KAPITEL 7
BECKY
Unsere Fähre legte um neun Uhr morgens ab, daher standen wir kurz vor sieben auf.
Alpina meckerte, und der Bauer, der uns zum Hafen fahren würde, arbeitete bereits in seinem Garten. An diesem Morgen war es ziemlich kalt, doch die bevorstehende Hitze des Tages lag schon in der Luft. Wir liefen hinunter zum Strand, um noch ein letztes Mal schwimmen zu gehen, dann duschten wir und packten unsere Koffer. Irgendwie musste ich die Tränen zurückhalten, als wir sie im Auto verstauten. Ich wäre am liebsten für immer dortgeblieben.
Das hektische Gedränge, um an Bord zu kommen, war dann wieder sehr stressig, wenn auch nicht so schlimm wie beim ersten Mal. Wir gewöhnten uns wohl langsam daran. Die Motoren zitterten, und der Kai glitt davon. Noch nie in meinem Leben war ich so aufgeregt gewesen. Wenn ein Schiff den Hafen verlässt, ist das einfach ein wunderschöner Moment.
Dieses Mal hatte die Fähre ein kleines offenes Deck am Heck, also ließen wir unsere Koffer in der Obhut unserer älteren Nachbarn und drängten uns hinaus. Lediglich um etwas zu essen zu holen, ging ich später noch einmal hinein. Ansonsten blieb ich die gesamten viereinhalb Stunden dort draußen.
Die Fähre lief Sifnos und Folegandros an, die, nach dem Hafen zu schließen, genauso aussahen wie Serifos. Nur die Farbe der Felsen schien sich zu verändern. Auf Sifnos war er dunkelgrau und auf Folegandros mehr von einem hellen Gelb. Irgendwie war es schade, dass wir nur anlegten und nicht an Land gehen konnten. Ich musste an all die Strände und Kätzchen und Ziegen denken, die wir nun verpassten.
»Wir hätten noch zu mehr Inseln fahren sollen«, meinte ich schließlich, während Folegandros im Dunst verschwand.
»Warum?«, wollte Mum wissen.
Ich zuckte die Achseln. »Warum nicht? Ich meine, wir halten doch sowieso dort. Wir hätten auf jeder einzelnen zwei Nächte verbringen können.«
Mum verzog das Gesicht. »Ich glaube, es ist sehr ermüdend, immer wieder umzuziehen«, sagte sie. »Und ich bin mir sicher, dass dir Santorin gefallen wird.«
»Ich denke einfach nur an all die Dinge, die wir nicht sehen werden. All die Abenteuer, die wir beinahe erlebt hätten. Weißt du, was ich meine?«
Mum nickte. »Also ich bin mir sehr sicher, dass du Santorin mögen wirst. Ich meine, alle sagen, es ist wunderschön, oder etwa nicht?«
Irgendwie klang ihre Stimme aufgesetzt. Ich kannte sie so gut und hatte immer das Gefühl, dass ich es spüren konnte, wenn etwas ungesagt blieb. Ich warf ihr aus dem Augenwinkel einen Blick zu, und ich glaube, sie bemerkte, dass es mir aufgefallen war. »Ich verschwinde mal eben aufs Klo«, sagte sie und wandte sich bereits ab. Ich erinnerte mich an das Gespräch über Drachmen und wie sie dabei genauso vermieden hatte, mich anzusehen. »Wirst du diese Plätze mit deinem Leben verteidigen?« Platz auf dem Deck am Heck war sehr beliebt und stand nur knapp zur Verfügung.
»Das werde ich«, versprach ich ihr.
Als sie zurückkehrte, war ich draufgekommen. Zumindest glaubte ich es. »Bist du schon mal hier gewesen?«, fragte ich sie in der Sekunde, in der sie zurückkehrte.
Mum reichte mir einen Plastikbecher mit Tee. »Hier?«, tat sie verständnislos, als meinte ich hier auf diesem Schiff, mitten auf dem Ägäischen Meer.
