KAPITEL
10
LAURA
Als ich am Morgen aufwachte, fühlte ich mich schrecklich. Obwohl es mir irgendwann gelungen war einzuschlafen, war meine Nacht so schlecht gewesen, dass ich mich überhaupt nicht erholt fühlte. Ich kroch geradezu ins Badezimmer, wo mir ein Blick in den Spiegel bestätigte, dass ich mich nicht täuschte. Ich sah nicht besser aus, als ich mich fühlte.
Als ich zurück ins Schlafzimmer kam, um mich zu schminken und anzuziehen, bemerkte ich überrascht, dass Olavs Bett leer war. Ich war davon ausgegangen, dass die Jungs noch schliefen.
Obgleich kein Weg daran vorbeiführte, mit Conor zu sprechen, um meine Sachen zurückzubekommen, hatte ich unglaublich viel Angst davor, ihn wiederzutreffen, ganz besonders allein. Während ich nervös die Stufen zum Hotel hinaufstieg, wusste ich einfach nicht, ob ich ihm über den Weg laufen wollte oder lieber nicht. Aber er war nicht auf den Treppen und er war auch nicht im Restaurant. Doch ich entdeckte Leif ganz am anderen Ende des Raums. Zwischen den Tischen hindurch ging ich zu ihm.
»Hallo!«, sagte er. »Du hast mich gefunden! Ich wollte dir eine Nachricht hinterlassen, aber in der Dunkelheit habe ich keinen Stift gefunden.«
»Schon gut«, erwiderte ich und blickte mich erneut nervös im Restaurant um.
»Er ist nicht hier«, sagte Leif, als er bemerkte, wie sehr ich unter Stress stand. »Ich habe am Empfang gefragt, und er ist nicht nach Hause gekommen.«
Ich holte mir Croissants und einen Joghurt und ging wieder zurück zum Tisch. Ein Kellner goss mir Kaffee ein. Leif aß verschiedenen Käse und ein wenig Räucherlachs, was mir als Frühstück ziemlich seltsam vorkam, aber als ich ihn darauf ansprach, sagte er, das sei bei ihm zu Hause völlig normal.
»Wo ist Olav?«, erkundigte ich mich, sobald ich einen Schluck von meinem Kaffee genommen hatte und entschied, dass er noch zu heiß war. »Schon wieder wandern?«
Leif nickte. »Sie laufen heute von Perissa nach Megalochori«, sagte er. »Ist ein langer Marsch. Aber ein guter.«
»Du klingst traurig«, meinte ich. »Treibt es dich in den Wahnsinn, auf mich aufpassen zu müssen?«
»Nein, ich bin einfach nur müde«, erwiderte Leif. »Ich habe nicht gut geschlafen.«
»Olav schnarcht«, stellte ich fest.
Er nickte und zuckte gleichzeitig die Achseln. »Er hat mich immer getreten«, berichtete er. »Ins Gesicht.«
»Das tut mir so leid«, entschuldigte ich mich. »Es wird nicht wieder passieren. Bis heute Abend finden wir eine andere Lösung. Aber du hättest wirklich auch wandern gehen können. Du musst nicht den ganzen Tag bei mir bleiben.«
»Heute werden wir deinen Reisepass zurückholen«, erklärte Leif. »Und morgen gehe ich wandern.«
»Vielleicht komme ich sogar mit«, sagte ich. »Wenn du dann nicht die Nase voll hast von mir.«
»Das«, entgegnete Leif, »ist, glaube ich, unmöglich.«
Ich war mir nicht sicher, ob er meinte, dass es nicht möglich sei, die Nase voll von mir zu haben, oder nicht möglich, mit ihnen zu wandern. Aber es war mir zu peinlich zu fragen.
Nach einem gemütlichen Frühstück kehrten wir auf Leifs Terrasse zurück, wo wir im Schatten des Sonnenschirms saßen und uns unterhielten. An diesem Morgen war es windig und deutlich kühler als an den Tagen zuvor. Der Sonnenschirm flatterte im Wind und wurde ein- oder zweimal fast davongeweht.
