt bist, meine Liebe. Du triffst dich mit Theo Keller. Meinst du denn, ich bin blöd und weiß nicht, was da zwischen euch läuft? Irgendwann seid ihr zwei doch für ein paar Tage verschwunden, und du kommst mit einem Ring am Finger sowie einem Doppelnamen im Pass zurück. Ohne mich vorher einzuweihen natürlich. Ich war jetzt schon sauer.

Oben am Haupthaus hielt ein Auto; Stimmen und Gesprächsfetzen drangen zu mir herunter, Wagentüren wurden zugeschmettert, dann fuhr das Taxi davon. Ich erhob mich von der Gartenbank und ging meinen Eltern als höfliche Tochter und formvollendete Gastgeberin entgegen. Meine Mutter führte den Hemlokk’schen Konvoi energischen Schrittes an; mein Vater folgte in gebührendem Abstand, blieb hin und wieder stehen, schaute sich um und ließ die Szenerie auf sich wirken. So war es schon immer gewesen. Ich war als kleines Mädchen bei Ausflügen zwischen beiden beständig gependelt, mit der Tendenz zu – Mutti.

»Donnerwetter, Kind«, begrüßte sie mich jetzt. »Du liebst es aber einsam. Hier sagen sich ja die Enten und Karpfen Gute Nacht. Ich finde es schön.«

Dann nahm sie mich umstandslos in den Arm und drückte mich fest, wie es bei den Hemlokks üblich ist. Wir sind alle keine Händeschüttler, sondern große Umärmler. Ich wiederholte die Prozedur mit meinem Vater, der liebevoll auf mich herunterlächelte, dann geleitete ich meine Eltern zu meiner Villa. Auf dem Weg stellte ich ihnen Silvia, die übrigen namenlosen Damen sowie Kuddel vor, ohne jedoch zu erwähnen, welche zentrale Rolle sie zurzeit in meinem Leben spielten. Ich machte sie mit Hannelore bekannt und ging über Gustavs Abwesenheit einfach hinweg. Es war ein Versuch, der allerdings vorn vornherein zum Scheitern verurteilt war, wie ich genau wusste.

»Hannelore ist aber auch ein ausgesucht hübscher Name für eine Schildkrötenfrau. Stammt er von dir?«, meinte Mutti aufgekratzt. »Und er passt so gut zu unserem Gustav, nicht?« Sie blickte sich suchend um. »Wo ist er überhaupt? Ich kann ihn nirgendwo entdecken.«

»Entführt«, gab ich wahrheitsgemäß und in vollem Bewusstsein dessen, was daraufhin folgen würde, Auskunft. Doch was sollte es? Meine Eltern würden ihn ohnehin sehen wollen, dann konnten wir auch gleich mit dem Wesentlichen beginnen und mussten unsere Zeit nicht mit blödsinniger Konversation verplempern.

»Waas?«, trompetete Mutti auch schon so laut in die Bokauer Hemisphäre, dass ein Schwanenpaar, das am Ufer in der Sonne gedöst hatte, sich eilig erhob und mit klatschendem Flügelschlag davonflog.

»Ich erzähle es euch drinnen«, wiegelte ich ab. »Kommt doch erst einmal herein. Ich koche einen Tee, und ein paar Cremeschnitten habe ich auch besorgt.«

Ich wusste, dass meine Mutter die gern aß. Schließlich hatte sie mir das Cremeschnitten-Gen vererbt, mein Papa stand eher auf würzige Sachen. Oder auf Gebäck. Aber auch das war natürlich kein Problem gewesen. Matulkes krosse Ingwerkekse waren weit über die Grenzen Bokaus bekannt. Ich dirigierte ihn zu meinem Schaukelstuhl, weil ich wusste, dass er die Aussicht auf den See genießen würde, und sie auf meine rote Couch. Dann stellte ich das Wasser an.

»Hübsch hast du es hier, Hanna«, bemerkte mein Vater. »Nicht wahr, Traute?«

»Ja, das finde ich auch. Ein wenig einsam vielleicht, aber sonst … doch. Ja.«

»Mir gefällt’s gut«, entgegnete ich eine Spur zu heftig und kam mir dabei vor wie eine kampfbereite Dreizehnjährige, die kurz davor stand, die Lippe höchst unvorteilhaft hervorzustülpen und wütend mit dem Fuß aufzustampfen. Ging das etwa jetzt schon los mit dem Genörgel und der Besserwisserei? Nein, ging es nicht.

»Das wissen wir, Kind«, meinte Mutti versöhnlich. »Wir kennen dich ja bereits ein paar Stunden länger. Schon als Baby hast du deinen eigenen Kopf gehabt.« Tatsächlich? Konnte ich mich gar nicht dran erinnern. Ich fuhr die Stacheln wieder ein. »Aber jetzt erzähl endlich, was mit Gustav passiert ist!«

»Nun lass Hanna doch erst einmal in Ruhe eine Tasse Tee trinken, Traute«, sagte mein Vater und warf seiner Frau einen mahnenden Blick zu.

»Ja, Friedrich«, sagte sie so lammfromm, dass ich mitten im Schlucken erstarrte, was mir gar nicht bekam. Der Tee geriet ins falsche Halsloch, und der daraufhin einsetzende Hustenanfall war gewaltig.

