KAPITEL 3
BECKY
Ich machte meine letzten Prüfungen im Mai, feierte noch ein paar schräge Partys, trennte mich von Tom (wir waren nur ein paar Wochen zusammen gewesen, was aber gereicht hatte, um zu erkennen, dass wir keine Zukunft hatten) und verstaute meine Sachen in dem gemieteten Corsa.
Mum hatte, wie ich schon sagte, ein paar fürchterliche Jahre hinter sich. Brian hatte sie verlassen, Gran war gestorben, und dann war sie auch noch arbeitslos geworden. Sie hatte einiges an Gewicht verloren, was zunächst nach einem Fortschritt aussah, doch als sie immer dünner wurde, begann ich, mir mehr und mehr Sorgen zu machen. Sie wirkte ein wenig geisterhaft, fast durchscheinend und weit älter als die neunundvierzig, die sie war. Und doch erinnerte sie mich völlig unpassenderweise daran, wie sie in jüngeren Jahren ausgesehen hatte. Ihre Trauer, die Resignation, die sie ausstrahlte … es kam mir alles so vertraut vor.
Trotzdem war es schwer, mein Leben in Bristol hinter mir zu lassen. Ich liebte diese Stadt und ich hatte dort tolle Freunde. Durch meine vier Jahre am College hatte ich mich verändert. Und auch alle anderen brachen auf in die Welt – nicht ein einziger meiner engeren Freunde blieb. Daher erschien mir Margate ebenso geeignet wie jeder andere Ort, um von dort meine nächsten Schritte zu planen.
Natürlich war meine Entscheidung von nicht ganz geringem Egoismus geprägt, denke ich. Ich hatte zweitausend Miese auf der Bank (was dank meiner McJobs, mit denen ich mir den Lebensunterhalt finanziert hatte, im Vergleich mit einigen meiner Kommilitonen noch ziemlich bescheiden war), und ich musste irgendwann in der Zukunft auch noch ein Studentendarlehen von vierundzwanzigtausend Pfund Sterling ausgleichen. Bei Mum würde ich zumindest keine Miete zahlen müssen.
Sobald ich ankam, lebte Mum sichtlich auf, und ich fragte mich, ob sie nicht einfach schrecklich einsam gewesen war, seit Brian sie verlassen hatte. Aber auch wenn es ihr gutzutun schien, für mich war es unglaublich schwierig, nach dem vierjährigen Ausflug in die Unabhängigkeit wieder in meine Kindheit zurückzukehren.
Plötzlich wachte ich wieder in meinem alten Zimmer auf. Mr D, der Plüschesel, saß am Bettende und starrte mich mit seinem einen Auge an. Ich musste um halb sieben essen, denn so war das hier, und sie drängte mich, mehr zu essen oder weniger, je nachdem, welchen Wochentag wir hatten. Ich bekam es mit der Angst zu tun, als würde sie an meinem Selbstwertgefühl nagen und dabei den schützenden Raum des Erwachsenseins, den ich mir so sorgfältig aufgebaut hatte, langsam zerstören.
Wenn niemand da war, der mein neues schlagfertiges, selbstsicheres Ich zur Kenntnis nahm – denn Mum schien in mir immer noch das Baby zu sehen, das sie einst gestillt hatte –, gab es diesen Menschen dann überhaupt?
Wenn man zu Hause ausgezogen ist, vergisst man allmählich, wie viele winzige Entscheidungen einem die Eltern als Kind aus der Hand genommen haben. Was man trägt. Was man isst. Wie viel man trinkt …
Ich hatte die überraschend schwer abzustellende Angewohnheit entwickelt, zum Abendbrot ein paar große Gläser billigen Wein zu trinken. Mum dagegen servierte Wein in Mengen, die in einen Fingerhut gepasst hätten, und stellte die Flasche danach sofort wieder zurück in den Kühlschrank. Zwar legte sie kein Vorhängeschloss um den Korken, aber an ihrer Ausstrahlung war deutlich zu erkennen, dass an ein Nachschenken gar nicht zu denken war. Ich bin dreiundzwanzig! , hätte ich am liebsten geschrien. Ich kann so viel trinken, wie ich will! Aber ich tat es nicht. Ich nippte an meinem Wein und lächelte und versuchte mir einzureden, dass ich trotzdem eine erwachsene Frau war.
Was meine zehn Zigaretten am Tag anbetraf, wagte ich es nicht einmal, die Schachtel in Sichtweite herumliegen zu lassen. Stattdessen versteckte ich sie ganz hinten im Schrank. Ich rauchte nur am offenen Fenster meines Zimmers, genau, wie ich es mit fünfzehn getan hatte, und riss dann die Stummel in kleine Stücke und spülte sie ins Klo.