Leif erzählte mir ein bisschen über sich. Er sagte, er würde Ingenieurwissenschaften studieren. »Ich bin ein bisschen ein Nerd«, sagte er. »Weißt du, Computer und Physik und all das Zeug.«
Er erzählte mir auch ein wenig von Bergen in Norwegen, wo er lebte. Er sagte, es sei dort sehr schön.
Als uns die Themen ausgingen, holte Leif von drinnen ein Buch, das er gerade las. Ich bat ihn, mir etwas auf Norwegisch vorzulesen, und konnte mich dann kaum halten vor Lachen, als er es tat.
»Klingt das wirklich so komisch?«, wollte er wissen.
»Tut mir leid«, antwortete ich, »aber ja. Irgendwie tut es das. Du klingst wie der schwedische Koch in
Die Muppets
.«
Er sagte mir, es sei ein Geschichtsbuch. Darin ginge es um Griechenland während des Zweiten Weltkriegs. »Die Einheimischen haben hier Fürchterliches durchgemacht«, berichtete er mir.
»Ich glaube, jeder hat Fürchterliches durchgemacht«, sagte ich.
»Ja, aber hier, auf diesen Inseln, war es ganz besonders schrecklich. Die Griechen hatten kein großes Durchhaltevermögen, weißt du? Und die Deutschen haben viele, viele Griechen getötet.«
Ich nickte. Ich versuchte, mir diese wunderschönen Inseln zu Kriegszeiten vorzustellen, aber es gelang mir nicht.
Ich holte mir meinen eigenen Roman, und bis zum Mittagessen saßen wir einfach Seite an Seite und lasen. Gelegentlich sah Leif zu mir herüber, und wenn ich innehielt und den Blick erwiderte – falls ich nicht gerade zu versunken war –, erzählte er mir etwas aus seinem Buch: geschichtliche Fakten darüber, wie Churchill versprochen hatte, Griechenland zu verteidigen, aber von Roosevelt überstimmt wurde, oder wie die Deutschen Menschen zusammengetrieben und erschossen hatten als Vergeltung für die Landung von britischen Truppen auf Santorin.
Ich saß dann da und stellte mir all das einen Augenblick vor und fühlte mich trotzdem auf seltsame Weise wohl, als seien wir ein altes Paar, das in Sesseln vor dem Kamin saß, und keine Fremden auf einer abgelegenen griechischen Insel mit einer fürchterlichen Vergangenheit, ehe ich wieder zu meinem Buch zurückkehrte.
Conor kam an diesem Tag nicht mehr zurück, und am Abend kaute ich bereits an meinen Nägeln und machte mich damit verrückt, meinen Reisepass wahrscheinlich nie wieder zurückzubekommen. Leif weigerte sich, darüber zu sprechen, was passieren könnte, wenn ich ihn nicht wiederbekam, bevor ich zurückfliegen musste. Er beharrte einfach weiterhin darauf, dass alles gut werden würde. »Er muss zurück zum Hotel kommen«, sagte er mir. »Und wenn nur, um seinen eigenen Pass zu holen – wenn er nur die Rechnung bezahlen will und seine Sachen holen. Er
muss
zurückkommen.«
Aber ich hatte schreckliche Angst, wir würden ihn verpassen – dass uns der Concierge eines Morgens mitteilen würde, er sei kurz da gewesen und hätte meinen Pass mitgenommen.
Leif überzeugte mich, dass es keine besonders gute Idee sei, noch mehr Essen für zwei auf Conors Rechnung schreiben zu
lassen, und obwohl ich wütend war, begriff ich, dass er recht hatte. Es half mir nicht weiter, den Mann zu provozieren, wenn ich etwas äußerst Wichtiges von ihm zurückhaben wollte.
Auf mein Drängen hin (weil ich wegen der Kosten ein schlechtes Gewissen hatte) picknickten wir auf Leifs Terrasse sowohl zum Mittag- als auch zum Abendessen. Und wieder fühlte es sich seltsam vertraut an, wenn wir gemeinsam zu dem kleinen Laden gingen, gemeinsam Salatblätter wuschen und nebeneinander Tomaten in Scheiben schnitten. Ich bekam allmählich das Gefühl, ihn schon seit Ewigkeiten zu kennen.