Meine Sippe wartete geduldig, bis sich meine Gesichtsfarbe wieder normalisiert hatte und ich normal Luft bekam.

Dann meinte mein Vater in seiner bedächtigen Art: »Gustav ist also entführt worden, wie du es ausdrückst. Ich nehme doch an, dass das etwas mit deinem neuen Berufsleben zu tun hat. Verstehe uns nicht falsch, Hanna, aber hast du dir das auch wirklich gut überlegt mit der Privatdetektiverei? Ich meine, also Mutti und ich wollen dir wirklich nicht in dein Leben hineinreden, du bist alt genug und musst selbst wissen, was du tust, aber manchmal machen wir uns schon Sorgen um dich, nicht wahr, Traute?«

Es war mit eine der längsten Reden, die er in meiner Gegenwart je gehalten hatte. Die erste dieser Art hatte er vom Stapel gelassen, als ich mit fünfzehn aus Trotz eine ganze Nacht weggeblieben war, ohne Bescheid zu sagen. Die zweite, als ich mein Studium abbrach. Und die dritte – war diese hier.

»Es ist doch manchmal bestimmt gefährlich«, assistierte meine Mutter jetzt emsig. »Schau, Gustav ist zwar nur eine Schildkröte, aber eine Entführung bleibt eine Entführung.«

Ich bedachte beide mit einem Lächeln. Sie machten sich tatsächlich Sorgen um mich. Es war ein schönes Gefühl, denn ich war das gar nicht mehr gewohnt.

»Ihr müsst keine Angst haben«, beruhigte ich Papa und Mutti. »Ich komme gut klar und kann mich wehren. Und es ist einfach der Beruf, der zu mir passt und den ich mag.«

»Und was ist mit den Liebesgeschichten?«, erkundigte sich meine Mutter so streng wie der Großinquisitor persönlich. »Gibst du die jetzt auf?«

»Nein«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Bis ich nicht riesengroß im Geschäft bin, schreibe ich die weiter.«

»Das finde ich sehr vernünftig«, meinte Mutti. »Oder, Friedrich?«

»Ja, ich auch.«

Ihre Bedenken waren nicht zerstreut, das merkte ich beiden an. Doch fürs Erste gaben sie sich damit zufrieden, um die aufkeimende Harmonie zwischen uns nicht unnötig zu belasten. Was ich ihnen hoch anrechnete! Mein Papa war älter geworden, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Haare hatte er ohnehin nie viele besessen, doch mittlerweile hatte der Zahn der Zeit bis auf circa fünfzehn tapfere Aufrechte alle gekillt. Sein schmales Gesicht wirkte ein wenig müde, was mich jedoch nach der langen und sicherlich aufregenden Anreise hierher nicht im Mindesten wunderte, denn er war nun einmal der ruhige Typ und pusselte eigentlich lieber zu Hause vor sich hin, während Mutti, klein und kompakt, wie sie war, energiegeladen durchs Leben marschierte. Ich hatte entschieden etwas von beiden, stellte ich in diesem Moment verblüfft fest.

»Gut, das wäre also geklärt«, beendete Mutti in der ihr eigenen Art das Thema. »Meine Tochter arbeitet als Privatdetektivin. Und was ist jetzt mit Gustav?«

Ich überlegte kurz, doch es sprach immer noch nichts dagegen, ihnen die ganze absurde Geschichte zu erzählen. Also beschrieb ich ihnen Oskar Wiehle in seiner großkotzigen Art, die ihn Feinde sammeln ließ wie andere Leute Briefmarken. Ich berichtete von seiner fixen Idee, dass die Grätenbulette in Wahrheit ein Mordanschlag auf sein kostbares Leben gewesen sei. Und dass zugegebenermaßen fast jeder hier im Dorf tatsächlich ein Motiv hatte, dem Mann drei und mehr Fischknochen in den Hals zu wünschen. Einschließlich seiner Gattin und mir, weil er mich mit Gustav erpresste.

»Na, das darf ja wohl nicht wahr sein!«, empörte sich Mutti, als ich fertig war. »Der Kerl hat doch einen an der Waffel! Das kannst du dir nicht bieten lassen, Kind!«

»Traute!«

»Und was schlägst du vor?«, fragte ich meine Mutter neugierig, ohne meinen Vater zu beachten, denn ich war völlig ihrer Meinung.

»Traute!«, versuchte es Papa noch einmal warnend, aber schon erheblich leiser.

Er hatte immer gewusst, wann er auf verlorenem Posten stand. Mutti sah ihn nicht einmal an. Stattdessen fingen ihre Apfelbäckchen rosig an zu glühen. Wie bei Marga, nur dass deren Glühen Theo Keller galt.

»Na, zurückklauen natürlich«, sagte sie dann mit fester Stimme und sprach mir damit aus der Seele. »Wenn dieser Wiehle deine Dienste als Privatdetektivin in Anspruch nehmen will, dann soll er gefälligst anständig fragen und sich nicht wie ein alter Stinkstiefel benehmen.«

»Aber …«, wandte Papa zaghaft ein.