An einem Freitag Ende Juni, einem dieser grauen verregneten Freitage, machte ich mich auf die Suche nach einer Schachtel Streichhölzer. Meine Abschlusszensuren sollten genau um zwölf Uhr veröffentlicht werden, und mein Feuerzeug war leer. Ich hatte versucht, ein Blatt Papier an den Heizdrähten des Toasters anzuzünden, mir dabei aber nur die Finger verbrannt und den ohrenbetäubenden Rauchmelder ausgelöst.
Mum war im Supermarkt und würde mindestens eine Stunde fortbleiben, und daher wurde meine zunächst hektische Suche bald eher gemächlich. Dafür wuchs meine Neugier.
Ich fand alte Fotos, die ich mir ansah, und verschreibungspflichtige Medikamente, die ich googelte, und billigen Schmuck, den ich noch nie zuvor gesehen hatte: Halsketten und Ohrringe, die ich vor Mums Spiegel anprobierte.
Ich suchte gerade in ihrem Nachttisch (Valium, Hustenbonbons, ein paar Kondome, die 2012 abgelaufen waren …), als ich den Umschlag entdeckte. Darin befanden sich Tickets für Ende August. Nach Athen und zurück.
Wenn man meine Mutter nicht kennt, fällt es einem schwer zu begreifen, wie überraschend der Fund eines Flugtickets für mich war. Mum hatte, abgesehen von unserem skurrilen und völlig untypischen Urlaub, als ich sieben war, niemals auch nur irgendetwas in der Art gemacht. Und das meine ich in jeder Beziehung. Sie war nie gereist, war nie betrunken gewesen, hatte nicht geraucht oder war auch nur mal nach Mitternacht ins Bett gegangen. Sie war die berechenbarste, vernünftigste Mum, die man sich nur denken konnte. Ich war tatsächlich so geschockt, dass ich den Namen auf den Tickets immer und immer wieder las.
Als ich schließlich überzeugt war, dass meine Augen mir keinen Streich spielten, legte ich alles genau so zurück an seinen Platz, wie ich es vorgefunden hatte. Dann ging ich zurück ins Wohnzimmer, um auf sie zu warten, während ich mich fragte, wie ich sie dazu bewegen könnte, mir von den Tickets zu erzählen, ohne zu verraten, dass ich ihren Nachttisch durchsucht hatte.
Man bekommt vielleicht eine vage Ahnung davon, wie fasziniert ich tatsächlich war, wenn man bedenkt, dass ich augenblicklich mein Verlangen nach einer Zigarette vergessen hatte und sogar die unmittelbar bevorstehende Veröffentlichung meiner Abschlussnoten. Ich starrte ein paar Minuten lang auf die Uhr des Routers und beobachtete, wie die Ziffern umsprangen, und ich fragte mich, warum Mum nach Athen wollte und wie um alles in der Welt sie sich das leisten konnte und warum sie es mir nicht erzählt hatte.
Erst als die Uhr plötzlich auf 12:00 sprang, zuckte ich zusammen, und mir fielen wieder meine Examensergebnisse ein. Ich griff nach meinem Laptop und tippte hektisch auf der Tastatur herum. Als ich das Ergebnis sah, schrie ich auf. Ich hatte einen Einser-Abschluss!
Verständlicherweise war ich außer mir vor Freude. Und das brachte mich auf eine Idee.
Noch bevor Mum die Eingangstür ganz geöffnet hatte, rief ich ihr die Neuigkeit entgegen. Sie stellte ihre Einkaufstüten auf das Sofa und umarmte mich. »Ich habe es gewusst«, sagte sie. »Du warst schon immer ein Schlauberger. Und deswegen habe ich das hier gekauft.«
Sie griff in eine der Tüten und zog eine Flasche nachgemachten Champagner heraus.
fleuron
Mein Versuch, ihr aus der Nase zu ziehen, was ich wissen wollte, schlug vollkommen fehl. Er schleuderte mich sogar erneut geradewegs zurück in meine Kindheit.
Wir nippten an unseren Gläsern mit bestem Supermarkt-Sekt und knabberten an den mit Sardellen gefüllten Oliven, die Mum dazu gekauft hatte, während ich, wie ich hoffte, ganz nebenbei sagte: »Ich dachte mir, ich meine, da wir ja etwas zu feiern haben und da wir seit Ewigkeiten mal etwas Zeit haben … also … was würdest du davon halten, wenn wir zusammen irgendwohin fahren würden, Mum?«
»Du meinst übers Wochenende oder was?«, fragte Mum.
»Ja«, erwiderte ich. »Oder sogar … vielleicht … ein richtiger Urlaub. Ein bisschen Sonne. Mutter und Tochter. Es könnte schön werden.«
»Okay …«, sagte Mum, klang aber ziemlich zweifelnd.
