KAPITEL
8
LAURA
Ich war gerade im Begriff wegzuschlummern, als Leif mich aus dieser Zwischenwelt wieder herausriss. Normalerweise genieße ich es, so zwischen Wachen und Schlafen dahinzutreiben, aber an jenem Tag, denke ich, waren meine Gedanken zu aufgewühlt, um sich in irgendeiner Art angenehm anzufühlen.
»Wach auf«, flüsterte Leif. Er hockte rechts neben dem Bett. »Er ist weg.«
»Ist er in der Nähe?«, fragte ich leise. »Warum flüsterst du?«
Er zuckte die Achseln und grinste. »Nein«, sagte er. »Nein, er ist weggefahren. Und ich weiß nicht, warum ich flüstere.«
Ich schwang meine Beine aus dem Bett und gähnte. Im Badezimmer schüttete ich mir etwas Wasser ins Gesicht, dann ging ich zur Tür. »Er ist ganz bestimmt weg?«, wollte ich wissen und starrte hinaus in die flirrende Hitze des Tages.
»Ja. Ich habe gesehen, wie er gegangen ist«, erklärte Leif.
»Aber was ist, wenn er nur frühstücken gegangen ist? Oder Mittag essen? Was ist, wenn er seine Brieftasche vergessen hat und zurückkommt?« Meine Stimme klang immer hysterischer
und geradezu brüchig. Mir wurde klar, dass ich mich zusammenreißen musste.
»Er hat sein Auto genommen«, sagte Leif. »Ich bin ihm bis ganz nach oben gefolgt, und er ist in sein Auto gestiegen. Es ist also alles okay.«
Immer noch nervös trat ich nach draußen und blickte nach links und rechts.
»Möchtest du, dass ich vorgehe?«, fragte Leif, eine Hand am Türpfosten.
»Nein«, entgegnete ich und richtete mich auf. »Nein, es ist alles gut.«
Wir stiegen zwei Treppen hinunter und schlossen Conors Eingangstür auf.
»Soll ich hierbleiben?«, erkundigte sich Leif. »Um Wache zu halten?«
»Ja«, sagte ich. »Am besten, du gehst eine Treppe hoch, dann kannst du den gesamten Zugang überblicken. Wenn du ihn siehst, dann rufst du einfach, als würdest du einen Freund rufen, ruf einfach ›Mary‹ oder irgend so was.«
»Mary?«, wiederholte Leif und wirkte verwirrt.
»Was auch immer«, entgegnete ich. »Nur nicht Laura oder Conor.«
»Ah … okay«, sagte Leif und wirkte ein bisschen aufgeregt. »Wie ein Codewort.«
»Ja«, meinte ich. »Wenn du so willst.«
»Dann rufe ich ›Mary‹«, erklärte er.
»Gut«, erwiderte ich ungeduldig. »Mary ist gut.«
Obwohl das Licht brannte, war zunächst kaum etwas zu erkennen. All die weiße Farbe draußen blendete einen, und meine Augen brauchten ewig, um sich an das Halbdunkel im Innern zu gewöhnen. Aber schließlich zeichnete sich alles ab: die verwickelten Laken, meine Sachen, die immer noch über den Boden verstreut lagen. Mein Koffer in der Ecke … Außerdem
bemerkte ich eine leere Ouzo-Flasche auf dem Nachttisch. Am Abend zuvor war sie mir nicht aufgefallen.
So schnell ich konnte, sammelte ich alles zusammen und stopfte es in meinen Koffer. Nach einer letzten Runde durch den Schlafraum und das Badezimmer zog ich ihn hinter mir her in den Sonnenschein.
»Hast du alles?«, fragte mich Leif, sobald ich wieder bei ihm war.
»Ich glaube schon«, erwiderte ich.
»Willst du vielleicht noch mal nachsehen?«, schlug er vor. »Du willst sicherlich nicht noch einmal zurückkommen.«
Also ließ ich den Koffer bei ihm und suchte das Zimmer ein letztes Mal ab. Ich konnte nichts entdecken.