»Nichts aber, Friedrich«, beschied meine Mutter ihn. »Ein derart rotzfreches Verhalten kann das Kind nicht durchgehen lassen. Da verspielt Hanna ja ihren Ruf. Nein, so ein Mensch kann nicht einfach nach Bokau ziehen, dem Nachbarn zum Spaß die Frau ausspannen, herumpöbeln wie Rumpelstilzchen und auch noch unseren Gustav als Druckmittel einsetzen. Das gehört sich einfach nicht!« Ach Mutti. Ich genoss ihre ehrliche Empörung sehr. Wir waren uns selten so einig. »Und weißt du, was du machst, Kind? Also, was ich machen würde, wenn ich an deiner Stelle wäre, will ich damit natürlich sagen«, verbesserte sie sich hastig.

»Nein«, sagte ich erwartungsvoll.

Sie richtete sich unwillkürlich auf.

»Sobald Gustav wieder sicher hier bei dir in der Villa ist, würde ich sehen, was an der fixen Idee von dem Wiehle tatsächlich dran ist. Das wirkt richtig souverän. Und dubios klingt das Ganze schon.«

»Findest du?«, fragte ich.

»Ja, das finde ich«, sagte sie in diesem Ton, der keine Widerrede duldete. »Als Köchin und Hausfrau kann mir niemand erzählen, dass eine dreieinhalb Zentimeter lange Gräte heil durch den Wolf rutscht. Das gibt es nicht.«

»Das meint Wiehle auch.«

»Auch ein Ekelpaket kann mal recht haben. Vergiss das nicht, Kind.«

Mein mütterlicher Watson lächelte zu mir herüber und sah dabei sehr zufrieden mit sich aus, was ich hundertprozentig nachvollziehen konnte. Ich war es auch.

»Hast du vielleicht auch noch eine konkrete Idee, wie ich das mit Gustav anstellen sollte?«, fragte ich.

Mein Vater stöhnte leise, enthielt sich jedoch als weiser Ehemann und erprobter Papa jeder Bemerkung. Mutti überlegte.

»Beschreib mir das Haus und die Räumlichkeiten«, forderte sie mich dann auf.

Das tat ich. Und zwar mit ehrlichem Vergnügen. Irgendeiner der zahlreichen Knoten in unserer verkorksten Mutter-Tochter-Beziehung hatte sich eindeutig gelöst. An mir lag es nicht, wie ich zugeben musste. Also musste Mutti sich verändert haben, schlussfolgerte ich, schob den Gedanken jedoch beiseite, als sie nachdenklich meinte: »Einfach so in den Garten schleichen, dich hinter einem Busch verstecken und warten, bis die Luft rein ist und du die Wintergartentür aufbrechen kannst, geht wahrscheinlich nicht?«

Hier entfuhr Papa ein trockenes Hüsteln, während ich ein breites Grinsen unterdrücken musste. Waren das nicht exakt meine Gedanken gewesen, als ich wütend vor Wiehles Haus gestanden hatte? Tja, auch der detektivische Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm.

»Gehört zu dem Haushalt ein Hund?«

»Nein«, sagte ich und verschwieg wohlweislich, dass meine Erfahrung im Aufbrechen von Türen ziemlich begrenzt war.

»Das ist immerhin etwas. Würde diese Marga, von der du manchmal erzählst, dir helfen?«

»Ich denke schon.« Wenn sie nicht gerade mit einem gewissen Herrn Keller herumturtelte wie ein liebeskranker Teenie.

»So. Gut. Die Wiehles kennen Marga?«, tastete sich Mutti weiter vor.

»Ja. Vom Sehen her ganz sicher. Und sie wissen natürlich, dass sie in Bokau wohnt.« Was bei knapp dreihundert Einwohnern kein echtes Wunder war.

»Also bei den Bruhaupts waren alle aus dem Haus, als dort eingebrochen wurde.« Nachdenklich nahm meine Mutter einen Schluck des mittlerweile völlig erkalteten Tees, merkte jedoch vor lauter Konzentration überhaupt nicht, was für ein Gesöff sie da in sich hineinschüttete. »Die beiden Alten aßen bei Maritas Cousin, und Dorle war auf einem Trip.«

»Was denn für ein Trip?«, fragte ich alarmiert, weil ich vor meinem inneren Auge schon die Spritzen durch das Bruhaupt’sche Wohnzimmer rollen sah.

»In die Rhön, glaube ich. Sie war dort mit einer Freundin wandern«, klärte meine unschuldige Mutter mich auf. »Wo waren wir? Richtig, die Wiehles müssen aus dem Haus sein, und du brauchst den Schlüssel. Das wäre die eleganteste Lösung. Nun sag doch auch mal was, Friedrich! So schwer kann das doch nicht sein!«

»Du weißt doch, dass mir so etwas nicht liegt, Traute«, grummelte mein Vater und atmete merklich auf, als das Klingeln meines Telefons ihn einer weiteren Antwort enthob.

