KAPITEL 1
BECKY
Ich habe meinen Vater erfunden, als ich fünf Jahre alt war.
Er war Feuerwehrmann und trug eine steife Uniform mit großen Messingknöpfen. Er fuhr in einem glänzenden Feuerwehrwagen mit einer ausziehbaren Leiter auf dem Dach herum.
Im Laufe der Jahre hatte Dad viele verschiedene Berufe. Er war, wie schon gesagt, Feuerwehrmann, aber auch Polizist und Gehirnchirurg. Für kurze Zeit auch einmal der Präsident von Norwegen.
Eigentlich hätten meine Klassenkameraden mir dadurch schon auf die Schliche kommen müssen, denn es gibt in Norwegen keinen Präsidenten. Norwegen ist, wie sich dann herausgestellt hat, eine Monarchie. Aber natürlich wusste das niemand an der Salmestone-Grundschule. Wenn wir mal ganz ehrlich sind, glaube ich, dass die Hälfte der Lehrer Probleme hätten, Norwegen auf einer Landkarte überhaupt zu finden.
Und obwohl ich in der Schule mit unerschütterlicher und offensichtlich überzeugender Bestimmtheit erklärte, dass mein Vater sich gerade auf dem Karrierehöhepunkt dieses oder jenes Berufes befand, blieb er zu Hause immer das Verbotene Wort.
Er war noch vor meiner Geburt gestorben – so viel wusste ich. Aber ich wusste weder, wer er gewesen war, noch etwas über die Umstände seines Todes, und ich wusste es nicht, weil ich eben nicht danach fragen durfte.
Die meiste Zeit dachte ich nicht viel darüber nach, dass er ein Mensch gewesen war, der gelebt hatte und nun nicht mehr lebte. Vielleicht war das alles einfach zu viel für ein kindliches Hirn, um es wirklich zu erfassen.
Trotzdem war ich im Allgemeinen ziemlich glücklich: mit Mum, mit meinem Leben und mit meinem Vater, dem Astronauten (ja, den gab es auch). Ich war sogar sehr viel glücklicher mit meinem Fantasievater als einige meiner Schulfreunde mit ihren richtigen Vätern.
Ich erinnere mich noch daran, wie eine Freundin mich fragte: »Klebt dein Dad dir manchmal eine?«
»Nie!«, erwiderte ich. »Aber er bringt mir immer Schokolade mit, wenn er von der Raumstation zurückkommt.«
Meine Mutter dagegen war unzweifelhaft äußerst real, deswegen konnte ich nicht so tun, als würde sie mir nicht auf die Rückseiten meiner Beine schlagen, wenn ich mit schlammigen Knien aus der Schule kam. Und ich konnte auch nicht so tun, als sei sie irgendetwas anderes als Sekretärin bei einem Immobilienmakler.
Mir ausdenken musste ich allerdings, was in ihrem Kopf vorging, denn Mum war immer irgendwie undurchschaubar. Sie wirkte ständig, als würde sie irgendwelche Geheimnisse vor uns haben, und wie sich herausstellte, hatte sie die natürlich auch tatsächlich.
Mum war eine hektische und magere Frau mit einem eher spitzen Gesicht und nur wenigen Freunden. Im Alter war sie dann etwas runder geworden, sowohl körperlich als auch psychisch, aber damals war sie alles andere als ein einfacher Mensch, mit dem man sich eng verbunden fühlen konnte, selbst als ihre Tochter. Wenn es allerdings um materielle Dinge ging, war sie ein absolutes Ass.
Ihr Leben als alleinerziehende Mutter muss sehr hart gewesen sein, und ich wollte so etwas Ähnliches auf keinen Fall selbst durchmachen müssen, was allerdings nicht an Gran lag, die als gläubige Katholikin genauso wütend auf Mum war – weil die sich hatte schwängern lassen, diente ich ihr als ständige Erinnerung an die Sünden ihrer Tochter.
Mum hat oft geweint, als ich klein war. Meine erste Erinnerung ist auch tatsächlich, dass ich sie weinen gesehen habe. Wir lebten damals immer noch in dem winzigen möblierten Zimmer am Bahnhof, also muss ich noch unter fünf gewesen sein, denn als ich in die Schule kam, fand Mum einen Job, und wir zogen in eine Sozialwohnung. Jedenfalls bin ich aufgewacht und merkte, dass Mum schluchzte, deswegen bin ich ans Ende des Betts gekrabbelt. In meiner Erinnerung war das ein ziemlich langer Weg, deswegen war ich vielleicht sogar noch jünger. Ich habe dann meine Arme um sie geschlungen, genau wie Mum es bei mir gemacht hat, wenn ich geweint habe, und sie gefragt, was los sei.