Als wir wieder in Leifs Zimmer waren, packte ich meinen Koffer auf seinem Bett aus und begann, alles sorgsam zusammenzufalten. Und da bemerkte ich, dass etwas fehlte. Etwas Entscheidendes.
»Meine Gürteltasche«, sagte ich und wühlte in meinem Koffer. »Scheiße, meine Gürteltasche ist nicht da.«
»Ist sie wichtig?«, fragte Leif.
Ich nickte düster. »Ja«, erwiderte ich. »Da ist mein Geld drin. Meine Bankkarte. Und mein
Reisepass
. Himmel!«
Adrenalin schoss durch meine Adern. Ich kehrte in mein altes Zimmer zurück und diesmal suchte ich akribisch. Ich zog Schubladen auf und öffnete Schränke, sah in Conors eigenem Koffer nach und sogar in seinen Taschen. »Der Wichser!«, rief ich schließlich, während ich, die Hände in die Hüften gestemmt, den Raum nach irgendeiner Stelle absuchte, wo ich noch nicht nachgesehen hatte.
Leif, der mitgekommen war, um mir zu helfen, schien ein wenig schockiert, deswegen entschuldigte ich mich.
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte er in seinem lustigen Akzent. »Wichser ist eine ziemlich zutreffende Bezeichnung für diesen Mann, denke ich.«
Wir kehrten in Leifs Zimmer zurück und überlegten eine Weile, was zu tun war.
»Ich habe kein Geld«, erklärte ich. »Ich habe noch nicht mal eine Karte, mit der ich irgendwo Geld ziehen könnte.«
»Ohne einen Ausweis kann dir deine Mutter nicht mal welches schicken, denke ich«, meinte Leif.
»Nein«, räumte ich ein. »Nein, dann bin ich wohl erledigt, oder?«
»Also das Geld ist kein Problem«, erklärte Leif sachlich. »Ich werde dir etwas leihen und …« Er hob eine Hand, um meinen Protest im Keim zu ersticken. »Ich werde dir etwas leihen, was immer du brauchst, und du zahlst es mir zurück, wenn du wieder zu Hause bist. Das ist überhaupt kein Ding. Nur über deinen Reisepass müssen wir uns Gedanken machen.«
Leif kam der hoffnungsvolle Gedanke, dass Conor meinen Pass vielleicht an der Rezeption zurückgelassen hatte. Schließlich hatte er auch seinen eigenen dort abgeben müssen.
Doch der Mann am Empfang – der gleiche Typ, der mir noch ein Zimmer gegeben hatte – schüttelte den Kopf. »Nein, wir brauchen immer nur einen«, sagte er. »Wir haben den von Ihrem Mann.«
»Wissen Sie, wo er ist?«, fragte ich und überging den Hinweis auf meinen Ehemann, weil es mich allmählich langweilte, ihn ständig zu korrigieren.
Er zuckte die Achseln. »Wieso? Haben Sie sich wieder vertragen?«, fragte er.
»Nein«, erwiderte ich. »Nein, nicht wirklich. Absolut nicht.«
Wieder zuckte er die Achseln. »Ein Freund hatte ihn angerufen. Ein Mann namens Mac? Englisch?«
»Mike?«, schlug ich vor.
Der Mann nickte.
»Dann wird Conor erst spät zurück sein.«
»Er hat gesagt, er sei zum Abendbrot wieder da«, erklärte der Mann. »Er hat einen Tisch für zwei Personen in der ersten Reihe reserviert. Möchten Sie ihm eine Nachricht hinterlassen?«
Ich warf Leif einen Blick zu, der fast unmerklich den Kopf schüttelte.
Wir saßen im Restaurant des Hotels und versuchten uns beim Mittagessen einen neuen Plan zu überlegen. Leif aß Fisch in Tomatensoße, während ich an einem Salat knabberte. Mir war so ziemlich der Appetit vergangen.