»Auf Santorin«, sagte ich. »Du bist schon da gewesen, oder? Du bist schon mal hier gewesen.«
Mum nippte an ihrem Tee. Sie versuchte, Zeit zu gewinnen. »Ich habe es dir doch erzählt«, sagte sie schließlich. »Ich bin mit deiner Tante Abby hier gewesen.«
»Du hast nie gesagt, dass es Santorin war«, entgegnete ich. »Oder Griechenland. Du hast das nicht einmal erwähnt. In meinem ganzen Leben nicht.«
Mum nickte und seufzte. »Oh, ich vermute, irgendwann habe ich es mal getan«, sagte sie vage. »Wahrscheinlich hast du nur nicht zugehört.«
»Nie«, erklärte ich entschieden. »Nicht einmal.«
»Also ich habe es ja gerade gesagt. Jetzt weißt du es, oder nicht? Und jetzt werde ich hineingehen und mich ein bisschen ausruhen. Wie lange haben wir noch?«
Ich warf einen Blick auf mein Smartphone. »Noch anderthalb Stunden, denke ich.«
»Kommst du mit?«, fragte Mum.
Ich rümpfte die Nase. »Nein, ich glaube, ich bleibe noch eine Weile hier.«
Ich sah Mum nach, als sie ging, dann wandte ich mich wieder dem Meer zu. Ich trank von meinem Tee und dachte darüber nach, dass es sich bei Santorin offensichtlich um die Insel handelte, auf der ich gezeugt worden war. Und jetzt fuhren wir dorthin zurück. Es musste einen Grund dafür geben. War das jetzt eine Art Pilgerreise, fragte ich mich, ein Besuch am Grab meines Vaters?
»Haben Sie Feuer?«
Ich drehte mich um und sah mich einem unglaublich attraktiven Mann gegenüber. Er war groß und dunkel, hatte olivfarbene Haut und haselnussbraune Augen. Sein Haar schimmerte so unglaublich, wie ich es zumindest außerhalb einer Shampoo-Werbung noch nie gesehen hatte. Ich bemerkte plötzlich, dass die Sonne und das Meer, die ganze entspannte Umgebung, mich in eine Stimmung versetzte, die man nur als romantisch bezeichnen konnte. Die Sache mit Tom war schließlich schon Monate her.
»Sicher«, erwiderte ich. »Könnten Sie das mal halten?« Ich reichte ihm meinen Tee und wühlte in meiner Handtasche, bis ich mein Feuerzeug und die Zigaretten gefunden hatte.
»Es ist wunderschön, was?«, fragte er, nachdem wir uns beide unsere Zigaretten angezündet hatten. »Und die Luft ist so frisch und salzig.«
Ich nickte. »Abgesehen von all dem Diesel.« Ich deutete auf die Fähre, die in die andere Richtung fuhr und aus deren Schornstein schwarzer Qualm emporstieg.
»Mhm«, sagte der Mann.
»Sind Sie Amerikaner?«, fragte ich.
»Kanadier.«
»Tut mir leid.«
Der Mann zuckte die Achseln. »Ist doch egal«, sagte er. »Abgesehen davon, dass Donald Trump nicht mein Präsident ist.«
»Es gibt hier so viele Inseln«, meinte ich. Wir fuhren gerade an einer weiteren vorbei. »Ich hatte ja keine Ahnung.«
»Ich weiß«, antwortete er. »Man möchte sie am liebsten alle besuchen, oder?«
»Absolut. Fahren Sie auch nach Santorin?«, fragte ich, und wie ich gestehen muss, nicht ganz ohne Hoffnung.
Der Mann schüttelte den Kopf. »Mykonos«, sagte er. »Mit meinem Partner.« Er deutete mit dem Kopf ins Innere des Schiffes. »Er ist seekrank und sitzt drinnen.«
»Ach so«, erwiderte ich und versuchte, nicht zu enttäuscht zu klingen. »Natürlich.«
fleuron
Der Hafen von Santorin unterschied sich deutlich von denen der anderen Inseln. Die Hügel hinter dem Hafen – vielleicht hätte man sie eigentlich Berge nennen müssen – stiegen steil an, und wo auf den anderen Inseln sich um die Häfen ganze Städte gebildet hatten, gab es hier nur einen Anlegesteg und eine Straße, die sich den Fels hinaufwand. Die Stadt war über den ganzen Gipfel verteilt. Aus der Ferne sahen die weißen Häuser aus wie Schnee auf Bergspitzen oder die Sahne auf der Torte.
