KAPITEL 12
LAURA
Während wir auf der westlichen Seite der Insel hinunterfuhren, herum um zerklüftete Landzungen und dann weiter gen Süden, fragte ich mich, was Leif wohl für meinen Geburtstag im Sinn hatte. Als wir auf ein ausgeblichenes Schild stießen, das auf ein Restaurant mit Bar hinwies, bog Leif ab und fuhr einen Schotterweg entlang, bis wir einen provisorischen Parkplatz erreichten. Er schloss sein Motorrad ab und führte mich eine in den Felsen gebaute Treppe hinab.
Die Bar war offensichtlich auf einem natürlichen Felsvorsprung errichtet worden, ein flaches Plateau auf mittlerer Höhe des Felsens. Als wir eintrafen, waren nur drei Leute dort, und selbst diese drei stellten sich als Mitarbeiter heraus. Sie sprangen alle auf, als wir erschienen.
Da es mir immer noch unangenehm bewusst war, dass ich – Geburtstag oder nicht – kein Geld dabeihatte, bestellte ich ein kleines Mythos-Bier, und Leif folgte meinem Beispiel.
»Es ist herrlich hier«, sagte ich zu ihm. »Wie hast du den Laden gefunden?«
»Olav hat mir davon erzählt«, erwiderte er. »Sie waren neulich Abend hier.«
Ich beugte mich über den Rand des Felsvorsprungs und beobachtete, wie unter mir das Meer gegen die Felsen brandete, und dann, als mein Bier eintraf, ließ ich mich in meinen mit Segeltuch bespannten Stuhl zurücksinken und genoss den Blick. Die Sonne näherte sich dem Horizont, und der Himmel wurde allmählich flammend rot.
Der Kellner brachte uns ein Schüsselchen mit Oliven und ein paar unglaublich salzige Erdnüsse. Die nächste Stunde knabberten wir beides und tranken in aller Ruhe unser Bier, während wir redeten.
»Weißt du, welche Insel das ist?«, fragte ich Leif, während ich auf eine Landmasse zu unserer Linken deutete.
»Ich glaube, das ist Ios«, sagte er. »Aber ich bin mir nicht völlig sicher, um ehrlich zu sein. Olav ist bei solchen Sachen besser, allerdings nur, weil er den Kompass hat.«
»Es tut mir so leid, dir die Ferien zu verderben«, sagte ich erneut.
Leif lachte. »Sehe ich so aus, als liefen meine Ferien schlecht?«, fragte er.
Ich rümpfte die Nase. »Nein«, gab ich zu. »Aber trotzdem.«
Leif zeigte auf ein Haus in der Ferne. Genau wie die Bar wirkte es, als sei es ganz natürlich aus dem Felsen herausgewachsen. »Stell dir mal vor, da zu wohnen«, sagte er.
»Ja«, stimmte ich zu. »Da möchte man wahrscheinlich nie wieder nach Hause, oder? Da fragt man sich, warum man eigentlich da wohnt, wo man sonst wohnt.«
Allmählich trafen mehr Leute ein: ein italienisch klingendes Pärchen und zwei amerikanische Frauen. Und als das Essen, das sie bestellt hatten, aufgetragen wurde, Essen, das einfach delikat aussah, begann Leif mich davon zu überzeugen, dass wir auch dort essen sollten.
Weil mir das Problem mit dem Geld immer noch schwer auf der Seele lag, widerstand ich diesem Gedanken eine Weile, aber schließlich zog Leif den Trumpf, dass heute schließlich mein Geburtstag sei. Nur deswegen, obwohl ich hoffte, ihm das Geld irgendwann in der Zukunft zurückzahlen zu können, gab ich nach und ließ ihn bestellen, was auf der Speisekarte ziemlich originell als »Großmamas Platte für zwei« bezeichnet wurde.
Sie bestand aus Weinblättern, die mit Reis, und Tomaten, die mit Käse gefüllt waren. Außerdem gab es frittierte Käsekroketten, Tintenfisch in Olivenöl, Auberginenkaviar und Sardinen und gebratene Okra … Es war ohne Zweifel das köstlichste Gericht, das ich je gegessen hatte. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass es wahrscheinlich bis heute zu meinen drei Topessen aller Zeiten gehört.
Da uns nichts vom Horizont trennte, war der Sonnenuntergang einfach spektakulär, und als wir unser Mahl beendet hatten, war ich fast den Tränen nahe, wie es Leif gelungen war, diesen Tag, der so Unheil verheißend begonnen hatte, zu etwas derart Schönem zu machen. Bis zu jenem Zeitpunkt hatte ich in meinem Leben noch nicht besonders viele schöne Momente erlebt.