Es schien wenig Sinn zu machen, mich auf einen früheren Rückflug umzubuchen, solange ich meinen Reisepass nicht zurückhatte. Ich wagte es auch nicht, in ein anderes Hotel umzuziehen, ganz zu schweigen von einem anderen Dorf. Leif saß da und kaute an einem Fingernagel, während ich versuchte nachzudenken. Aber mein Kopf war völlig leer. Irgendwie waren mir die Ideen ausgegangen.
»Es tut mir leid«, sagte ich schließlich, »aber mir fällt einfach überhaupt nichts ein.«
Leif nickte. »Tut mir leid«, sagte er. »Mir auch nicht.«
»Du hast schon gleich am Anfang recht gehabt«, sagte ich.
»Bist du dir sicher, dass du deine Mutter nicht anrufen willst?«
»Ich weiß es nicht«, entgegnete ich und bei dem Gedanken daran kamen mir die Tränen. »Vielleicht.« Wenn alle anderen Möglichkeiten versagten …
Wir stiegen hinauf zur Straßenebene und liefen ungefähr anderthalb Kilometer zu einer Telefonzelle. Leif hatte eine
Telefonkarte, sagte er, und die sei billiger, als im Hotel zu telefonieren.
Obwohl es eigentlich auf der Hand lag, war es mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen, dass Mum vielleicht gar nicht zu Hause war. Ich nehme an, ich war so sehr damit beschäftigt, wie ich ihr erzählen sollte, was passiert war, und wie sie darauf reagieren würde, dass alles andere keine Rolle gespielt hatte.
Nach dem Anruf brauchte ich ein paar Sekunden, um Leif zu entdecken. In respektvoller Entfernung saß er auf einer Mauer und blickte hinaus aufs Meer. »Das ging ja schnell«, sagte er, während ich ebenfalls über die Mauer kletterte und mich neben ihn setzte.
»Sie war nicht da«, erklärte ich und gab ihm die Telefonkarte zurück. Und dann brach der Damm, der meine Tränen bisher zurückgehalten hatte, und sie rannen mir wie eine Springflut über die Wangen. Ich wusste nicht, ob es Tränen der Erleichterung waren, weil ich Mum nun nicht erklären musste, dass ich nicht mit Abby in Cornwall war, sondern mit einem Mann in Griechenland – einem Monster –, oder ob die Tatsache, dass ich nicht hatte mit ihr sprechen können, mir noch deutlicher gemacht hatte, wie allein ich eigentlich war. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem. Denn es waren sehr viele Tränen, die ich weinte.
Etwas unbeholfen legte Leif mir einen Arm um die Schulter. »Es wird schon gut«, sagte er wieder und wieder. »Hey, es wird schon gut. Leif ist bei dir. Leif ist hier.«
Als meine Tränen versiegt waren, fragte Leif mich, was ich nun tun wollte. Ich antwortete ihm, dass ich es nicht wüsste. Mein Hirn schien einfach seine Funktion eingestellt zu haben.
»Vielleicht sollten wir an einen Strand gehen«, schlug er vor. »Ich bin viel gewandert, aber ich war nicht oft schwimmen. Nicht oft am Strand.«
»Aber was ist, wenn wir Conor verpassen?«, fragte ich.
»Er wird heute Abend zurückkommen. Er hat einen Tisch bestellt. Wir haben sechs Stunden Zeit. Schwimmen ist doch besser, als herumzusitzen, oder?«
»Klar«, sagte ich, obwohl ich mir nicht sicher war, ob das stimmte. »Hast du ein Auto, mit dem wir zum Strand fahren können, oder gibt es einen Bus?«
»Ein Motorrad«, erklärte Leif. »Macht echt Spaß. Du wirst schon sehen.«
Wir standen auf und gingen zurück zum Hotel. »Es gibt einen Roten Strand, von dem ich gehört habe«, erzählte mir Leif. »Wir könnten dorthin fahren. Ich glaube, er ist sehr schön.«
»Das ist er«, erwiderte ich. »Ich bin schon da gewesen.«
»Dann einen anderen«, meinte Leif. »Es gibt so viele. Ich frage im Hotel.«
Leifs Motorrad war ein verstaubter grüner Roller. Er gab mir den Sturzhelm und setzte die Motorradbrille auf, um seine eigenen Augen zu schützen. Kaum jemand, den wir sahen, trug einen Helm, aber ich hatte zu viel Angst, um keinen aufzusetzen.