Als Olav gegen elf zurückkam und ohne ein weiteres Wort (oder eine Dusche) auf sein Bett fiel, bestand ich darauf, mit einer Decke auf dem Sessel zu übernachten. Und nach einem kurzen Gerangel gab Leif nach und ließ mir meinen Willen.
Am nächsten Morgen fühlte ich mich ziemlich krank. In meinem Kopf schien sich alles zu drehen, wenn ich aufstehen wollte oder mich hinsetzen oder vorbücken. Ich hatte dunkle Ringe unter den Augen, die selbst mein Make-up kaum verbergen konnte.
»Dieser Mike«, fragte Olav beim Frühstück, »wo ist er?«
»Er ist in Fira«, erklärte ich. »Ich weiß, wo er säuft, aber ich weiß nicht, wo er schläft.«
Olav nickte.
»Glaubst du, dass Conor immer noch bei ihm ist?«, fragte ich.
Olav zuckte die Achseln und rümpfte die Nase. »Vielleicht weiß er, wo man ihn finden kann«, sagte er. »Denn nur hier auf ihn zu warten, scheint uns nicht weiterzubringen.« Er klang genervt, und ich vermutete, dass er allmählich wütend wurde, weil ich Leifs ganze Zeit für mich beanspruchte. Zum ersten Mal ging mir der Gedanke durch den Kopf, dass Leif und Olav vielleicht schwul waren. Vielleicht waren sie ein Paar. Aber
warum würden sie dann so seltsam auf dem Bett schlafen? Nur mir zuliebe? Aber das wäre doch verrückt, oder nicht?
»Wo lebst du, Olav?«, fragte ich und versuchte, meine Theorie zu untermauern.
»Wie bitte?«, fragte er, offensichtlich verwirrt durch den plötzlichen Themenwechsel.
»Ich habe mich nur gefragt, wo du lebst«, wiederholte ich.
»In Bergen, mit Leif!«, sagte er, als läge das völlig auf der Hand.
»Klar«, sagte ich. »Tut mir leid.«
Sobald wir Olav nachgewinkt hatten, der heute von Emporio nach Kamari laufen wollte, sagte Leif: »Wir geben ihm noch bis Mittag, und dann versuchen wir es in Fira. Okay?«
Ich nickte. Mein Flug nach Hause ging in vier Tagen, und ich wurde ausreichend nervös, um ein bisschen egoistisch zu agieren. Ich versuchte Leif nicht zu überreden, heute wandern zu gehen. Es war mir irgendwie nicht möglich, zumindest so zu tun, als würde ich seine Hilfe an diesem Tag nicht brauchen.
Wir verließen das Hotel um halb zwei. Es war offenkundig, dass Conor nicht zum Mittagessen erscheinen würde, und ich dachte, wir könnten ihn vielleicht in der Taverne abfangen, wenn wir nicht zu lange warteten. Also kletterte ich mal wieder auf Leifs kleinen Roller, und wir sausten den Kamm des Felsens entlang. Die Windböen warfen unseren kleinen Roller von einer Seite auf die andere, und ich denke, ich habe öfter als nur einmal geschrien.
Die Taverne in Fira war krachend voll, aber weder Conor noch Mike waren dort.
Ich ging hinein, um vielleicht den Kellner zu finden, der uns bedient hatte, aber auch er war nicht dort. Ich versuchte,
einen älteren Mann an der Kasse zu fragen, ob er sich an mich oder Conor erinnern konnte, aber er blickte mich nur leer an. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er verstand, was ich sagte.
Als wir zurück zu Leifs Roller gingen, fragte er mich, was ich als Nächstes tun sollte. Genau in diesem Moment fiel mir ein Mann ins Auge, der vorbeikam, und ich drehte mich nach ihm um und sah, dass es ihm offenbar nicht anders erging, weil er sich kurz umguckte.