Leif bezahlte die Rechnung, die, wie er beharrte, überhaupt nicht hoch sei, und wir machten uns auf den Rückweg hinauf zum Parkplatz.
»Das war die schönste Geburtstagsüberraschung, die ich je erlebt habe«, sagte ich zu ihm. »Vielen Dank!«
Leif lachte. »Das war nicht die Überraschung«, entgegnete er. »Die Überraschung ist, wo wir als Nächstes hinfahren.«
Oben angekommen stiegen wir auf den Roller und rumpelten an der sich windenden Küstenlinie entlang. Der Wind hatte sich inzwischen vollkommen gelegt, und selbst in meinen Shorts war mir nicht kalt.
Schließlich bog Leif in einen weiteren Feldweg ein, und wir folgten ihm bis zum Ende.
»Jetzt müssen wir ein bisschen zu Fuß gehen«, sagte Leif und gab mir meine Tasche aus dem Topcase.
Wir liefen ungefähr zehn Minuten an der zerklüfteten Küste entlang. Zu dieser Zeit war die Sonne hinter dem Horizont verschwunden, aber der rote Himmel beleuchtete den Weg immer noch ausreichend, sodass ich sehen konnte, wohin ich meine Füße setzte.
Einige nistende Vögel flatterten kreischend auf und erschreckten mich, als wir an ihnen vorbeikamen, und als ich quiekte, nahm Leif kurz meine Hand.
Ein paar Minuten später kletterten wir hinunter auf einen winzigen abgelegenen Strand.
Dort gab es keine Bars oder Restaurants. Und auch keine anderen Leute. Nur der gerade aufgehende Mond und sein Licht, eine ferne Laterne weit oben über der Klippe, und die letzten Spuren des Tages, die immer noch wie ein verblasstes honigfarbenes Band am Horizont zu sehen waren.
»Ich bin noch nie nachts schwimmen gewesen«, gestand ich Leif, während wir unsere Schuhe auszogen und über den Strand gingen.
»Das ist gut«, sagte er. »Es wird dir gefallen.«
Mit dem Rücken zueinander schlüpften wir in unsere Badesachen, und dann lief ich über den nassen Sand zu Leif, der schon am Wasser stand. Ich blickte zurück dorthin, wo sich unsere Fußabdrücke im Sand vermischten und Richtung Meer führten. Es gab überhaupt keine Brandung, und die Oberfläche wirkte wie ein sanft wogender Spiegel. Irgendwie erschien sie mir zähflüssig, als wäre sie aus etwas viel Dickerem gemacht als Wasser, und weil sich der sonderbare Himmel darin spiegelte, ging mir für eine Sekunde der Gedanke durch den Kopf, dass die See aussah, als sei sie aus Honig.
»Es ist so schön«, sagte ich leise.
»Die Sterne«, meinte Leif und deutete nach oben.
Ich legte den Kopf in den Nacken, um hinaufzusehen. »Du meine Güte, ja«, sagte ich. »Wie unglaublich.«
»Komm«, sagte Leif und marschierte einfach in die Dunkelheit.
»Ich habe Angst«, gestand ich. »Ich habe Angst, dass da Monster drin sind.«
Leif lachte aus vollem Herzen. »Keine Monster«, erwiderte er, »nur Fische.«
»Fische, die beißen?«
»Nein. Aber vielleicht saugen sie ein bisschen an deinen Zehen«, sagte Leif.
Er griff hinter sich nach meiner Hand, ich überließ sie ihm, und langsam wateten wir ins Meer. Das Wasser war warm, und da der Tag sich jetzt abkühlte, fühlte es sich noch wärmer an als die Luft. Weil Leif dachte, dass ich immer noch Angst hätte, zog er erneut an meiner Hand und drängte mich, tiefer hineinzugehen, aber in Wahrheit war ich völlig fasziniert von den kleinen Wellen, die von meinen Knien ausgingen, und davon, wie sie den Nachthimmel reflektierten.
»Warte«, sagte ich. »Ich bin in einer Minute drin. Ich möchte nur einen Moment lang einfach noch gucken.«
»Klar.« Leif ließ sich zu einer Seite fallen und tauchte unter die Wasseroberfläche.
Ich wartete, regungslos, bis er fortgeschwommen war, bis das Meer wieder seine wogende Glätte angenommen hatte. Ich blickte hinaus zum Horizont, der jetzt fast schwarz war und nur noch ganz wenig saphirblau.
Ich lauschte in die Stille der Nacht und bemerkte, dass sie überhaupt nicht still war. Zusätzlich zu meinen eigenen Atemzügen konnte ich hören, wie die kleinen Wellen ans Ufer plätscherten. Irgendwo in der Ferne hörte ich Jungvögel nach ihrer Mutter schreien, und ich konnte hören, mit welchem uneleganten rhythmischen Geplatsche Leif durchs Wasser kraulte. Irgendwo rechts von mir kam ein Fisch kurz mit einem Plop an die Oberfläche und verschwand dann wieder in der Tiefe.