Mit rund hundert anderen Reisenden rollten wir unsere Koffer den Steg entlang und warteten dann auf unser Taxi nach Oia. Fetzen meiner Gespräche, die ich mit Mum geführt hatte, fügten sich plötzlich zu einem sinnvollen Ganzen zusammen. »Bist du schon mal in Oia gewesen?«, fragte ich, nachdem ich dem Fahrer unsere Adresse auf meinem iPhone gezeigt hatte und unser Taxi losgesaust war.
Mum wandte sich vom Fenster ab und nickte. »In meiner Erinnerung war es schöner, obgleich die Stadt etwas überlaufen war, selbst damals schon.«
Man hatte uns eine Nummer gegeben, die wir anrufen sollten, sobald wir eintrafen, doch Baruch, unser Kontaktmann, ging nicht ans Telefon, deswegen folgten wir seiner unglaublich detaillierten Beschreibung und stiegen genau siebenundsiebzig Stufen neben dem kleinen Laden hinab. Und da war es, wie auf dem Foto, unser Höhlenhaus. Die Tür stand weit offen und der Schlüssel steckte im Schloss.
Die Räume waren aus dem Fels herausgeschlagen. Die Decken waren kugelförmig und besaßen kleine Unebenheiten. Ein Raum ging in den anderen über, der jeweils etwas kleiner war, bis man, tief im Berg, ein kleines, blau gekacheltes Badezimmer erreichte. Die gesamte Einrichtung – Duschkabine, das Waschbecken, die Ablagen – waren aus dem Fels gehauen worden. Nur die Toilette bestand aus normaler Keramik. Man fühlte sich ein bisschen wie in einem Haus von Familie Feuerstein. Ich fand es toll.
»Mir war nicht klar, dass man durch das eine Schlafzimmer gehen muss, um in das andere zu kommen«, bemerkte Mum und zögerte zwischen den beiden Räumen.
»Mir auch nicht«, erwiderte ich. »Aber das ist doch egal, oder? Du solltest das größere nehmen, weil du früher aufstehst.«
»Aber ich werde dich aufwecken, wenn ich mal auf die Toilette muss«, sagte Mum.
»Mich weckt überhaupt nichts auf«, entgegnete ich. »Das weißt du.«
Wir legten die Koffer auf unsere Betten und gingen wieder nach draußen, um den Ausblick zu genießen. Dort standen zwei Liegestühle, die wir aufstellten, damit wir uns setzen und hinaus aufs Meer blicken konnten. Diese Aussicht über die Bucht mit ein paar zerklüfteten Landzungen und Inseln war einfach nur faszinierend.
»Also das ist mal ein Blick«, bemerkte ich.
»Ich wusste, dass es dir gefallen würde«, sagte Mum. »Unglaublich, nicht wahr?«
Ich nickte. »Hast du hier auch mit Tante Abby gewohnt? Ich meine, ist es dasselbe Hotel?«
»Nicht ganz«, sagte Mum. »Wir waren ein kleines Stückchen weiter dort runter, glaube ich.«
Sie deutete nach links.
»Zeigst du es mir?«, fragte ich. »Nicht jetzt, aber irgendwann.«
Mum nickte. »Wenn es noch da ist. Von dort gab es eine Treppe bis hinunter zum Meer, wenn ich mich richtig erinnere. Wir können versuchen, sie zu finden. Da ist nur ein winziger Strand, aber groß genug, um zu schwimmen.«
»Hier gibt es auch richtige Strände«, erwiderte ich. »Große Strände. Ich hab sie in dem Reiseführer gesehen.«
»Aber zu den anderen kommt man nicht zu Fuß«, erklärte Mum. »Ich vermute, es wird einen Busverkehr geben.«
»Du könntest ein Auto mieten«, schlug ich vor.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich in Griechenland Auto fahren möchte!«
»Oder wir könnten uns eins von diesen Mopeds leihen«, sagte ich. Die flitzten über die ganze Insel.
»Ein Moped kann ich definitiv nicht fahren.«
»Aber ich«, erwiderte ich. »Kein Problem.«
Mum lachte. »Nein, ich denke eher nicht«, sagte sie, als sei das der lächerlichste Vorschlag, den ich je gemacht hatte.