»Kenne ich …?«, rief ich. Dann rannte ich hinter ihm her, um ihn einzuholen. »Entschuldigen Sie, kenne ich Sie nicht?«
»Ja?«
»Habe ich Sie nicht neulich Abend gesehen?«, hakte ich nach, nachdem er stehen geblieben war. »Waren Sie nicht mit Mike zusammen?«
»Hä?«, antwortete der Mann und sein Kopf schwankte ganz komisch von einer Seite auf die andere. »Nicht mit Mike, nein.«
»Aber Sie sind doch Paolo, oder nicht?«
»Pablo«, antwortete er.
»Tut mir leid. Ähm … wissen Sie vielleicht, wo Mike ist, Pablo? Oder Conor? Wir suchen sie schon die ganze Zeit, aber wir können sie nicht finden.« Ich deutete auf das Restaurant.
Pablo hob eine Augenbraue. »Das überrascht mich nicht«, sagte er. »Die haben dort jetzt Hausverbot.«
»Sie haben Hausverbot in dem Restaurant?«
Pablo schüttelte den Kopf. »Eine Schlägerei«, sagte er. »Mike hat einem Mann einen Stuhl übergezogen. Und Conor hat jemandem die Nase gebrochen.«
»Himmel«, stöhnte ich. »Wann denn? Wann ist das passiert?«
»Letzte Nacht«, erwiderte Pablo. »Eigentlich eher heute Morgen.«
Leif erschien an meiner Seite, und als Pablo ihm einen fragenden Blick zuwarf, reichte Leif ihm die Hand. »Leif«, sagte er.
»Das ist Pablo«, erklärte ich. »Er war mit Conor und mir neulich Nacht da drin.«
»Weißt du, wo dieser Mike jetzt ist?«, fragte Leif.
Fast unmerklich schüttelte Pablo den Kopf. »Irgendwo da runter«, sagte er und deutete vage in die Richtung, in der die Frauen an jenem Abend verschwunden waren. »Das ist alles, was ich weiß. Er ist nicht mein Freund.«
»Nein«, erwiderte ich. »Nein, meiner ist er auch nicht. Hast du irgendeinen von denen gesehen? Sheila vielleicht? Seine Frau.«
Erneut schüttelte Pablo den Kopf. »Sie sind abgereist«, meinte er. »Ich glaube, nach Mykonos.«
»Aber Conor und Mike sind immer noch hier?«
Pablo zuckte die Achseln. »Letzte Nacht waren sie es.«
Ich seufzte tief.
»War sonst noch jemand da?«, wollte Leif wissen. »Irgendjemand, den wir fragen könnten?«
Pablo räusperte sich. Unbehaglich trat er von einem Fuß auf den anderen. »Nicht wirklich«, sagte er.
»Nicht wirklich?«
»Bitte«, beharrte Leif. Genau wie mir war ihm aufgefallen, dass irgendetwas noch nicht gesagt war.
»Zwei … Frauen«, berichtete Pablo nun. »Zwei … Mädchen.«
»Zwei Mädchen?«
»Tut mir leid«, meinte Pablo.
»Kennst du ihre Namen?«, fragte ich. »Wo sie wohnen? Irgendetwas?«
»Candy?«, sagte Pablo, als sei es eine Frage. »Candy war die Blonde. Die andere hieß … Althea oder Anthea oder so ähnlich.«
Ich nickte langsam und verarbeitete die Information.
»Es tut mir leid, aber ich denke, die beiden sind …
Putas
…«, sagte Pablo und starrte auf seine Füße.
»
Putas
?«, wiederholte ich
»Prostituierte«, übersetzte Leif. »Das stimmt doch, oder?«
»Ja, vielleicht«, sagte Pablo. »Ja, es tut mir leid, aber … ja, ich glaube schon.«
Nachdem wir uns von Pablo verabschiedet hatten, gingen wir die Hauptstraße entlang, die von einem Ende von Fira zum anderen führte, einer hübschen, wenn auch sehr touristischen Stadt. Es gibt dort einiges zu sehen, doch obwohl wir eine gute halbe Stunde zu Fuß unterwegs waren, erinnere ich mich nicht mehr an besonders viel. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, Conors Gesicht in der Menge auszumachen.
