PROLOG
Sie starrt auf ihre Zehen. Ihre Beine hat sie über das schimmernde Blau des Swimmingpools ausgestreckt, und der lindgrüne Glanz ihrer Zehennägel überrascht sie – sie kann sich nicht daran erinnern, sie in dieser Farbe lackiert zu haben. Aber sie beschließt, sie hübsch zu finden. Und sie heben sich besonders gut von den sonnenhellen Mosaiken des Pools ab. Vielleicht ist Grün, zumindest im Sommer, das neue Pink.
Sie schließt die Augen und hebt das Gesicht zum Himmel. Sie spürt das heiße Licht der Sonne auf ihren Augenlidern. In diesem Moment ist die Welt rot und warm. Noch nie hat sie sich so entspannt gefühlt.
Luft streicht über ihren Körper, gefolgt von einer stärkeren, kühleren Brise. Sie öffnet die Augen und beobachtet die Blätter am Baum, am anderen Ende des Pools, wie sie in der Brise flirren, ihre Schattierung von Hell zu Dunkel verändern und dann wieder zurück, wie Pixel auf einem kaputten Fernseher, die sich nicht entscheiden können, welche Farbe sie annehmen sollen.
Erneut streicht der Wind über sie hinweg, und eine Gänsehaut überzieht ihre Arme. Auf der Suche nach einem T-Shirt sieht sie gerade noch, wie drei Blätter von dem Tisch hinter ihr aufflattern und ins Wasser geweht werden.
Im ersten Moment will sie lachen.
Murphys Gesetz , denkt sie. Sie hätten überall landen können, aber es musste natürlich der Pool sein.
Ohne Eile und immer noch amüsiert steht sie auf und geht am Rande des Wassers entlang, bis sie die nun durchweichten Papiere erreichen kann. Sie kniet sich hin – der aufgeheizte Beton brennt an ihren Knien –, und indem sie sich weit vorbeugt, gelingt es ihr, zwei der nassen Blätter zu bergen. Sie legt sie auf die Steinplatten, damit sie trocknen, doch das dritte, ein besonders dünnes, befindet sich außerhalb ihrer Reichweite. Es geht schnell unter, rollt sich zusammen und trudelt, während es auf den Boden des Beckens sinkt. Also richtet sie sich auf und hechtet elegant ins Wasser. Es ist kühler, als sie erwartet hatte. Der Schock der Kälte lässt sie nach Luft schnappen.
Sie schwimmt zur Mitte des Pools, holt einmal Luft und taucht. Sie spürt, dass sie ihre Lungen hätte mehr füllen sollen. Es fühlt sich an wie ein Déjà-vu, das sie davor warnt, was nun kommen wird.
Zuerst flimmert das Sonnenlicht über ihre nackten Arme, und sie spürt immer noch seine Wärme auf ihrem Rücken. Doch als sie noch tiefer hinabschwimmt und dem flüchtigen Stück Papier nachjagt, verblasst das Licht, und das Wasser färbt sich von blau zu grün, und dann wird es langsam tintenschwarz.
Allmählich bekommt sie Angst. Das Blatt Papier ist, wie sie genau weiß, unglaublich wichtig (obwohl sie sich seltsamerweise nicht daran erinnern kann, warum). Aber der Pool ist so tief und dunkel und kalt, und irgendeine unerklärliche Unterströmung zieht das Objekt ihrer Begierde immer tiefer hinab.
Und dort unten gibt es seltsame Dinge – lebendige Dinge. Sie spürt sie überall um sich herum. Plötzlich voller Furcht blickt sie nach oben und sieht weit, ganz weit entfernt das Sonnenlicht auf der Wasseroberfläche spielen.
Sie entlässt eine Luftblase aus ihrem Mund und beobachtet, wie sie ihre Form verändert und sich in kleinere Blasen aufteilt, während sie nach oben steigt. Dann blickt sie wieder nach unten und kann das Papier kaum noch erkennen, so schnell sinkt es hinab.
Nun voller Panik taucht sie ungelenk, hastig, aber ihre Lungen scheinen zu platzen, und auch, wenn sie sich sehr bemüht, wenn sie sich mit aller Kraft reckt und mit den Fingerspitzen den Rand des Papiers berührt, misslingt es ihr jedes Mal, es zu fassen.
Irgendetwas berührt ihr Bein, und dann hört sie ein Schnalzen, das sie an einen Oktopus erinnert. Hat sie nicht eine Dokumentation über diese Tiere gesehen? Und war es nicht dieses Geräusch, das sie von sich geben?
Aber irgendetwas wickelt sich fest um ihr Bein. Etwas, das ihr Angst macht. Etwas, das sie wieder nach Luft schnappen lässt, wobei sie wertvolle Luft aus ihren Lungen verliert. Sie verdreht den Kopf, bis sie erneut nach oben sehen kann, doch das Licht ist verschwunden, und sie ist sich plötzlich nicht mehr sicher, wo oben und unten ist. Wenn nun oben plötzlich unten ist? , fragt sie sich. Alles im Leben kann sich plötzlich um hundertachtzig Grad drehen. Ohne Vorwarnung. Das weiß sie. Links kann zu rechts werden. Hoffnung zu Verzweiflung.
Sie schwimmt strampelnd in die Richtung, in der sich das Licht befinden müsste, doch dort ist nichts, nur noch mehr tintenschwarze, ölige Dunkelheit. Panik erfasst sie vollends, und sie schwimmt mit aller Kraft und versucht, dem zu entkommen, was auch immer da ihren rechten Fuß festhält, während sie, und sie spürt es genau, beginnt zu ertrinken.
Sie weiß es jetzt. Sie weiß es, als hätte sie es schon immer gewusst – so wird sie sterben. Hier, zu dieser Zeit und auf diese Weise. Sie ist in einem Pool ertrunken , hört sie die Leute sagen. Es kommt ihr armselig vor, auf diese Weise zu gehen. Es ist fast zum Lachen.
Doch dann erreicht sie eine Stimme, verzerrt und gefiltert durch das Wasser. »Mum«, ruft sie. »Mum! Ich weiß, dass du dort drin bist. Mum!«
Sie schwimmt auf die Stimme zu, tritt nach unten, um ihr rechtes Bein zu befreien, und sie strampelt mit aller Kraft, damit derjenige, wer immer es auch ist, weiß, dass sie da ist. Und nachdem sie das letzte Quäntchen Luft aus ihren Lungen gepresst hat, gerade als sie weiß, dass ihr keine andere Wahl bleibt, als dem Wasser zu erlauben, in ihren Körper einzudringen, durchbricht sie die Oberfläche – schweißgebadet, ihr Bein in ein Bettlaken gewickelt und völlig aufgelöst, mal wieder, weil sie dieses verdammte Stück Papier verloren hat.
»Mum!«, ruft die Stimme erneut. Es wird rhythmisch ans Fenster geklopft, und nur für einen Augenblick hält sie dieses Klopfen für den schnalzenden Laut, den der Oktopus aus ihrem Traum vielleicht machen würde, und erneut wird sie von einer Welle der Furcht überrollt.
Laura öffnet den Mund, um zu antworten, doch kein Laut kommt über ihre Lippen. Mit der Zunge fährt sie sich über die Zähne, schluckt schwer und versucht es erneut.
»Ich bin gleich da, Becky«, krächzt sie. Dann noch einmal, lauter, hörbarer: »Ich bin gleich da! Nur eine Minute.«