Ich beschloss, diese Debatte auf später zu verschieben, stand auf und ging hinein. Ich warf einen Blick in den Kühlschrank, aber er war vollkommen leer.
»Brauchen wir irgendwelche Vorräte?«, erkundigte sich Mum. Sie war mir gefolgt und stand im Türrahmen.
»Ich würde gern einen Tee trinken, das ist alles«, erwiderte ich. »Aber hier gibt es nicht mal einen Teebeutel. Vielleicht gehe ich mal eben nach oben zu dem kleinen Laden.«
Mum nickte. »Schaffst du das allein? Es ist einfach besser, wenn ich hier warte, falls Barak, oder wie immer er heißt, kommt.«
»Baruch, glaube ich, mit U-C-H am Ende. Brauchst du irgendwas?«
»Nein, nein«, sagte Mum. »Nur Tee und Milch.« Sie schien irgendwie ernüchtert zu sein, seit wir angekommen waren. Ich nahm an, dass sie ein bisschen Zeit für sich brauchte, um über den Urlaub vor so vielen Jahren nachzudenken.
»Okay, nur Tee und Milch?«
»Und könntest du vielleicht noch etwas Zahnpasta mitbringen?«, fügte Mum hinzu.
»Tee, Milch und Zahnpasta.«
»Und ein bisschen Brot und Käse vielleicht. Oder ein paar Chips. Irgendwas zum Knabbern – falls wir Hunger kriegen.«
Ich stöhnte. Endlose Einkaufslisten waren eine Spezialität von Mum. »Tee, Milch, Zahnpasta, Brot und Käse also?«, wiederholte ich.
»Und ein bisschen Schokolade. Und Wein? Oh, und natürlich Kaffee.«
»Moment mal«, entgegnete ich und zog mein Smartphone aus der Tasche. »Jetzt fang noch mal von vorn an.«
Sobald ich die Liste in mein Telefon getippt hatte, stieg ich die Treppe hinauf. Ich war ein bisschen enttäuscht von Santorin, wenn ich ehrlich bin. Der Blick war zwar wunderschön, aber ich hatte mich nun mal völlig in unseren Strand auf Serifos verliebt. Ich würde einfach noch mal mit Mum über einen fahrbaren Untersatz reden müssen.
Erneut fragte ich mich, warum wir hier waren. Die Wahl von Santorin, von Oia, war kein Zufall. So viel stand fest. Vielleicht – nur vielleicht – hatte Mum mich hergelockt, um mir von meinem Vater zu erzählen. Wenn ja, wurde es verdammt noch mal auch Zeit.
Der kleine Laden war geöffnet, aber leer. Nicht mal an der Kasse war jemand zu finden. Also wanderte ich durch die Gänge und füllte meinen Korb mit Dingen, die nach Zahnpasta und Schokolade und Tee aussahen. Die meisten Packungen waren auf Griechisch bedruckt, deswegen konnte ich mir nicht völlig sicher sein.
Als ich schließlich nach vorn zum Tresen kam, war immer noch niemand da. Wow, hier herrscht aber Vertrauen! , dachte ich. Ein Junge, er war vielleicht acht, steckte seinen Kopf um die Ecke und sagte: »Warten Sie! Ich hole Baruch.«
Nach ungefähr einer Minute, als immer noch niemand aufgetaucht war, lief ich noch einmal durch den ganzen Laden, für den Fall, dass ich irgendetwas vergessen hatte, und als ich dann wieder nach vorn zurückkehrte, war er da. Er saß hinter der Kasse, als sei er nie fort gewesen.
»Hallo«, sagte er und strahlte mich mit weißen Zähnen an. »Sie sind Becky, oder?«
Ich wollte etwas sagen, aber für ein paar Sekunden versagte meine Stimme. Denn Baruch war so unglaublich schön, dass ich kaum meinen Augen zu trauen wagte. Er wirkte wie eine blauäugige Version des Typs, den ich auf der Fähre gesehen hatte, nur seine Haut war dunkler, und er hatte weniger Gel im Haar. Und ich hoffte, dass er auf Frauen stand. »Äh … ja«, stieß ich schließlich hervor.