Als wir zurück zu Leifs Roller kamen, schlug ich vor, etwas in der Taverne zu essen, weil ich hoffte, Conor dort zu sehen. Aber Leif wies mich sofort darauf hin, dass ich nicht logisch dachte. Denn wenn Conor in der vorangegangenen Nacht eine Prügelei gehabt hatte, würde das der letzte Ort sein, wo er sein Gesicht zeigen würde.
»Er hat sich wahrscheinlich irgendwo mit Candy verkrochen«, meinte ich verbittert.
Leif verzog das Gesicht, widersprach aber nicht. Stattdessen sagte er mir, dass seine Wandergruppe sich zum Mittagessen in Exo Gonia treffen würde, und schlug vor, dass wir uns ihnen anschlossen.
Ich wollte gerade Nein sagen – ich hatte wirklich keine Lust auf Gesellschaft –, als ich begriff, dass es Leif war, der gern seine Freunde sehen wollte. Ich hatte seine Wanderferien ruiniert und ihn von seiner Gruppe isoliert. Mit allen zusammen zu essen, war das Mindeste, was ich tun konnte.
Mit dem Roller schlängelten wir uns den Berg hinauf, und der Wind in meinem Gesicht und der atemberaubende Blick und dazu das Gefühl, mich an Leif zu klammern, wenn er den kleinen Roller um die engen Kurven zog, blies mir das Hirn durch. Ich begann mich ein wenig besser zu fühlen. Die Stadt befand sich hoch oben in den Bergen, mit grandiosem Blick hinaus über die grünen Täler und – ganz in der Ferne – das blaue Meer und den Himmel am Horizont. Eine Seite wurde flankiert von einem noch höheren Punkt – Pyrgos, das am höchsten gelegene Dorf der Insel.
Während wir meinen Helm im Topcase einschlossen, deutete Leif auf Pyrgos und fragte: »Was hieltest du von einem Spaziergang nach dem Essen?«
»Da hoch?«, fragte ich ungläubig.
»Ja«, antwortete Leif. »Ich wette, der Ausblick ist umwerfend.«
»Oh, absolut«, lachte ich, denn ich nahm an, dass es ein Witz sein sollte. »Ich kann mir kaum vorstellen, was ich lieber machen würde.«
Wir schlenderten ungefähr zwanzig Minuten durch die hübschen Straßen von Exo Gonia. Die kleine Stadt war viel ruhiger und weit weniger von Touristen überrannt als alle anderen Plätze, an denen ich gewesen war. Doch obwohl sie klein war, gelang es uns nicht, Leifs Wandergruppe zu finden. Also setzten wir uns schließlich in eine Taverne, um etwas zu essen.
Leif aß eine Art Lammauflauf, während ich einen Granatapfelsalat verspeiste, wobei mich all die kleinen Kerne nicht sonderlich beeindruckten. Zum Nachtisch teilten wir uns ein unglaublich süßes Gericht, das wie eine mit Käse gefüllte Baklava schmeckte. Sie kam mit einem frischen Klacks Kerne in Form von Granatapfelmarmelade, und als wir sie verzehrt
hatten, würde ich auch nie im Leben wieder einen davon zu mir nehmen müssen.
Nach dem Essen gingen wir zurück zum Roller. Leif ließ auf der Suche nach seinen Freunden immer noch den Blick über die Hügel streifen, und ich hatte ein schlechtes Gewissen, dass es uns nicht gelungen war, sie zu finden. Doch als wir den Roller erreichten, blieb Leif nicht stehen. Er ging einfach weiter.
»Leif!«, sagte ich und deutete auf unser Gefährt. »Da steht der Roller!«
»Hm?«, antwortete er gedankenverloren. »Oh, ich weiß. Aber zuerst gehen wir doch da rauf, oder nicht?«
»Oh«, entgegnete ich und begriff, dass er zuvor keineswegs gescherzt hatte. »Ist es dafür nicht ein bisschen zu heiß?« Obwohl es windig war, lag die Temperatur bei dreißig Grad.