Ich zögerte zunächst, weil ich die ungewohnte Familienharmonie nicht stören wollte, blickte dann jedoch auf die Nummer, hob ab und schnauzte den verlorenen Midlife-Krisen-Lover an: »Was ist?«

»Hi, ich bin’s«, sagte Harry irritiert. »Und ich wünsche dir auch einen schönen guten Tag.«

»Gibt’s was Wichtiges?«

»Nein. Nur dass ich wieder in Kiel bin. Ich dachte, dass dich das vielleicht interessiert.«

»Ich meinte zu Schardt«, stellte ich klar. Ob das Chloe-Wunder mittlerweile Google aufgekauft hatte, war mir schnurzpiepegal.

»Viel habe ich nicht herausgefunden, glaube ich«, meinte Harry vorsichtig. »Also –«

»Gut, dann melde ich mich morgen bei dir. Tschüss«, würgte ich ihn ab. Treulose Tomaten besaßen schließlich keinerlei Anspruch auf eine besonders schonende Behandlung.

»Ein Freund?«, erkundigte sich meine Mutter spitz. »Unseretwegen hättest du den nicht so kurz abfertigen müssen.« Sie sagte das in einem Tonfall, der mir deutlich verriet, dass sie eigentlich meinte: »Ein Mann? Hurra, ein Mann! Tat sich da vielleicht etwas im kindlichen Liebesleben?«

Ich wusste, meine Mutter hatte diesbezüglich noch nicht aufgegeben.

»Manchmal ja«, gab ich deshalb bewusst lässig und neutral zurück. Sollte sie doch denken und vermuten, was sie wollte.

»Du hast noch nie von ihm erzählt. Wie heißt er denn?«

»Traute«, mahnte Papa.

»Harry«, sagte ich. »Er ist fast vierzig, steigt jungen Frauen hinterher wie ein alter Lustgreis, lernt Chinesisch und Kleiderordnungen auswendig, weil er unbedingt Billionär werden will, und ist ein ziemlich eingebildeter Pinsel, der die Leute vergrault, wo er nur kann. Können wir jetzt vielleicht das Thema wechseln?«

Für meine Mutter war der Film »Harry und Sally« gedreht worden, dessen Kernaussage lautet: Männer und Frauen können nicht befreundet sein, es geht immer nur um Sex. Davon war sie ebenfalls felsenfest überzeugt. Es hätte daher viel zu lange gedauert und wäre viel zu kompliziert gewesen, ihr mein kumpelhaftes Verhältnis zu Harry zu erklären. Obwohl ich zu gern gewusst hätte, was sie von dem wohl schönsten Orgasmus der Filmgeschichte hielt.

Stattdessen traf mich ein gekränkter Blick. Ich kannte dieses Kaliber. Du bist wirklich unmöglich, hieß das, aber um des lieben Friedens willen halte ich meinen Mund. Mich nervte das tierisch.

»Ich frage nur, weil …«, begann meine Mutter, der meine Reaktion nicht entgangen war, zaghaft, »also Dorle hat auch monatelang nichts gesagt, und dann saß dieser Guru plötzlich im Wohnzimmer von Walter und Maria und futterte ihnen die Kekse weg.«

Die Vorstellung von Harry, der mit meinen Eltern höflich Konversation betrieb, während ich atemlos-glücklich danebensaß, war so komisch, dass ich anfing zu lachen.

»Ich sage ja schon nichts mehr«, murmelte meine Mutter beleidigt. »Aber man macht sich natürlich so seine Gedanken. Du bist schließlich nicht mehr die Jüngste, Kind.«

»Traute, lass gut sein«, fuhr Papa dazwischen. »Misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen.«

»Das tue ich doch gar nicht«, entgegnete Mutti scharf. »Wie gesagt, ich mache mir eben meine Gedanken. Sie ist und bleibt meine Tochter.«

Da gab es nichts zu widersprechen. Ich stand schweigend auf, um einen frischen Tee aufzubrühen.

»Das Gebäck ist übrigens sehr lecker«, bemerkte mein Vater wohlerzogen.

»Und die Cremeschnitten sind eine Wucht«, ergänzte Mutti eilfertig.

»Ja, bei Matulke schmeckt alles«, gab ich zum Besten.

Wir bemühten uns redlich, die Konversations-Karre aus dem Dreck zu ziehen. Und es gelang. Mein Vater erkundigte sich, wie weit es nach Kiel sei; ich fragte beide über die bevorstehende Seereise aus. Sie schienen sich ehrlich auf die zehn Tage zu freuen.

Wir arbeiteten uns gerade an der Ausstattung der Kabinen ab, als meine Mutter plötzlich verkündete: »Ich hab’s! Du lädst diese Wiehles unter einem Vorwand hier zu dir in die Villa ein, und Marga –«

»Die kommen nicht«, würgte ich sie ab.

Mutti wischte meinen Einwand mit einer ungeduldigen Handbewegung beiseite.

»Dann machst du mit ihnen eben eine Tatortbegehung. Es braucht ja gar nicht lange zu dauern. Und dabei stoßt ihr dann ganz zufällig auf diese Marga. Eine von euch lenkt die Wiehles ab, während die andere den Schlüssel klaut und rasch einen Wachsabdruck von ihm macht.«

»Das ist illegal, Traute«, wandte Papa ein. »Wenn Hanna erwischt wird, besuchen wir sie das nächste Mal im Knast.«

Mein Beruf schien eindeutig aufs elterliche Sprachvermögen abzufärben. Bislang hatte ich gar nicht gewusst, dass mein in sich gekehrter, gentlemanliker Vater so ein Wort überhaupt kannte.