Da es nichts anderes gab, wo ich mich festhalten konnte, schlang ich meine Arme um Leifs Taille. Und das fühlte sich zunächst unglaublich peinlich an – einfach viel zu intim. Aber als er sich in die Kurven legte und die Hügel hinauf und hinunter fuhr, gewöhnte ich mich daran. Er war so unglaublich nett zu mir gewesen, dass ich mich in gewisser Weise ein bisschen in ihn verliebte. Wobei ich, wenn auch verspätet, begriff, dass meine Gefühle für Conor keine Liebe gewesen waren. Ich hatte immer noch keine Idee, wie wirkliche Liebe aussah. Aber Leif war hübsch und lustig. Er lächelte die ganze Zeit. Mit ihm wirkte alles so unglaublich einfach und er war unfassbar nett zu
mir gewesen. Daher fiel es mir schwer, ihn nicht zu lieben. Ich fragte mich, was ich an Conor gefunden hatte. Warum hatte ich nicht einfach stattdessen jemand Nettes treffen können, wie Leif?
Mein Hirn quälte sich mit den Gedanken an Conor und meinen Pass und meine Bankkarte und dann wieder an Conor. Es war ein einziger schrecklicher Kreislauf. Doch während die Landschaft vorbeiraste, gelang es mir doch immer wieder, winzige Eindrücke davon zu erhaschen, wie schön es doch war, auf einem Roller über die staubigen Straßen von Santorin zu sausen.
Wir parkten oben an einem Feldweg und gingen in zehn Minuten entlang bis zum Caldera Beach. Es war eine weitere kleine Bucht, die von rötlichem Felsen eingefasst war. Der Sand dort war fast schwarz.
Es gab Sonnenschirme und Liegen, aber Leif schien sich nicht dafür zu interessieren, und da ich kein Geld besaß, war es auch kaum an mir, einen derartigen Vorschlag zu machen. Stattdessen entschieden wir uns für das ganz entfernte Ende des Strandes, wo die Klippe etwas Schatten spendete, und wir breiteten unsere Handtücher auf dem glühend heißen Sand aus.
»Kannst du schwimmen?«, fragte Leif, zog eine Flasche Wasser aus seiner Tasche und bot sie mir an.
Ich nickte und nahm sie. »Nicht besonders gut«, sagte ich. »Aber ich gehe nicht unter.«
»Ich kann es auch nicht besonders gut«, gestand Leif.
»Ich weiß«, sagte ich. »Ich hab es gesehen!«
Wir planschten im seichten Wasser und ließen winzige Fische an unseren Zehen knabbern. Wir schwammen (ziemlich schlecht) und paddelten zwischen den kleinen Fischerbooten hindurch, die dort vor Anker lagen. Später lagen wir an der Wasserlinie und sanfte Wellen umspülten unsere Füße.
»Erzähl mir von Laura«, sagte Leif schließlich. »Ich weiß überhaupt nichts von ihr.«
Ich erzählte ihm, dass ich Sekretärin sei. Und ich erzählte ihm, dass ich mit meiner Mutter zusammenleben würde.
»Okay«, sagte Leif. »Aber das ist ja nur das, was du eben so tust. Wo du lebst. Was ist mit
dir
?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich richtig verstehe.«
»Okay«, erwiderte Leif. »Was isst du gern?«
»Wow, das ist leicht«, entgegnete ich. »Alles aus dem Meer: Garnelen, Tintenfisch, Jakobsmuscheln, Herzmuscheln, Birnenschnecken. Alles, was in der See lebt.«
»Die Tintenfische in Griechenland sind wunderbar«, erklärte Leif. »Die besten, glaube ich, auf der ganzen Welt. Und was für Musik magst du?«
»Hauptsächlich britische Popmusik«, entgegnete ich.