»Nein«, erwiderte Leif und beschleunigte seinen Schritt. »Das klappt schon.« Und weil er in den letzten Tagen so viel für mich getan hatte und weil es uns nicht gelungen war, seine Freunde zu finden, widersprach ich nicht.
Die ersten fünfzehn Minuten hasste ich es einfach nur. Ich hasste es wirklich. Ich war immer noch in vielerlei Hinsicht wie ein Kind, und dazu gehörte, noch nicht erkannt zu haben, dass irgendeine Art von körperlicher Ertüchtigung vielleicht ganz angenehm sein könnte. Wenn man kein sportliches Kind ist, kann es ziemlich lange dauern, bis man das herausfindet, und soweit es mich betraf, gab es nur einen Grund, irgendeinen Weg zu Fuß zurückzulegen – wenn dort kein Bus fuhr.
Doch während ich an diesem Tag neben Leif hertrottete, vorbei an Bauernhäusern und Ziegen, vorbei an ein paar Kindern, die im Garten spielten, und einer Frau, die ihre Pflanzen goss, und als dann die Straße immer weiter hinaufführte und der Ausblick immer beeindruckender wurde, begriff ich allmählich, worum es eigentlich ging. Denn ja, ich war verschwitzt, und ja, freiwillig wäre ich bei dieser Hitze nicht hier
hinaufgestiegen. Aber mein Kopf, der sich praktisch ununterbrochen mit Conor und meinem Reisepass auseinandergesetzt hatte, begann sich genügend zu klären, damit ich irgendwie das Gefühl bekam, tatsächlich im Hier und Jetzt zu sein. Ich begann es zu genießen, wenn auch nur für den Moment, dass ich hier auf der höchsten Spitze einer wunderschönen griechischen Insel stand, und das mit dem sportlichen, lässigen Leif.
Pyrgos war einfach prachtvoll – ein Labyrinth aus mittelalterlichen Straßen, die, wenn sie sich hier und dort öffneten, einen atemberaubenden Ausblick auf das gesamte Santorin zeigten.
Dort war eine wunderschöne Kuppelkirche, die wir besuchten und uns flüsternd unterhielten, während wir uns umsahen, und der höchste Punkt der Insel in den Ruinen einer Burg, über die Leif mir sagte, dass sie aus dem fünfzehnten Jahrhundert stammte. In einem Café machten wir Pause, leerten unsere Gläser mit Cola in einem Zug und stiegen noch weiter hinauf, um alles zu erkunden.
Danach wanderten wir um die Außenmauern und blieben zwischendurch stehen, um mit Leifs Kamera Fotos voneinander vor der herrlichen Aussicht zu machen. Als er vorschlug, aufzubrechen, merkte ich, dass ich das eigentlich noch gar nicht wollte.
»Aber dein Pass«, entgegnete Leif. »Wir müssen ihn doch holen?«
Ich seufzte. Heute schien mir einfach nicht der richtige Tag zu sein, um mich diesem Monster zu stellen, und ich wusste eigentlich gar nicht, warum. Vielleicht hatte ich nur keine Lust mehr, ihm nachzujagen, oder ich spürte in gewisser Weise, was kommen würde. Vielleicht hatte es mir einfach gefallen, eine Weile mal an etwas anderes zu denken.
»Das wird leicht«, meinte Leif, weil er mein Zögern fälschlicherweise für Bequemlichkeit hielt. »Es geht nur abwärts.«
»Ich kann mich noch nicht losreißen«, entgegnete ich. »Es ist einfach so friedlich hier oben.«
Wir standen nebeneinander und blickten in die Ferne zu einer Insel, die am Horizont in einem Meer aus zartem Blau schwamm. Über unseren Köpfen flatterte an einem Mast eine griechische Flagge.
»Dann lass uns noch ein bisschen bleiben«, schlug Leif vor und setzte sich mit dem Rücken zur Burgwand.