»Nun sei doch nicht so ein Angsthase, Friedrich. Wenn das Kind sich geschickt anstellt –«

»Ich habe einen besseren Plan«, erstickte ich die sich anbahnende Auseinandersetzung im Keim. Und den hatte ich tatsächlich. Er war zwar auch nicht ganz astrein, um es im neuen Jargon meines Vaters auszudrücken, aber bestimmt wirkungsvoll. Mutti würde mit ihrer Tochter zufrieden sein.

 

Wir verbrachten einen feinen Tag miteinander, wanderten ein Stück am Passader See entlang, und besonders mein Vater schien immer mehr zu verstehen, weshalb ich mich in diesem Landstrich so wohlfühlte. Nur der einsame Spaziergänger ganz ohne Hund, der scheinbar zufällig vor meiner Villa herumlungerte und auf das Herzlichste mit Silvia und den Damen herumschäkerte, störte das familiäre Idyll, als wir zurückkamen. Unsere Blicke trafen sich, als ich ihn laut und herausfordernd grüßte. Er erwiderte mein »Moin« zwar nickend, doch sein Lächeln kam mehr als Zähnefletschen herüber.

»Hach, das ist das Landleben«, meinte Mutti gefühlvoll. »Da grüßt man sich noch. Das ist wirklich anders als in der Stadt.«

Ich hielt den Mund und registrierte stattdessen das Äußere des Fremden: ungefähr dreißig, rötliche Haare, auffallend starke Augenbrauen, ausdrucksloser Blick. Mit anderen Worten eine Visage, die seinen Beruf schon von Weitem verriet: Schläger. Meine Mutter hatte von derartigen erkennungstechnischen Finessen natürlich keinen blassen Schimmer. Und das war gut so. Sollte sie in ihrer Unschuld besser glauben, dass in Bokau die Welt noch in Ordnung war. Denn würde sie die Wahrheit kennen, hätte sie sich nur Sorgen gemacht. Das war mein Job.

Mit dem Stolz einer Einheimischen führte ich meine Eltern anschließend durchs Dorf. Bei Inge Schiefer gingen wir essen: Zander auf Gemüsebett (Hanna), gebratene Heringe satt (Papa), Sauerfleisch mit Bratkartoffeln (Mutti). Den verdauungsfördernden Kaffee gönnten wir uns bei Matulke.

Was soll ich sagen? Meine Eltern schienen unseren Familientag genauso zu genießen wie ich. Sie fanden alles wunderbar und höchst interessant, und als wir Marga so gegen siebzehn Uhr abholten, waren wir alle drei bestens gelaunt.

»Das ist Marga, also Frau Schölljahn«, stellte ich sie umständlich vor, insgeheim darauf hoffend, dass entweder meine Mutter oder meine Freundin mit einem herzlichen Lächeln und ausgestreckter Hand auf die andere zuging und ihr spontan das »Du« anbot. Tja, Pech gehabt, Hemlokk.

»Von Ihnen habe ich schon so einiges gehört«, sagte Mutti und musterte Marga dabei dermaßen ungeniert, dass es fast einer Körperverletzung gleichkam.

Ich hatte ihr nie erzählt, dass meine Freundin etliche Jahre älter war als ich. Nicht, weil ich es ihr verheimlichen wollte, sondern einfach weil es nicht wichtig war, wie ich fand. Ich hätte es besser tun sollen, erkannte ich in diesem Moment glasklar, denn das hätte den Schock gemildert.

»Nur Gutes, hoffe ich doch«, entgegnete Marga höflich. Sie hatte sich zur Feier des Tages extra in ein quietschbuntes Wallegewand geschmissen, das meine Mutter todsicher an Dorle Bruhaupt in ihrer indischen Selbstfindungsphase erinnerte.

»Sicher. Mein Mann.« Mutti deutete auf Papa, als stünden auf dem Vorhof des Haupthauses mindestens ein Dutzend älterer Herren herum.

»Angenehm, Herr Hemlokk«, schnarrte Marga und reichte ihm die Hand. Ich hätte am liebsten mit dem Nägelkauen begonnen.

»Frau Schölljahn«, sagte Papa und griff nach ihrer Rechten, was ihm augenblicklich einen giftigen Blick meiner Mutter einbrachte. Oh du Grundgütige, hilf! Es herrschte eine Atmosphäre wie zwischen Dänen und Deutschen, als man sich noch gegenseitig bekriegte, was Gelder, Gebietsansprüche und Fürstenhäuser hergaben.

»Können wir?«, zwitscherte ich betont munter. Alle drei stimmten so erleichtert zu, dass man nur das Schlimmste befürchten musste.

Das Restaurant war bis auf ein älteres, höchst griesgrämig dreinblickendes Ehepaar leer, als wir ankamen. Der Kellner geleitete uns zu einem Tisch mit Aussicht. Wir schauten auf die Hörn, den Kieler Hafen, den Terminal der Oslofähre sowie auf den direkt vor unseren Füßen liegenden Kreuzfahrer, den die Reederei »Aranca« getauft hatte.