»Also Blur, Oasis …«
»Ja. Ich mag lieber Blur als Oasis«, sagte ich. In den Neunzigern konnte man nur für die einen oder die anderen sein. »The Verve. The Stone Roses …«
»Die mag ich auch«, sagte Leif. »Und Radiohead. Kennst du Radiohead?«
»
Creep
ist ein toller Song«, sagte ich.
»Ja, ganz toll.«
»Dein George-Michael-Album habe ich auch«, erzählte ich ihm. »Das in deinem Zimmer steht.«
»
Listen Without Prejudice
? Eigentlich gehört es Olav. Aber ich mag es.«
»Aus dem Kopf bekomme ich im Moment nicht diesen Song von Blur«, sagte ich. »Er wird hier überall gespielt. Ich denke, Griechenland hinkt ein bisschen hinterher.«
»
Girls and Boys
?«, erkundigte sich Leif.
Ich nickte.
»Ich liebe das Lied«, sagte er. »Am liebsten würde ich dabei herumspringen und völlig durchdrehen, weißt du?«
Ich sang die ersten paar Takte, und Leif lachte. »Du kriegst sogar den Akzent gut hin«, sagte er.
»Sie sind aus Essex«, ahmte ich ihn nach. »Dort reden sie ein bisschen wie im Londoner Osten, woher ich stamme.«
»Wenn du singst, hast du eine sehr hübsche Stimme. Ich singe eher wie ein … ich weiß nicht … wie
Der Schrei
«, meinte Leif.
»Der Schrei?«
»Es ist ein Gemälde. Von Edvard Munch. Es ist ziemlich berühmt. Ungefähr so.« Er setzte sich aufrecht hin, presste die Hände auf seine Ohren und verzog das Gesicht zu der grotesken Maske eines stummen Schreis.
Ich musste lachen und das, wie es mir vorkam, zum ersten Mal seit Tagen. »Ich kenne es«, sagte ich. »Und tatsächlich weiß ich auch, wen du meinst.«
»So singe ich jedenfalls«, meinte Leif grinsend. »Oder vielleicht ist es auch das, was andere Leute tun, wenn ich singe.«
Um sieben waren wir wieder im Hotel. Als der Concierge uns bestätigte, dass Conor noch nicht zurück war, tranken wir etwas im Restaurant und warteten.
»Was wirst du tun?«, fragte Leif. Der Concierge hatte mir gesagt, dass es an diesem Abend auf keinen Fall ein freies Zimmer geben würde. Nicht einmal ein ungemachtes.
»Ich weiß es nicht«, sagte ich ihm. »Ich muss nachdenken.«
Auf einem der Tische im Restaurant stand ein Reserviert-Schildchen, und ich fragte mich, ob es Conors Tisch sei. Stellte er sich wirklich vor, wir würden bei Kerzenschein zusammen essen? Wie ich ihn kannte, tat er es wahrscheinlich. Offenbar glaubte er, er könne sich mit seinen goldenen Worten wieder
aus der ganzen Sache herausreden. Außerdem hatte er natürlich meinen Reisepass.
Obgleich Conors Tisch leer blieb, wagten wir es nicht zu gehen, um ihn nicht zu verpassen. Deswegen setzten wir uns an einen anderen Tisch im hinteren Bereich und bestellten uns etwas zu essen.
Leif aß Muscheln in Saganaki-Soße, und ich entschied mich für die Tintenfische – ich hatte mich schon den ganzen Tag darauf gefreut.
Der Kellner kam zurück und bot uns Conors Tisch an, von wo man einen viel schöneren Blick hatte, doch nach kurzer Überlegung lehnte ich ab. Ich fürchtete, dass er Leifs Gegenwart als Provokation ansehen könnte – besonders, wenn er mit mir zusammensaß. Und ich fürchtete, dass Conor den dürren Leif mit einem Schlag niederstrecken könnte.