»Ich habe Ihre Mutter begrüßt«, erklärte Baruch. »Deswegen war ich nicht hier.«
»Natürlich«, sagte ich und merkte, dass ich rot wurde.
»Willkommen auf Santorin«, sagte Baruch. »Haben Sie alles gefunden, was Sie brauchen?« Er griff nach den ersten Produkten in meinem Korb.
»Oh ja«, erwiderte ich. »Ja, ich habe alles gefunden, was ich brauche.«
Als ich wieder ging, dachte ich bereits darüber nach, was ich sonst vielleicht noch kaufen könnte … welche Vorwände es gäbe, zurückzukommen und mit Baruch zu sprechen.
fleuron
»Ich gehe davon aus, dass du den entzückenden Baruch kennengelernt hast«, rief Mum, kaum dass ich durch die Tür kam. Sie befand sich offenbar im Schlafzimmer.
Ich stellte die Tüten auf die Küchenarbeitsplatte und spähte durch den offenen Durchgang nach hinten. »Das habe ich!«, erklärte ich.
»Er ist hübsch, was?«, meinte Mum lachend und rollte sich auf die Seite ihres Bettes, um mich anzusehen.
»Das ist er!«
»In der Sekunde, als ich ihn gesehen habe«, sagte sie, »dachte ich mir, dass er dir gefallen wird.«
»Bist du okay?«, wollte ich wissen.
»Ich?«, fragte Mum. »Oh … ja … mir geht’s gut. Ich glaube, die Reise hat mich nur ein bisschen müde gemacht. Ich muss nur mal eine halbe Stunde die Augen zumachen, das ist alles.«
»Alles klar«, sagte ich. »Ich auch. Ich bin draußen im Schatten.«
Mum schlief über eine Stunde, aber obwohl ich selbst nur döste, widerstand ich dem Wunsch, noch etwas einkaufen zu gehen. Ich würde mich lächerlich machen, und ich wusste es. Baruch umschwärmten wahrscheinlich in jeder Saison Hunderte von Frauen, und selbst wenn das nicht der Fall war, hatte die Sache ja ohnehin keinen Sinn. Wir fuhren in nicht mal einer Woche wieder ab. Und was sollte mich schon mit einem griechischen Kassierer verbinden? Doch trotz aller Gegenargumente gelang es mir nicht, wenn ich ehrlich bin, mir die Möglichkeit einer kleinen Urlaubsromanze aus dem Kopf zu schlagen. Und ich konnte nicht anders, als mich zu fragen, wie es vor all den Jahren wohl bei Mum gewesen war.
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Kurz nach fünf machten wir uns auf einen Spaziergang durch die Stadt. Alles war makellos, sämtliche Gebäude weißer als weiß. Teure Boutiquen säumten die Straßen. »Als du das letzte Mal hier warst, war das auch schon so?«, wollte ich wissen. Nach Serifos überraschte mich doch all die Opulenz.
»Oh, nein«, sagte Mum. »Nein, jetzt ist es viel schicker. Ich meine, es war auch damals schön, 1994, aber heute ist es in jedem Fall viel touristischer. Und viel exklusiver.«
Die Straßen waren tatsächlich sehr hübsch. Und der Ausblick, den man von überallher genießen konnte, war unglaublich.
»Weißt du, ich glaubte, als ich damals hier war«, meinte Mum und blieb stehen, um ein Foto der Bucht zu machen, »dass dies der schönste Ort auf Erden sei.«
Ich nickte. »Es ist wunderschön.«
»Ja, ich glaube, das trifft immer noch zu«, sagte Mum, senkte ihr Smartphone und bewunderte den Blick. »Jedenfalls bin ich niemals irgendwo gewesen, wo es schöner gewesen ist. Auch wenn das nicht viel zu bedeuten hat.«
In einem Restaurant tranken wir zwei Cappuccino Freddo und in einem anderen aßen wir Eis. »Londoner Preise«, bemerkte ich, als ich das Eis bezahlte.
Mum nickte. »Ja, das hat sich auch verändert«, sagte sie. »Allerdings, um ehrlich zu sein, alles kostete so viele Tausende von Drachmen, dass ich keine Ahnung hatte, wie viel ich eigentlich ausgegeben habe.«
»Deswegen hast du das gesagt«, meinte ich.