»Heißt so nicht eine von diesen Pulversüßspeisen für Kinder?«, flüsterte Marga mir ins Ohr, während wir Platz nahmen. »Na ja, vielleicht ist der Marketingdirektor damit groß geworden und hat sich jetzt einen Kindheitstraum erfüllt.«

»Halt die Klappe«, zischte ich aus den Mundwinkeln und wankte kurz, weil der Kellner meine Kniekehlen ein wenig zu heftig mit dem Stuhl traktierte. »Seht doch mal, dort liegt euer Schiff«, säuselte ich fröhlich zu meinen Eltern hinüber.

Doch ich täuschte niemanden, dafür kannte man mich in dieser unseligen Runde viel zu gut. Trotzdem schauten alle brav auf den Kahn hinunter. Klar, dann musste man das verdorrende Pflänzchen der Konversation nicht gießen.

Die »Aranca« hatte schon ein paar Jahre auf dem Buckel, unter dem weißen Anstrich lugte hier und da bereits der Rost durch. Doch dafür war das Schiff keines dieser schwimmenden Hochhäuser, sondern noch ein richtig schnittiger Kahn mit einem Bug, der tatsächlich diesen Namen verdiente, und einem leicht schräg nach hinten gekippten Schornstein. Und ich hatte mit meinem angenommenen Timing recht gehabt. Zwar wurden noch vereinzelt Paletten im Inneren des Schiffes verstaut, aber im Großen und Ganzen war man mittlerweile mit dem Beladen fertig. Noch ein paar letzte Handgriffe, dann konnte die nächste Passagierladung die »Aranca« entern.

»Ein herrlicher Ausblick, nicht wahr?«, flötete ich. »Ich beneide euch. Ihr werdet bestimmt zehn ganz tolle Tage haben.«

»Ja«, nahm mein Vater den Ball auf. »Das denke ich auch. Wir werden uns verwöhnen lassen, unbekannte Städte anschauen und fremde Menschen kennenlernen, nicht wahr, Traute?«

Doch Traute beachtete ihren Mann überhaupt nicht.

»Und womit verbringen Sie so Ihre Tage?«, fragte sie Marga, die ihr direkt gegenübersaß. Es klang, als könne sie sich in dieser Hinsicht nur etwas Kriminelles oder Amouröses vorstellen. Auftragskillerin vielleicht? Oder Puffmutter?

»Mit Häkeln jedenfalls nicht«, schoss Marga bissig zurück.

»Sie interessiert sich fürs Meer«, hechtete ich dazwischen, »und hat da ziemlich viel Ahnung. Planst du eigentlich eine neue Aktion, Marga?«

Der Kellner kam, doch wir schickten ihn wieder weg. Ich bestellte lediglich eine Flasche Sekt – offiziell zur Feier des Tages, inoffiziell, um das meterdicke Packeis, das über der Tafelrunde lag, zum Schmelzen zu bringen. Doch da hätte es wohl einer ganzen Kiste des schaumigen Edelgesöffs bedurft.

»Es ist alles noch in der Schwebe«, sagte Marga. Das klang vage und abwehrend. Natürlich hatte es etwas mit Herrn Keller zu tun.

»Aber du planst etwas?«, bohrte ich trotzdem mit dem Mut der Verzweiflung nach. Über was, Himmelherrgottnochmal, sollten wir sonst reden?

»Na ja. Schon. Aber da ist noch nichts in trockenen Tüchern. Und ich habe versprochen, den Mund zu halten, Schätzelchen.«

Ich spürte, wie meine Mutter bei der vertrauten Anrede die Ohren spitzte. Dann warf sie Papa einen hilflosen Blick zu. Doch der bekam von dem sich anbahnenden Drama nichts mit. Der Mann war mit Wichtigerem beschäftigt, nämlich dem sorgsamen Studieren der Speisekarte. Und dabei hatte der Tag so verheißungsvoll begonnen …

»Und wem hast du es versprochen?«, hörte ich mich aggressiv fragen. Mir reichte es. Mit der nun schon seit Wochen ach so geheimnisvoll tuenden Marga ebenso wie mit meiner angepesteten Mutter und meinem Schlaffi von Vater!

»Das geht dich gar nichts an««, erwiderte Marga honigsüß. Nur die Anwesenheit des Kellners, der endlich unsere Bestellungen aufnehmen wollte, verhinderte, dass ich meine beste Freundin aus dem Fenster pfefferte.

»Schaut doch mal, es geht los!«, rief Papa in diesem heiklen Moment entzückt. Und tatsächlich, die ersten Stewards und Matrosen, oder wie das seemännisch korrekt heißt, nahmen an der Reling Aufstellung. Ein Lamettaträger mit strahlend weißer Mütze gesellte sich zu ihnen, fasste an seinen Schlips und in den Schritt, rückte gerade, was gerade zu rücken war, und schon fuhr der erste Bus vor. Lauter Grauköpfchen purzelten aufgeregt schnatternd heraus und wurden von einer energischen Dame sicher die fünf Meter zum Schiff geleitet, um dort den fachkundigen Händen der Seeleute übergeben zu werden. Dabei lachte und scherzte man; die Stimmung war sichtbar gut.