Sie hat auf den Raum um uns herum gedeutet und gesagt: »Ach, es ist nichts. Es ist einfach nur dieses Zimmer. Es bedrückt mich manchmal, das ist alles. Aber kümmere dich nicht um mich. Ich bin einfach eine alberne Wurst.«
Ich erinnere mich daran, dass ich sie mir als Wurst mit einem Gesicht vorgestellt habe, die gebraten wurde und weinte. Und dann blickte ich mich verwirrt in dem Zimmer um und versuchte zu begreifen, wo das Problem lag. Denn für mich sah alles perfekt aus.
In einer Ecke hatten wir einen kleinen Ofen mit einem Kochfeld darauf – ich glaube, Baby Belling nannte man ihn. Es gab einen Fernseher, in dem Budgie, der kleine Helikopter lief, und einen Schrank voller Kleidung und Spielzeug. Von dem vorherigen Mieter hatten wir einen roten Samtsessel voller Brandlöcher übernommen, durch die ich meine Finger stecken konnte, und orangefarbene Vorhänge mit einem Muster, das aussah wie Lollis. Ich begriff einfach nicht, was man sich noch mehr wünschen konnte.
Im Rückblick muss es furchtbar gewesen sein und zudem deprimierend ohnegleichen, ein Kind in einem einzigen Zimmer in einer Stadt aufzuziehen, in der sie buchstäblich niemanden kannte.
Aber was mich anging, ich liebte es. Mir gefiel das Puppenhausartige unseres Zuhauses und auch die Tatsache, dass wir jeden freien Moment zusammen verbrachten, ausnahmslos am Strand. Ich mochte die blinkenden Lichter der Spielhallen und das Geräusch der Züge, die am Ende der Straße vorbeirollten. Ich mochte es, wenn wir am Meer entlang in die Stadt gingen und über den Wind lachten, der manchmal so kräftig blies, dass ich mich an Mums Hand festklammern musste, um nicht buchstäblich davongeblasen zu werden. Deswegen hatte ich Mühe zu verstehen, warum Mum so traurig war.
Nachdem ich in die Schule gekommen war, wurde es langsam besser für sie, Gott sei Dank. Mum bekam Jobs – für kurze Zeit in einer Taxizentrale und dann die Anstellung als Sekretärin bei dem Immobilienmakler, wo sie dann fünfzehn Jahre lang arbeitete. Und als ich zehn war, lernte sie Brian kennen.
Ich hängte mich an Brian wie eine Klette. Ich glaube, ich hatte ehrlich Angst, dass er einfach wieder zur Tür hinaus verschwinden würde, aber man hat mir gesagt, dass ich schon immer von Männern besessen gewesen sei. Im Supermarkt ging ich einfach zu ihnen und nahm ihre Hand, nur um zu spüren, wie sich das anfühlt. Als ich acht war, startete ich ganz bewusst den Versuch, meine Mum mit den Vätern meiner Klassenkameraden zu verkuppeln oder mit dem Zählerableser oder sogar mit dem Mann, dem der Süßigkeitenladen gehörte. »Wie findest du den Mann mit dem Labrador?«, fragte ich sie zum Beispiel auf der verzweifelten Suche nach einem Anknüpfungspunkt, während ich ihr gleichzeitig mehr Informationen entlocken wollte, um meine Suchkriterien verfeinern zu können. »Findest du, dass er gut aussieht?« Doch meine Suche erschien hoffnungslos, und selbst in meinen jungen Jahren vermutete ich, dass meine Mum in irgendeiner Weise gebrochen war und ganz einfach unfähig, eine Beziehung zu führen.
Daher kam Brian für mich auch völlig unerwartet – um es vorsichtig auszudrücken. Großzügig und witzig und mit einer Glatze (was ich als Vorteil empfand – ich rieb so gern über seine glänzende Kopfhaut) und unglaublich entspannt. Angesichts einer im Rückblick nicht besonders entspannten Beziehung war er ein Gottesgeschenk.
Er ließ Mum sitzen, als ich achtzehn war, was eine jener Überraschungen war, die eigentlich überhaupt keine sind. Mir war es immer so vorgekommen und Brian war es zweifellos nicht anders gegangen, als ob Mum ihn hinhalten würde, als ob sie ihm etwas vorenthielt – ihre Freude, ihren Sinn für Humor. Und letztlich auch ihre Liebe.