»Spanien dachte ich. Oder Italien. Oder vielleicht sogar Griechenland.«
Mum stellte ihr Glas ab und blickte mich durchdringend an. Es war derselbe Blick, den ich aus meiner Kindheit kannte, mit dem sie mich immer in dem Moment angesehen hatte, wenn sie die zerbrochene Vase ganz unten im Mülleimer entdeckte. Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Innenseite ihrer Wangen.
»Was ist?«, fragte ich. Ich lachte und spürte, dass ich rot wurde.
»Sag du es mir«, entgegnete sie und hob eine Augenbraue.
Ich zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst«, meinte ich. »Ich wollte nur …« Aber meine Stimme erstarrte. Ich hörte selbst, wie wenig überzeugend ich klang. Meine Mutter war kaum zu täuschen.
»Also?«, fragte Mum.
Wieder zuckte ich die Achseln. »Vielleicht bin ich ja einfach über ein paar Tickets gestolpert?«, sagte ich so lieb, wie es mir nur möglich war.
»Du bist über sie gestolpert ?«, wiederholte Mum mit einem spöttischen Lachen in der Stimme.
»Ich habe etwas gesucht«, sagte ich.
»Du hast etwas gesucht
»Ein Feuerzeug.«
»Oh, ein Feuerzeug, natürlich.«
»Ja, ich wollte die Kerze anzünden«, entgegnete ich und deutete mit dem Kopf auf die mächtige rote Kerze auf dem Fensterbrett. »Aber ich konnte nirgends Streichhölzer oder ein Feuerzeug finden.«
»Du wolltest die Kerze anzünden«, sagte Mum.
»Könntest du bitte aufhören, alles zu wiederholen, was ich sage?«
»Glaubst du wirklich, ich weiß nichts von deinen Zigaretten, die du ganz hinten im Schrank versteckt hast?«, fragte Mum. »Glaubst du, ich rieche es nicht, wenn du an deinem Fenster rauchst?«
»Oh«, sagte ich.
»Ja. Oh.«
»Du hast also meinen Schrank durchwühlt?«, fragte ich, ohne mir ganz sicher zu sein, ob ich wirklich gerade wütend wurde oder nur so tat.
»Ich glaube kaum, dass wir darauf jetzt näher eingehen sollten«, meinte Mum. »Nicht, nachdem du meinen Nachtschrank durchsucht hast, während ich unterwegs war, um Champagner zu kaufen.«
»Nein«, sagte ich. »Vielleicht nicht.«
»Das dachte ich mir.«
»Athen also«, stellte ich fest. »Wieso gerade dahin?«
Mum zuckte die Achseln. »Deine Großmutter hat mir ein bisschen Geld hinterlassen. Sie hatte eine ganze Menge, wie sich herausgestellt hat. Wir müssen ohnehin irgendwann mal darüber reden. Ich habe einen Großteil für dich zurückgelegt. Jedenfalls dachte ich mir: Warum eigentlich nicht? Ich habe seit Jahren keinen Urlaub mehr gemacht. Und im Moment habe ich auch die Zeit.«
»Aber du wolltest es mir nicht erzählen.«
»Ach, jetzt sei nicht so, Schatz«, sagte Mum. »Mir ist doch klar, dass du nicht mit einer komischen Alten wie mir verreisen willst.«
»Und wenn ich es doch wollte?«, fragte ich.
»Du hättest mir wenigstens widersprechen können, dass ich eine komische Alte bin«, erwiderte Mum lachend. »Aber das hast du nicht, oder?«
»Du bist noch nicht mal fünfzig, Mum.«
»Erst ab September«, erwiderte sie.
»Ach, das ist es. Dein Fünfzigster!«, platzte ich heraus. »Natürlich. Aber du willst doch deinen Geburtstag nicht allein verbringen, oder? Es sei denn, du willst dir einen großen, starken, haarige Griechen aufreißen.«
Mum überging diese Bemerkung. »Würdest du wirklich mitkommen wollen?«
»Vielleicht.«
»Im August, September?«, fragte Mum. »Meinst du nicht, dass du bis dahin die Nase voll von mir hast?«
»Kann sein«, erwiderte ich. »Das heißt … nein, ich glaube nicht. Ich glaube, ich würde liebend gern mit dir zu deinem Geburtstag nach Athen fliegen. Wir sind doch nie irgendwo zusammen hingefahren.«
»Wir waren in Bergen.«
»Da war ich sechs«, erwiderte ich. »Abgesehen von der Tatsache, dass du versucht hast, mich dazu zu bewegen, Fisch zu essen, erinnere ich mich an überhaupt nichts mehr.«
»Du warst sieben«, korrigierte Mum. »Aber ja, ich denke, das könnte schön werden. Allerdings wird es nicht Athen, Schatz. Dort fährt nur das Schiff ab.«
»Das Schiff?«
»Ja. Das Schiff nach Santorin.«