»Heute Abend hätte es ein Büfett gegeben«, bemerkte meine Mutter, was so viel hieß wie: Nur dir zuliebe sitzen wir hier und verzichten darauf. Danke, Mutti.

»Ach, in unserem Alter soll man ja ohnehin nicht mehr allzu viel essen«, meinte Marga daraufhin leicht und locker. »Da wird man ganz schnell dick und rund.«

Und nun? Es war gar nicht als gezielter Tiefschlag gedacht, aber das wusste nur ich. Marga machte sich aus solchen Sachen einfach nichts. Doch nur mein Vater gehörte zu der beneidenswerten Sorte Mensch, die essen konnte, was sie wollte, denn meine Mutter, klein und propper, wie sie nun einmal war, hätte in jede FKK-Werbung gepasst – für »vorher«, nicht für »nachher«.

»Nun schaut euch das an!«, brüllte ich. »Da kommt noch ein Bus.« Marga, die gar nicht begriff, dass sie uns zielsicher über den Abgrund geschoben hatte, runzelte ärgerlich die Stirn.

»Das sehen wir, Schätzelchen, ob du es glaubst oder nicht. In solchen Dingern werden die Gäste herangefahren. Das ist im Tourismusgewerbe so üblich. War dir das nicht klar? Deshalb musst du doch hier nicht so herumschreien. Aber was ich gerade fragen wollte: Was macht eigentlich dein Fall? Du weißt schon, diese Hungertruppe, die sich auf Hollbakken amüsiert und dabei ihre Frontfrau abgemurkst hat?«

Ich hätte es möglicherweise im Beisein meiner Eltern ein Häuchlein anders formuliert.

»Du arbeitest noch an einem zweiten Fall, Hanna?«, fragte mein Vater nach einem tiefen Moment des Schweigens, das sich nach Margas Worten wie ein Leichentuch über unseren Tisch gelegt hatte, höflich.

»Och, der ist nicht der Rede wert«, wiegelte ich ab. Sie mussten doch nun wirklich nicht alles wissen, oder? Hier ging es schließlich in echt um Mord und Totschlag und nicht um entführte Krötenherren und todbringende Klopse. »Die Sache mit der Gräte in der Bulette ist weitaus spannender.«

»Hanna«, sagte daraufhin mein Papa in diesem leicht ungläubigen, zögernden, aber liebevollen Tonfall, mit dem ich groß geworden war und der anzeigte, dass er mir keine Silbe glaubte.

»Es hört sich schlimmer an, als es ist«, beteuerte ich und trat Marga unterm Tisch feste gegen das Schienbein. »Ich erzähle es euch bei Gelegenheit. Daran ist nichts gefährlich, oder, Marga?«

»I wo«, blökte sie daraufhin in so falscher Tonlage, dass ich mir am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Ich hatte vielleicht doch ein bisschen zu heftig zugetreten. »Hanna hat alles im Griff.«

»Sie wissen also Bescheid«, stellte Mutti fest. Und ich nicht, ging der Satz zwar unausgesprochen, aber nichtsdestotrotz klar und verständlich für jeden, der hören konnte und wollte, weiter. Nur mit Mühe unterdrückte ich ein genervtes Stöhnen. Hatte dieser verdammte Puddingpulver-Dampfer denn nichts an unverfänglichem Gesprächsstoff zu bieten?

Ich fixierte ihn hasserfüllt. Und wenn der vermaledeite Kahn vor unseren Augen absoff! Mir war mittlerweile alles recht. Er tat es nicht. Stattdessen fuhr noch ein Bus auf den Parkplatz und entließ eine weitere Ladung rüstiger Senioren auf das Schiff. Dann nagelte ein Taxi heran, und eine geschmackvoll gekleidete Frau in den sogenannten besten Jahren stieg aus, gefolgt von einem eindeutig jüngeren Mann, der mit dem Fahrer zum Kofferraum eilte. Die Frau hatte den Chauffeur bezahlt und schritt nun, ohne sich umzudrehen, auf die Gangway zu. Der junge Kerl wuchtete derweil drei respektable Koffer aus dem Taxi und stolperte hinter der Lady her.

»Was für ein appetitlicher Bursche«, kommentierte Marga die Szene. »So einen hübschen Knackarsch sieht man selten.«

Oh Marga! Sie legte es wirklich gezielt darauf an, dass meine Mutter schnaubend vor Wut und Empörung davoneilte und ihrer Tochter den Umgang mit so einer schamlosen Person verbot. In diesem unseligen Moment drohte dem Jungen jedoch – der Grundgütigen sei Dank – einer der Koffer ins Wasser zu rutschen. Mit einem lästerlichen Fluch griff er hinterher, schnappte ihn im allerletzten Moment und knallte ihn roh auf die Gangway. Die Seeleute oben auf dem Schiff feixten. Der Jüngling zeigte ihnen den Stinkefinger, warf die blonde Mähne zurück und –

»Aber hallo!«, entfuhr es mir verblüfft.