Schon von klein auf wusste ich, wie es sich anfühlte, jemanden eigentlich überhaupt nicht zu kennen, denn so erging es auch mir. Denn das einzige Thema, über das ich nie sprechen durfte, war mein Vater. Ich nahm an, dass das Unnahbare meiner Mutter und ihre Zerrissenheit damit zusammenhingen.
Meistens, wenn ich in meiner unbeholfenen, kindlichen Art darüber zu sprechen versuchte, wer mein Vater war oder, genauer gesagt, warum ich keinen hatte, lenkte Mum immer ab, indem sie sich einem anderen Thema zuwandte. Manchmal fertigte sie mich auch mit ein paar scharfen Worten ab, bekam plötzlich Kopfschmerzen oder schwieg einfach, als habe sie meine Frage überhaupt nicht gehört. Nur ein einziges Mal, als ich ungefähr sieben war, glaube ich, konnte ich sie dazu zwingen zu reagieren.
Ich hatte damals einen perfekt kalkulierten Ausraster wegen der ganzen Sache. Ich stampfte also mit meinen kleinen Füßen auf und verlangte, dass sie mir sagte, warum ich, ganz anders als alle meine Schulfreunde, keinen Vater hatte. Mum machte sich eine Tasse Tee – um etwas Zeit zu schinden, denke ich –, und dann setzte sie sich mit mir ins Wohnzimmer. »Es fällt mir unglaublich schwer, darüber zu sprechen«, erklärte sie ernst. »Deswegen möchte ich auch nur einmal darüber reden. Hast du das verstanden?«
Ich nickte. Und, wie ich mich erinnere, zitterte ich vor Aufregung, weil ich noch nie zuvor mit diesem Thema bei ihr so weit gekommen war.
»Dein Vater war ein fantastischer und ganz entzückender Mann«, sagte sie. »Er hat sehr gut ausgesehen, genau wie du. Er war dir sogar sehr ähnlich. Und ich habe ihn sehr geliebt. Aber leider – leider – hatte er einen Unfall und ist gestorben, kurz nachdem ich ihn kennengelernt hatte. Ich dachte, es würde mir das Herz brechen, doch dann bist du gekommen und hast es wieder geheilt. Okay? Und jetzt sind nur noch wir beide übrig.«
Ich nickte nachdenklich. »Aber …«, begann ich.
»Hättest du Lust, am Strand ein Eis zu essen?«, fragte Mum.
»Aber …«, sagte ich und hatte wirklich Mühe, diesem verlockenden Angebot nicht nachzugeben, obwohl ich begriff, dass es pure Bestechung war.
»Du willst also kein Eis?«, fragte Mum. »Ja, dann …«
Aus Erfahrung wusste ich, dass die Sache damit, wie man so sagt, erledigt war. Ich wusste außerdem, dass das Angebot mit dem Eis, sollte ich nicht unverzüglich den Mund halten, was meinen Vater anging, ebenfalls zurückgezogen würde. Also lächelte ich und nickte und lief los, um meinen Mantel zu holen. Ich erinnere mich, dass ich, während ich ihn überzog, in den Spiegel im Flur blickte und vergeblich versuchte, mir einen Mann vorzustellen, der aussah wie ich.
Auf einer Grafik der Gefühle bewegte Mum sich kaum jemals aus dem Bereich heraus, der zwischen »normal« und »sauertöpfisch« lag. Das mag ein wenig schroff klingen, aber sie hatte immer diesen eigenartigen Ausdruck im Gesicht. Stets schien sie ein wenig die Augen zusammenzukneifen, als würde das, was sie ansah, ihr Schmerzen bereiten, oder als bekäme sie gerade Zahnschmerzen. Ich habe wirklich keine Ahnung, wie es dem lebenslustigen Brian gelungen ist, sich acht ganze Jahre lang damit abzufinden.
Trotzdem habe ich meine Mutter geliebt. Ich liebe sie immer noch. Man möge mich nicht falsch verstehen. Ich liebe sie, wie ich meinen rechten Arm oder mein Augenlicht oder mein Herz liebe. Sie ist und war immer der Mittelpunkt meiner gesamten Welt. Wir Menschen sind so konstruiert, dass wir in der Lage sind, Leute trotz ihrer Unzulänglichkeiten zu lieben, und das ist auch gut so, denn als Art scheinen wir eine ganze Menge davon zu haben. Wenn man mit jemandem aufwächst, erscheinen einem diese Unzulänglichkeiten völlig normal. Ich hatte das Gefühl, meine Mum besser zu kennen als mich selbst, obwohl ich natürlich erst viel später ihre Macken benennen und sie auch begreifen konnte. Erst als mir der notwendige Wortschatz zur Verfügung stand, diese Gedanken auch zu formulieren. Aber auf einer unterbewussten Ebene erkannte ich sie. Ich verstand sie, mit all ihren Grenzen. Und deswegen überraschte es mich nicht, wie ich schon gesagt habe, als Brian ging.