Abgesehen von dem Angebot – das ich akzeptierte –, jeweils das Essen des anderen zu probieren, sprachen wir nur sehr wenig in dieser Zeit. Wir waren beide, denke ich, zu nervös wegen der bevorstehenden Auseinandersetzung.
Als wir schließlich beim Kaffee und beim Nachtisch angekommen waren und es draußen immer dunkler wurde und die Temperaturen fielen, schien die Wahrscheinlichkeit, dass Conor noch auftauchte, immer geringer, deswegen begann ich mir stattdessen Sorgen darum zu machen, wo ich schlafen sollte.
Natürlich hatte ich immer noch den Schlüssel zu unserem Zimmer. Ich hatte nur viel zu große Angst, es zu benutzen. Aber nach ein paar Gläsern Wein und der Abwesenheit anderer Möglichkeiten beschloss ich, mutig zu sein. Wenn ich den Schlüssel im Schloss umdrehte, würde Conor zumindest nicht hereinkönnen.
Nach dem Essen bemerkte ich, dass ich den Rechnungsbetrag auf »unser« Zimmer schreiben konnte.
Leif beharrte darauf, dass ihm das nicht angenehm sei, aber ich erinnerte ihn daran, dass Conor mein ganzes Geld gestohlen hatte. »Ich bin es, die dich einlädt, nicht er«, erklärte ich. »Es ist das Mindeste, was ich tun kann.«
»Okay«, sagte Leif. »Wenn du unbedingt willst.«
Um elf klopfte Leif mutig an unsere Tür. Als deutlich wurde, dass Conor wirklich nicht im Zimmer war, durchsuchte ich noch einmal den ganzen Raum, um sicher zu sein, dass meine Gürteltasche während unserer Abwesenheit nicht vielleicht doch auf magische Weise wiederaufgetaucht war. Sie war es nicht.
Ich trat wieder hinaus ins Mondlicht, wo Leif Wache hielt. »Ich werde hier schlafen, denke ich«, sagte ich zu ihm.
»Du willst
hier
bleiben?!«, fragte Leif deutlich verblüfft.
»Ich fürchte, ich habe keine andere Wahl«, entgegnete ich. »Du hast ja mitgehört, was der Mann an der Rezeption gesagt hat.«
»Du hast keine Angst?«, wollte Leif wissen.
Ich nickte heftig und schluckte schwer. »Aber ich werde den Schlüssel umdrehen. Er wird nicht hereinkommen können. Wenn ich schreie, kommen du und Olav mir doch zur Hilfe, oder?«
Leif kratzte sich hinter dem Ohr. »Nein«, sagte er schlicht. »Nein, ich glaube nicht.«
»Ihr würdet
nicht
kommen, wenn ich euch brauche?«
»Nein, ich glaube nicht, dass du hierbleiben kannst.«
»Mir passiert schon nichts. Ich dreh den Schlüssel um …«, begann ich erneut.
»Er wird ein Fenster einschlagen«, meinte Leif. »Oder die Tür eintreten. Ich habe gesehen, was er für ein Typ ist. Das ist zu gefährlich.«
»Mir passiert nichts, Leif«, beharrte ich. »Er wird …« Aber meine Stimme versagte. Denn ich wusste, Leif hatte recht. Die
Tür eintreten war genau das, was Conor tun würde, wenn er zurückkehrte und nicht wieder in sein Zimmer kam.
»Komm«, sagte Leif und streckte eine Hand aus.
»Wohin?«, fragte ich.
»Wir müssen mit Olav reden.«
Wir fanden Olav im Zimmer. Er hörte im Dunkeln Musik über seine Kopfhörer und rauchte einen Joint.
Leif sprach schnell auf Norwegisch auf ihn ein und fuchtelte mit seinen Händen in der verrauchten Luft herum, bis Olav, der amüsiert wirkte, den Joint ausdrückte und Fenster und Türen öffnete.
»Ich habe nichts gegen den Rauch«, sagte ich zu Leif.
»Aber ich«, erwiderte er. »Das ist mein Schlafzimmer.«
Sobald die Fenster offen standen, wandte sich Olav, ein riesiger Wikinger von einem Mann, mir zu.