Ich war dermaßen angespannt gewesen, dass ich Lutz Sörensen erst jetzt erkannte. Denn er war es. Eindeutig. Hatte er etwa den Job gewechselt? Vom Drogendealer zum Kofferkuli? Oder brachte er als netter Erbneffe bloß seine Tante zum Schiff?

»Kennst du den jungen Mann?«, erkundigte sich Mutti voller Interesse.

»Mmh«, brummelte ich unbestimmt, um schlafende Hunde nicht zu wecken. Ich hätte es besser wissen müssen.

»Ja oder nein, Kind?«, mahnte sie mich streng.

»Ja«, gab ich widerwillig zu.

Alle vier starrten wir jetzt hinunter auf die Gangway, auf der sich Sörensen mit puterrotem Kopf weiter abmühte, bis sich endlich einer der Matrosen erbarmte und ihm eines der Gepäckstücke abnahm. Nun verschwand auch Sörensen im Bauch des Schiffes. Wir warteten. Doch er kam nicht wieder, um vom Kai aus seiner Tante zum Abschied zu winken.

»Der fährt mit«, stellte Marga das Offensichtliche fest. Ich stimmte ihr zu.

»Von irgendwoher kenne ich den jungen Mann«, sagte meine Mutter plötzlich nachdenklich. »Was meinst du, Friedrich? Kommt er dir auch bekannt vor?«

»Nein, nie gesehen«, antwortete mein Vater, ohne zu zögern. Er hatte jedoch wie so viele Männer kein Gedächtnis für Gesichter und Namen.

»Aber ich«, beharrte meine Mutter. »Woher kenne ich den bloß? Ich weiß es nicht. Bestimmt fällt es mir wieder ein. Weißt du was, Kind, ich werde ihn auf der Tour ein bisschen im Auge behalten. Du interessierst dich doch für den Mann, oder? Also beruflich, meine ich«, setzte sie tugendhaft hinzu.

»Ja. Schon«, gab ich zögerlich zu.

»Ich verstehe. Er spielt in dem anderen Fall eine Rolle. Dem, von dem du deinem Vater und mir nichts erzählen willst.«

»Mutti«, sagte ich gequält. Sie wollte doch hier wohl keine Szene machen! Nein, wollte sie nicht, denn sie winkte ab.

»Abgemacht also, ich werde ihn während der Fahrt unauffällig observieren.«

»Mutti«, wiederholte ich und hatte selbst keine Ahnung, was ich eigentlich damit meinte: Ja, Mutti, das ist prima, oder Nein, Mutti, lass doch besser die Finger davon. Marga hatte diese Schwierigkeiten nicht.

»Das ist eine ganz ausgezeichnete Idee«, lobte sie. »Und schaden kann das bestimmt nicht. Machen Sie sich an den Kerl ran und horchen Sie ihn nach Strich und Faden aus.«

Mutti nickte.

»Es wäre allerdings erheblich einfacher, wenn ich grob wüsste, um was es bei dem Fall geht. Damit ich durch meine Unkenntnis in keine Falle tappe oder gefährliche Fragen stelle«, bemerkte sie cool und ausschließlich an Marga gewandt.

»Klar«, stimmte die prompt zu. »Das ist einzusehen. Sonst geht man bei den Ermittlungen leicht in die Irre, und damit ist ja niemandem gedient.«

»Genau«, meinte Mutti.

Papa und ich saßen derweil stumm wie Holzpuppen daneben. Marga warf mir immerhin noch einen kurzen, um Einverständnis heischenden Blick zu, bevor sie anfing: »Also, es geht um einen Mord, der wie ein Unfall aussieht, und um Drogen.«

Ich hörte, wie Papa neben mir schwer schluckte.

»Die ganze verdammte Palette also«, sagte meine Mutter leise.

Ich starrte sie an. Sie hörte sich an, als sei ihr nichts Menschliches fremd. Und Mord und Totschlag schon mal überhaupt nicht.

»Traute!«, ächzte mein Vater, der sich wahrscheinlich schon nächtelang in einem ungemütlichen Rettungsboot kauern sah, um eine hochgeheime Unterhaltung zwischen Schwerstkriminellen zu belauschen. Die beiden Damen beachteten ihn überhaupt nicht.

»Der junge Mann hat mit beidem zu tun, das wissen wir«, klärte Marga meine neue Kraft auf. »Aber wichtig wäre die Drogensache. Hanna kann da nämlich nichts beweisen. Und wenn sie in dieser Hinsicht etwas in der Hand hätte, käme sie sicher auch mit der Frage, ob es Mord war oder nicht, weiter. Wenn Sie also in dieser Richtung Ihre Fühler ausstrecken würden … Traute.«

»Mach ich«, sagte Traute mit fester Stimme. Es klang, als habe sie ihr Lebtag im Observierungs- und Aushorchmetier gearbeitet. Na ja, wenn ich an die zahlreichen gewissenhaften Bulletins im Fall Dorle Bruhaupt dachte, war da vielleicht sogar etwas dran. »Ich erstatte Bericht, sobald ich etwas rausgekriegt habe. Geben Sie mir doch zur Sicherheit Ihre Telefonnummer, Marga.«