»Mit dir ist immer alles so einfach«, stellte ich fest und blickte hinunter in sein lächelndes Gesicht.
Er zog ein verwirrtes Gesicht. »Du denkst zu viel«, sagte er. »Du möchtest noch etwas bleiben, also bleiben wir noch etwas. Oder?«
Ich lachte und sagte: »Ich denke, du hast recht. Ich zerdenke die Sachen.« Ich ließ mich neben ihm ins Gras gleiten. Nach nicht mal einer Minute überkam mich eine unglaubliche Müdigkeit. Fast zwei Nächte lang hatte ich kaum geschlafen, wenn überhaupt. Als ich mich im Gras ausstreckte, tat Leif es mir schnell nach.
»Hier«, sagte er und schob mir seinen Rucksack hin. »Als Kopfkissen.«
»Nein, nimm du ihn«, erwiderte ich.
»Nein, du.«
»Bitte«, beharrte ich, und schließlich gab Leif nach und schob ihn sich unter den Kopf.
»Du kannst deinen Kopf auf mich legen, wenn du möchtest«, bot er an. »Du kannst mich als Kopfkissen benutzen.«
»Nein danke. Ich liege bequem.«
Ich brauchte nicht einmal eine Minute, um meine Schüchternheit in dieser Hinsicht zu überwinden. Denn ich lag überhaupt nicht bequem. Der Boden war rau und steinig.
»Hast du wirklich nichts dagegen?«, fragte ich, während ich herumrutschte.
»Absolut nicht«, sagte Leif. »Ich glaube, ich schlafe sowieso schon.«
»Ich auch«, erwiderte ich. »Ich bin völlig zerschlagen.«
Ich schloss die Augen und lauschte der Fahne, die über uns im Wind flatterte, und dem Zwitschern eines Vogels ganz in der Nähe und dem gelegentlichen Pfeifen des Windes, wenn er um den Flaggenmast strich, bis mich schließlich das beruhigende Auf und Ab von Leifs Brust in einen überraschend tiefen Schlaf schickte.
Erschrocken wachte ich auf. Die Sonne war weit genug herumgewandert, sodass wir nicht länger im Schatten lagen, sondern bereits von der frühen Abendsonne gewärmt wurden.
»Bist du wach?«, erkundigte ich mich sanft.
»Ja«, erwiderte Leif und ich spürte die Vibration seiner Stimme durch seine Brust bis in meinen Hinterkopf.
Ich setzte mich auf. »Ich glaube, ich habe im Schlaf gerade etwas begriffen.«
»Im Schlaf?«, fragte Leif. Er kaute auf einem Grashalm, und der Halm zuckte auf und ab, während er sprach. Er rollte sich auf die Seite, um mich fragend anzusehen.
»Haben wir heute den Ersten oder den Zweiten?«, fragte ich.
»Den Zweiten«, erwiderte Leif. »Den zweiten September. Warum?«
»Bist du sicher?«
»Ja. Es ist der zweite. Wieso, was ist los?«
Ich lachte. »Heute ist mein Geburtstag«, sagte ich. »Und ich habe es vergessen. Wie verrückt ist das denn?«
»Du hast Geburtstag?«, wiederholte Leif.
Ich nickte. »Ich werde heute sechsundzwanzig.«
»Huh«, meinte Leif. »Dann hast du mich eingeholt.«
»Du bist auch sechsundzwanzig?«
Leif nickte. »Aber bald siebenundzwanzig.«
»Ich hatte mich eigentlich darauf gefreut, es hier auf Santorin zu feiern«, sagte ich nachdenklich. »Ich glaube nicht, dass Conor überhaupt daran gedacht hat. Er ist viel zu sehr mit Candy beschäftigt.«
»Hah«, sagte Leif und setzte sich auf. »Jetzt müssen wir aber etwas wegen deines Geburtstags unternehmen.«
Ich lachte leise. »Nein. Nein, das müssen wir nicht. Aber aus irgendeinem Grund möchte ich mich erst morgen mit Conor auseinandersetzen.«
»Er ist wahrscheinlich sowieso nicht da«, sagte Leif. »Und heute machen wir irgendetwas Besonderes. Ich habe eine Idee. Wenn du einverstanden bist.«
»Wenn es eine Idee ist, die nichts mit Conor zu tun hat«, meinte ich, »dann ja, dann bin ich einverstanden.«
»Hat es nicht.« Leif sprang auf die Füße. »Das hat es wirklich nicht.« Er half mir auf. »Komm mit. Es wird dir gefallen. Gehen wir.«
Wenn der Aufstieg eine Herausforderung dargestellt hatte, war der Weg nach unten die pure Freude.