Mum nickte und wiegte ihren Kopf, was so viel heißen sollte wie: anscheinend .
»Meine Güte, langsam wird es voll«, bemerkte ich, als wir Mühe hatten, uns durch eine Gruppe deutscher Touristen zu zwängen.
»Ja, die Leute finden sich für den Sonnenuntergang zusammen«, erklärte mir Mum. »Sie kommen von der ganzen Insel hierher. Das hatte ich ganz vergessen. Es soll der tollste Sonnenuntergang auf Erden sein. Um ihn zu sehen, werden sogar Busse organisiert.«
»Und ist er das?«
»Ist er was?«
»Der tollste Sonnenuntergang auf Erden?«
»Er ist schon ziemlich gut«, meinte Mum, »soweit ich mich erinnern kann.«
Obwohl mein Instinkt mir gewöhnlich sagt, immer entgegen der Menge zu laufen, beschlossen wir diesmal, am besten einfach mitzutrotten. Ich hoffte weiterhin darauf, am nächsten Tag noch einen anderen Teil der Insel zu Gesicht zu bekommen, möglichst mit einem Strand, deswegen erschien es mir eine gute Idee, das Beste aus der momentanen Situation zu machen. Sich einfach mal den Sonnenuntergang von Santorin anzusehen und das dann auch abhaken zu können, sonst würde ich das noch direkt unter die Akropolis auf die Liste der Dinge schreiben müssen, die ich nur fast geschafft hatte.
Wir quetschten uns mit Hunderten von anderen Sonnenuntergangsbeobachtern durch die winzigen Straßen. Bis wir die westlichste Spitze von Oia erreichten. Und ich muss zugeben, dass die ganze Geschichte trotz der Menschenmenge, oder vielleicht gerade wegen ihr, ziemlich bewegend war.
Der Himmel färbte sich in allen Schattierungen des Regenbogens. Wir sahen feine orangefarbene Streifen unter den Wolken am Horizont und lila Tupfer am oberen Rand. Es gab ein Band aus türkisfarbenem Blau und Schwaden in Gelb und Rot. Im Osten entdeckten wir sogar eine grau-grüne Wolke wie einen Klecks und überall darüber das tiefe, endlose Blau des Himmels.
Wir Beobachter, die wir für dieses Ereignis, das überall auf dem Planeten jeden Tag geschieht, das wir aber völlig vergessen, wurden in dieses goldene Licht getaucht. Wir beobachteten, wir lächelten dem Feuerball zu und wir sagten sinnlose, banale Dinge wie: »Meine Güte! Das ist hübsch«, in einem Gewirr verschiedenster Sprachen.
Ob nun aus Ehrfurcht vor diesem Lichtspektakel oder aus Respekt vor den anderen sprach jeder leise, und das daraus resultierende Gemurmel fühlte sich warm und freundlich und sicher an. Wir teilten einen Augenblick des Glücks mit Fremden, und ich kann nur sagen, ich liebte jede einzelne Minute.
»Möchtest du was essen?«, fragte Mum, sobald der letzte Schimmer der Sonne hinter einer fernen Insel verschwunden war. Alle hatten sich wieder in Bewegung gesetzt.
»Absolut«, erwiderte ich. »Erinnerst du dich noch an irgendwelche guten Restaurants?«
Mum schüttelte den Kopf. »Selbst wenn ich es täte. Ich glaube nicht, dass es sie noch gäbe.«
»Man weiß nie …«, meinte ich. »Soll ich mal im Internet nachsehen?«
Wieder schüttelte Mum den Kopf. »Versuchen wir es einfach mal auf gut Glück. Einverstanden?«
»Okay«, stimmte ich zu. »Machen wir das.«
Wir folgten der Herde in die Stadt, und als wir sahen, dass sich vor den Restaurants an der Hauptstraße bereits Schlangen gebildet hatten, schlugen wir uns in das Gewirr aus Nebenstraßen, bis wir ein hübsches kleines Restaurant in einem offenen Hof fanden, das von Kerzen erleuchtet wurde.