»Das ist Laura«, sagte Leif. »Olav.«
Wir schüttelten uns die Hände und sagten schüchtern Hallo.
Leif redete weiter auf Norwegisch, und das Gespräch wurde immer schneller, dann lauter und schließlich äußerst lebhaft. Es schien überhaupt kein Ende zu nehmen, und schließlich ließ ich mich in einen Sessel sinken. Ich versuchte ein- oder zweimal die beiden zu unterbrechen, um herauszufinden, ob sie über mich stritten. Aber Leif wischte meine Einwände einfach beiseite. »Warte einfach«, sagte er. »Bitte.« Und am Ende beruhigte sich alles wieder. Offensichtlich hatten sie einen Waffenstillstand vereinbart.
»Es ist entschieden«, verkündete Leif schließlich.
»Was ist entschieden?«
»Du schläfst in meinem Bett. Und ich teile seins mit Olav.«
Ich protestierte. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie zwei ein Meter achtzig große Männer, von dem der eine auf mich wie ein kleiner Berg wirkte, sich ein Einzelbett teilen sollten. Aber die Männer hatten offensichtlich ihre Entscheidung getroffen.
»Bitte«, sagte Olav. »Ich möchte nicht mehr darüber sprechen. Es ist beschlossen.«
»Ich kann im Sessel schlafen«, bot ich als letzten Versuch an.
»Du wirst in Leifs Bett schlafen«, erklärte Olav. »Und jetzt bitte keine weiteren Diskussionen!«
Und da meine Bemühungen, nett zu sein, ihn zu verärgern schienen, und weil es mir damals Angst einjagte, wenn andere Leute ärgerlich wurden, ergab ich mich in das Unausweichliche. »Okay, vielen Dank«, sagte ich. »Das ist sehr, sehr nett.«
Die Männer knobelten aus, wer wo schlafen sollte. Offensichtlich fanden sie das lustig und es hob ihre Stimmung entschieden.
»Worüber lacht ihr?«, fragte ich.
»Das kann ich dir nicht sagen«, meinte Leif. Man hörte das Grinsen in seiner Stimme. »Das ist zu unanständig.«
»Oh, bitte«, beharrte ich. »Es stört mich nicht.«
Lachend sagte Olav: »Leif sagt, meine Füße sind zu groß. Er meint, sie berühren seine Nase. Ich hab ihm gesagt, das sind nicht meine Füße, es ist mein …«
»Olav!«, unterbrach Leif. »
Bitte.
«
»Schon okay, Olav«, meinte ich lachend. »Ich habe es kapiert.«
»Tut mir leid«, sagte Leif. »Jetzt weißt du, warum ich die Worte von Olav, dem Poeten, nicht übersetzen wollte.«
Olav sagte leise etwas. Es klang rhythmisch und ziemlich hübsch.
»Was bedeutete das?«, wollte ich wissen.
»Das willst du nicht wirklich wissen«, sagte Leif.
Olav lachte aus vollem Herzen. »Hey, zumindest reimt es sich«, meinte er.
»Schon, aber eine Übersetzung braucht sie nicht.«
»Dann nehme ich dich beim Wort«, erwiderte ich. »Gute Nacht, Jungs.«
»Gute Nacht, John Boy«, meinte Leif.
Ich lag eine Weile da, lauschte dem Atem der Männer und überlegte fasziniert, dass es in Norwegen tatsächlich auch
Die Waltons
im Fernsehen gab. Als einer der beiden zu schnarchen anfing, konzentrierte ich mich darauf, ob ich hörte, dass Conor zurückkam, und fragte mich, ob er mir morgen meinen Reisepass zurückgeben würde. Olav würde wahrscheinlich einen Weg finden, ihn dazu zu überreden. Dann fiel mir ein, dass der Concierge ihm vielleicht sagen würde, dass ich bei Leif sei, dass er vielleicht völlig betrunken auftauchen würde, und plötzlich war ich hellwach. Ich hatte eine lange Nacht vor mir.