Trotzdem habe ich ihn dafür gehasst. Um genauer zu sein, habe ich ihn gehasst, weil er mich verlassen hatte. Jenny, seine neue Freundin, bot ihm eine rundherum fertige Familie, in die er einfach hineinschlüpfen konnte, und ich bin mir sicher, dass Brian, nachdem er über Nacht statt eines Kindes plötzlich fünf hatte, auf einmal ziemlich viel um die Ohren hatte. Aber er hat mich praktisch nie angerufen, was ich immer noch als unverzeihlich empfinde. Ich weiß, mit achtzehn war ich ein wenig sarkastisch, launisch und so weiter, aber trotzdem … ein Geschenk zu Weihnachten, ein Anruf zum Geburtstag – nur eine Kleinigkeit, um deutlich zu machen: »Du warst mir nicht unwichtig.« Es fällt mir wirklich schwer zu verstehen, was so schwer daran gewesen wäre, zumindest eine grundlegende Höflichkeit aufrechtzuerhalten. Auf der anderen Seite hatte mich mein Wunsch nach einem Vater der Wahrheit gegenüber vielleicht blind gemacht. Vielleicht war er für so etwas schon immer viel zu fein gewesen.
Jedenfalls war ich wütend auf Brian, weil er mich verlassen hatte (so fühlte ich mich jedenfalls damals mit achtzehn), aber auch wütend auf Mum, weil sie ihn nicht genug geliebt hatte, als dass er hätte bleiben wollen. Und nun aufs College zu gehen, bot mir eine perfekte Gelegenheit, die Nabelschnur zu durchtrennen, die mich mit diesem ganzen traurigen Schlamassel verband.
Ich lebte in einer Wohngemeinschaft in Bristol. Ich ging zu Partys und rauchte Joints. Ich arbeitete mich durch eine ganze Reihe von unpassenden Jungs. Mum zu besuchen, kam mir dort als die am wenigsten verlockende Option vor. Und deswegen ließ ich den Kontakt zu ihr schändlicherweise eine ganze Zeit schleifen.
Aber dann starb in meinem Abschlussjahr Gran, was Mum überraschend stark mitnahm. Ich meine, man konnte nun wirklich nicht sagen, dass ich den beiden nahegestanden hätte. Mum hatte mir nur sehr wenig über ihre Kindheit mit Granny Eiléan erzählt, aber was ich aus den wenigen Geschichten wusste, die sie mir erzählt hatte – Abende, an denen sie ohne Essen in ihr Zimmer gesperrt wurde, Schläge und erzwungene Geständnisse ihrer Sünden –, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.
Dennoch schien Mum jedes Mal, wenn ich anrief, über Grans Tod in Tränen auszubrechen. Ein paar Monate später wurde sie auch von Right-House entlassen, einfach so, nach fünfzehn Jahren – dieser Bastard. Da verwandelte sich mein Ärger in Sorge, und ich fuhr öfter zu ihr.
Bei einem dieser Besuche fand ich ein Antidepressivum in ihrem Badezimmer. Bei einem anderen eine leere Blisterpackung von einem Valiumgenerikum in ihrem Nachttisch. Mum wurde auch für eine Weile sehr still. Ich ertappte sie dabei, wie sie mit leerem Blick in die Ferne starrte, als habe ihre Seele vorübergehend ihren Körper verlassen. Was immer auch zuvor in ihr zerbrochen war, schien nun, unter all dem Stress, in tausend Splitter zersprungen zu sein, und sie war nicht mehr in der Lage vorzugeben, dass alles in Ordnung war.
Und deswegen begann ich mir in optimistischen Momenten vorzustellen, dass ich trotz der ziemlich trüben Stimmung bei Mum zu Hause wieder zu ihr ziehen würde, sobald mein Studium vorbei war.
Ich vermisste den Seewind, die funkelnden Lichter, nehme ich an. Außerdem kehrten angeblich die Hipster wieder in die Stadt zurück. Es gab auf jeden Fall schlechtere Orte, wo man leben konnte, sagte ich mir. Und so kam es, dass ich den Umschlag fand.