»Hier?«, fragte Mum.
»Sieht teuer aus«, meinte ich nach einem Blick auf die Speisekarte.
»Es ist unser erster Abend in Oia. Außerdem zahlt heute deine Großmutter.«
»Ein Tisch für zwei Personen?«, fragte eine Stimme, und als ich meinen Blick von der Speisekarte abwandte, sah ich in Baruchs lächelndes Gesicht.
»Oh, hallo!«, sagte Mum. »Sie sind wohl überall! Nicht dass wir uns beschweren wollen …«
Baruch lachte. »Das Restaurant gehört meiner Tante«, sagte er und deutete in die Runde. »Mein Onkel ist krank, daher …«
»Solange er nicht unter einer Lebensmittelvergiftung leidet«, meinte Mum trocken und riss damit einen ihrer seltenen Witze.
»Lebensmittelver…? Oh nein!«, erwiderte Baruch und sah sich nervös um, ob jemand etwas gehört hatte. »Nein, es ist sein Knie. Er hat manchmal starke Schmerzen. Daher …«
Während er uns zwischen den Tischen hindurchführte, sagte er: »Ich habe nur noch diesen Tisch frei. Die anderen, fürchte ich, sind reserviert.«
»Du strahlst ja«, befand Mum, sobald wir saßen. »Alles in Ordnung?«
Ich nickte und versteckte mich, so gut es ging, hinter der Speisekarte.
»Oh, bist du …? Du bist rot geworden!«, sagte Mum, beugte sich vor und zog die Speisekarte von meinem Gesicht fort. »Ich dachte, dir wäre einfach nur heiß, aber du bist rot geworden
Ich verdrehte die Augen. »Danke, Mum«, sagte ich. »Es ist immer eine große Hilfe, wenn darauf auch noch ausdrücklich hingewiesen wird.«
»Ist es wegen ihm?«, wollte Mum wissen und deutete mit dem Kopf in Richtung Baruch. »Hast du dich in ihn verknallt?«
»Hör auf, Mum!«, stieß ich hervor. »Himmel!«
»Nun ja, er hat schon was!«
»Hör auf! Bitte«, flehte ich.
»Du meine Güte«, sagte Mum. »Das ist ja richtig ernst.«
»Du bist unmöglich, das weißt du«, schalt ich sie.
»Ja, aber das liebst du doch an mir«, entgegnete Mum. »Ist es nicht so?«
»Nein«, sagte ich. »Das tue ich nicht.«
»Doch«, erklärte Mum. »Ich glaube, das tust du.«
fleuron
Beim Frühstück am nächsten Morgen im Hotel versuchte ich Mum erneut davon zu überzeugen, dass ich einen Roller mieten sollte. »In Bristol habe ich das ganze Jahr lang einen gehabt«, erzählte ich ihr. »Es ist nicht so gefährlich, wie du vielleicht denkst.«
»Gibt es in Bristol denn so viele griechische Autofahrer wie hier?«, entgegnete Mum.
»Ich will aber was sehen«, erklärte ich. »Ich möchte den Rest der Insel erkunden. Ich möchte an den Strand.«
»Aber hier ist ein Strand«, erklärte Mum, trank ihren Kaffee aus und stand auf. »Wenn das alles ist, worum du dir Sorgen machst, können wir gleich losgehen. Ich packe eben meine Strandsachen zusammen.«
Ich sah ihr nach, als sie in ihrem Raum verschwand, und seufzte. Am Ende würde ich noch meinen Willen bekommen, das wusste ich. Aber ich musste Mum erst all die anderen Möglichkeiten durchgehen lassen. So war es schon immer gewesen.
In dem Moment kam Baruch vorbei. Er winkte mir kurz zu und ich nickte ruhig zurück. Ich kam mir ziemlich lächerlich vor, als sei ich am Abend zuvor von ihm versetzt worden. Oh, er war unglaublich nett zu mir gewesen, hatte sogar mit mir geflirtet. Aber er war mit mir nicht anders umgegangen als mit allen anderen auch. Und ich hatte erkannt, dass er einer dieser Menschen war, der jeden charmiert – der jedem das Gefühl gibt, als habe er eine besondere Verbindung zu ihm. Ein perfektes Talent, um als Kellner zu arbeiten.