»Komm schon!«, rief Leif. »Es ist herrlich.« Inzwischen konnte ich kaum noch seinen Kopf erkennen, der weit entfernt übers Wasser tanzte.
»Warte«, rief ich. »Ich will nur …«
»Was nur?«, fragte er.
»Nur … es in mich aufnehmen«, erwiderte ich.
Mir fehlten die Worte dafür, was gerade geschah. Denn irgendetwas zerbrach. Und etwas anderes begann. Ich fühlte mich unter dem Nachthimmel so verletzlich wie diese Küken in ihrem Nest, aber tief in meinem Innern regte sich auch ein gewisser Optimismus, vielleicht zum überhaupt ersten Mal in meinem Leben.
Ich blickte wieder hinunter auf meine Knie und spürte den weichen Sand unter meinen Zehen und das seidige Wasser, das gegen meine Beine stupste. Und wenn ich aufblickte und wieder in die Ferne sah, überkam mich erneut dieses immer noch namenlose Gefühl.
Es war, als hätte ich seit meiner Geburt immer nur in meinem Kopf gelebt. Als hätte da diese kleine Gestalt in einem Fahrersitz gesessen und auf mein Leben hinabgeblickt, anstatt meinen gesamten Körper zu bewohnen. Ich hatte mein Leben wie eine Aneinanderreihung von Überlegungen und Ängsten und Erwartungen erlebt. Ich hatte mir Sorgen über meine Mutter und die Sünde und meine berufliche Karriere gemacht und darüber, meine Rechnungen bezahlen zu können, und über Conor und meinen Reisepass … Die Liste hörte gar nicht auf.
Aber als ich plötzlich dort in der endlosen See um Santorin stand und unter dem buchstäblich endlosen Himmel, fiel das alles von mir ab, und ich fühlte mich plötzlich zerbrechlich und roh und verängstigt und geradezu ekstatisch verliebt in alles und jeden – mit all der Kraft meines Lebens.
Conor, das erkannte ich plötzlich, spielte keine Rolle. Mein Reisepass spielte keine Rolle. Mein Geld spielte keine Rolle.
In diesem Augenblick war ich ein winziges Korn im Weltgefüge mit der Fähigkeit, die unerklärliche Weite des Universums zu sehen, und das Einzige, was zählte, war das quälende Wunder, dort zu sein. Dort zu sein, um das alles zu erleben.
In diesem Moment war ich zum allerersten Mal vollständig präsent, und es fühlte sich wunderschön an und gewaltig und wirklich ziemlich Furcht einflößend. Ich verspürte eine Zugehörigkeit zu dem Ort, wo ich mich befand, die ganz neu war und aufregend und bewegend. Dieser Augenblick war außergewöhnlich.
Plötzlich rang ich nach Luft. Der Schock all dieser Eindrücke hatte mich die Luft anhalten lassen. Und genau in diesem Moment durchbrach Leif direkt vor mir die Wasseroberfläche. Er stand auf. Das Wasser tropfte im Mondlicht von seiner glatten Haut. Er lächelte.
»Oh … Leif …«, hauchte ich, unfähig, auch nur im Ansatz zu erklären, was ich empfand.
»Du weinst«, sagte er schlicht.
»Es ist alles so gewaltig«, erwiderte ich fassungslos. »Es ist alles einfach so gewaltig.«
Er drehte sich um, sodass er in die gleiche Richtung blickte wie ich, damit er sah, was ich sah, und blickte mit mir hinaus auf das endlose Meer, in das endlose Panorama des sternenübersäten Himmels. »Ich weiß«, sagte er. »Deswegen sind wir hier.« Und ich war mir nicht sicher, ob er meinte, dass dies der Grund sei, warum er mich hergebracht hatte, oder dass wir deswegen auf diesem Planeten waren – um all diese Schönheit zu erleben. Vielleicht meinte er auch beides.
Er griff nach meiner Hand, und plötzlich so einen Anker zu haben, fühlte sich gut an. Ich hatte schon befürchtet, vielleicht davongetrieben zu werden, dass ich mich einfach in meine Gefühle auflöse und als Sternenstaub davontreibe.
»Kannst du mich festhalten?« Ich hörte es mich selbst fragen, bevor ich überhaupt wusste, dass ich etwas Derartiges sagen würde. »Wäre das okay?«
Wortlos wandte Leif sich mir zu und nahm mich in seine kühlen, nassen Arme.