Natürlich war er mühelos, aber noch etwas anderes hatte sich verändert – etwas Undefinierbares. Vielleicht lag es daran, dass wir beide etwas geschlafen hatten, oder vielleicht hatte es etwas damit zu tun, dass ich beschlossen hatte, Conor an diesem Tag nicht mehr zu sehen. Was immer es auch war, meine Laune stieg und ich erlebte einen seltenen Moment des Hochgefühls. Ich war einfach rundum glücklich.
Leif, der das auch zu spüren schien, sang »Happy Birthday« für mich, zuerst auf Englisch und dann auf Norwegisch. »Und ihr macht das nicht?«, fragte er hinterher und ahmte erneut
Den
Schrei
nach.
»Oh, deine Stimme ist gar nicht so schlecht«, meinte ich lachend, obgleich sie das in Wirklichkeit absolut war.
Dann – meine Ohren bluteten offensichtlich noch nicht – versuchte er nicht nur Blurs
Girls and Boys
zu singen, sondern dazu noch mit einem Essex-Akzent.
»Es heißt
followin’
«, erklärte ich, »nicht
following
. Und
jungaw
, nicht
jungle
.«
Nachdem er das Gefühl hatte, die Grundlagen von Damon Albans Akzent begriffen zu haben, sangen wir es zusammen. Wir kamen an einer Frau vorbei, die gerade ihre Wäsche aufhängte, und als sie uns anblickte, als seien wir unzweifelhaft verrückt, sangen wir nur noch lauter.
Ich erinnere mich daran, wie ich zwischendurch immer wieder Leif einen Blick zuwarf, mit ihm lachte und sang und zum ersten Mal bemerkte, wie gut er aussah. Er besaß nicht das gleiche machomäßige gute Aussehen oder den frechen Charme, wie er Conor eigen war. Die Leute auf der Straße drehten sich nicht in der gleichen Weise nach ihm um, und das kam zum Teil aus eben jenem Grund, der mir zunächst gar nicht aufgefallen war. Er hatte eher etwas Warmes und Beruhigendes an sich, etwas, das er mehr und mehr ausstrahlte, je besser man ihn kannte. Wenn er so schlecht sang und laut lachte, sah er einfach wunderschön aus.
Wir mussten zum Hotel zurückkehren, um unsere Schwimmsachen zu holen. Das war mein erster Hinweis darauf, um was es bei Leifs Überraschung wohl gehen könnte. Außerdem nahm er sich eine Lampe – eine von diesen kleinen, die man sich vor die Stirn schnallen konnte. »Nur für den Fall, dass es spät wird«, erklärte er.
Jetzt, da wir wieder im Hotel waren, wurde mir die mögliche Nähe von Conor und meinem Reisepass einfach zu viel. Noch einmal klopften wir daher an Conors Tür. Wieder öffnete niemand. Also schloss ich auf und sah mich im Zimmer
um. Nirgends war auch nur eine Spur davon zu entdecken, dass Conor überhaupt zu Hause gewesen war. Das Zimmer befand sich in genau demselben Zustand, in dem ich es verlassen hatte.
Sobald wir unsere aufgerollten Handtücher in Leifs Topcase verstaut hatten, startete er erneut den Motor.
»Wo fahren wir hin?«, wollte ich wissen, während ich mir den Helm auf den Kopf schnallte.
»Du wirst schon sehen«, erwiderte er mit einem Zwinkern. »Steig auf!«