Und wie als Beweis dafür winkte ein Mädchen am Nebentisch – es frühstückte mit seinen Eltern und konnte nicht älter als dreizehn gewesen sein – ihm mit den Fingerspitzen zu. Sie war offensichtlich der Meinung, dass Baruch ihr zugewinkt hatte, und sehr wahrscheinlich hatte sie recht.
Der Weg hinunter zum »Strand« – und ich setze die Anführungszeichen mit Absicht – führte erst einmal wieder hinauf zur Straße, dann ein paar Hundert Meter nach rechts und schließlich eine fast identische Treppe hinunter.
»Bist du dir sicher, dass wir das machen wollen?«, fragte ich. Ich fürchtete, dass wir die tausend Stufen hinabklettern würden, nur um dann wieder umdrehen zu müssen.
»Absolut«, entgegnete Mum. »Ich habe damals auch in einem dieser Häuser gewohnt.«
»In welchem?«, fragte ich in der Hoffnung, einen Blick auf das Zimmer zu erhaschen, in dem ich gezeugt worden war.
Mum hielt inne, um über die Frage nachzudenken. »Ich bin mir nicht sicher«, sagte sie schließlich. »Es ist lange her.« Aus irgendeinem Grund glaubte ich ihr nicht.
Die Stufen führten immer weiter und weiter hinab, vorbei an der letzten Linie aus Häusern und dann am bloßen Felsen entlang. Selbst jetzt beim Abstieg brach mir der Schweiß aus. Es waren schon bald dreißig Grad, und die Sonne brannte so heiß, dass es sich anfühlte, als würde meine Haut gebraten, trotz meiner Sonnencreme mit dem Schutzfaktor fünfzig. Schließlich vereinigte sich unser Weg mit einem breiteren. Einige erschöpft wirkende Esel wurden von einer Art griechischem Bauern mit zerknittertem Gesicht den Berg hinaufgepeitscht. Auf den Rücken der Tiere saßen zwei übergewichtige Amerikaner, die sich über die Hitze beschwerten.
»Arme Esel«, sagte ich, als wir an ihnen vorbei waren.
»Ich weiß«, antwortete Mum. »Es hat mir in den Fingern gejuckt, ihm die Peitsche aus der Hand zu reißen und stattdessen ihm den Hintern zu versohlen. Damit man so was übers Herz bringt, müssen einem Tiere wirklich völlig egal sein.«
Als wir das Ende des Pfads erreichten, standen wir an einer hübschen kleinen Bucht mit einem schmalen Kai aus Beton, auf dem sich fünf kleine Restaurants drängten. Der »Strand« war ungefähr zwei Meter breit und befand sich an einem Ende des Kais. »Oh«, meinte Mum, als wir ihn sehen konnten. »Früher war der Strand größer.«
»Genau«, sagte ich. »Ach, schon gut. Wir können ja trotzdem kurz reingehen, oder?« Ich freute mich ziemlich über die Größe des Strandes, um ehrlich zu sein. Ich spürte, dass mein Moped aus dem Land der Wünsche gerade ins Reich der Wahrscheinlichkeit rollte.
Das Wasser war in jedem Fall herrlich. Es war warm genug, um einfach hineinzuwaten, ohne sich lang Gedanken machen zu müssen, zudem kristallklar und voller verrückt aussehender Fische. Man hatte das Gefühl, in einem Aquarium zu schwimmen.
Danach setzten wir uns in eins der Restaurants und Eiscafés. Keine von uns beiden hatte es besonders eilig, sich wieder an den Aufstieg zu machen.
»Ich denke, wenn du wirklich nicht rast«, meinte Mum plötzlich.
»Was meinst du?«
»Ich denke, wir könnten uns eins holen. Kein zu schnelles. Solange du versprichst, langsam zu fahren.«
»Alles wird gut, Mum«, sagte ich. »Und es wird Spaß machen, du wirst schon sehen. Und wenn du schon jemals auf einem Motorrad gesessen hast …«
»Das habe ich«, erwiderte Mum. »Und zwar genau hier. Und deswegen solltest du auf mich hören, wenn ich dich vor den griechischen Autofahrern warne.«