»Ich bin hier«, sagte ich tränenerstickt und blickte immer noch über seine Schulter, ohne auch nur im Entferntesten in der Lage zu sein, irgendetwas zu formulieren, was einem zusammenhängenden Satz nahekam. »Ich bin hier und sehe das alles.«
Aber unglaublicherweise begriff Leif. »Ich weiß«, sagte er. »Ich bin auch hier. Es ist fantastisch.«
fleuron
Wir schwammen eine halbe Stunde, tauchten in die bedrohliche Dunkelheit und kamen dann wieder an die schnell kühler werdende Nachtluft. Ich ließ mich auf dem Rücken treiben und blickte hinauf zu den Sternen über mir, und ich quiekte und lachte, wenn, wie Leif es vorausgesagt hatte, ein Fisch an meinem großen Zeh saugte.
Als es uns zu kalt wurde, stiegen wir aus dem Wasser und trockneten uns ab.
Wir setzten uns eine Weile schweigend auf den Strand, starrten hinaus in die grenzenlose Nacht und dachten beide, vermute ich, dass hier gerade noch etwas anderes geschah. Ich zögerte, es zu benennen oder genauer darüber nachzudenken. Vielleicht hatte ich Angst, es zu verscheuchen, wenn ich es beim Namen nannte.
»Wir sollten aufbrechen«, sagte Leif schließlich, weil er merkte, dass mich ein Schauer überlief. »Es ist kalt.«
»Ich weiß«, stimmte ich zu. »Aber ich möchte eigentlich nicht. Es ist so herrlich hier.«
»Aber ich glaube, es ist schon zu kalt, um am Strand zu schlafen«, erwiderte Leif. »Wenn wir Schlafsäcke hätten, aber …«
In stillschweigender Übereinkunft erhoben wir uns und schlüpften wieder schüchtern Rücken an Rücken in unsere trockenen Sachen.
Während wir über den Strand gingen, spürte ich den übermächtigen Wunsch, seine Hand zu nehmen, aber ich widerstand ihm. So weit waren wir noch nicht ganz. Ich war zwar auch nicht sicher, wo wir eigentlich waren, aber da eindeutig noch nicht.
Leif setzte sich seine Stirnlampe auf den Kopf und führte uns den Fels hinauf und an den Klippen entlang zu der Stelle, wo wir das Motorrad zurückgelassen hatten. Schweigend stiegen wir auf und machten uns auf den Weg über den holprigen Feldweg.
Die Nacht wurde schnell kühler und Wind kam auf, deswegen schmiegte ich mich an Leifs warmen Rücken und blickte hinauf zum Mond, der inzwischen aufgegangen war und sich wundervoll in der Meeresoberfläche spiegelte.
Ich erinnere mich daran, wie ich gedacht habe, dass es mein schönster Geburtstag gewesen sei und dass ich meinen sechsundzwanzigsten nie vergessen würde. Und ich glaube, das war der Augenblick, in dem ich zuließ, dass mir klar wurde, was wirklich vor sich ging.
Hatten sich meine Gefühle in jener Nacht wegen dieses magischen Moments am Strand entwickelt, oder war es genau andersherum? Wirkte der Strand so magisch auf mich wegen meiner Gefühle für Leif? Ich denke gern, dass es etwas von beidem war, dass alles, was sich ereignet hatte, das Ergebnis aller Einzelteile war wie eine magische, mystische Vervielfachung.
Ich denke gerne, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben – und geschuldet war das den wirklich merkwürdigen Umständen – zur richtigen Zeit am richtigen Ort mit dem genau richtigen Menschen gewesen war. Jedenfalls fühlte es sich in dem Moment genauso an, als sei alles – wie schrecklich es auch gewesen war – aus einem bestimmten Grund passiert. Und der Grund war, mich genau in diesem Moment mit gerade diesem Menschen an genau diese Stelle zu bringen.
Ich klammerte mich immer noch an Leifs Rücken und lächelte hinauf zum Mond, als er plötzlich scharf von der Straße abbog.
»Was ist los?«, fragte ich, aber er antwortete nicht. Ich bekam sofort Angst, als er einen Schotterweg entlangrumpelte, aber dann hielt er vor einem großen weißen Haus. Auf dem Holzschild am Postkasten stand: Lenas Zimmer .
»Was hast du vor?«, fragte ich.
»Warte es ab«, erwiderte Leif. »Ich habe eine Idee. Bleib beim Motorrad. Ich bin in einer Minute wieder da.«
Es blieb nicht bei einer Minute, sondern es wurden zehn, und als er schließlich grinsend wieder auftauchte, hielt er einen Schlüssel in der Hand. »Die letzte Geburtstagsüberraschung«, sagte er. »Komm mit.«
Ich folgte ihm durch Lenas karg bepflanzten Garten. Der Weg wand sich um ein paar Kakteen und einen Tamarindenbaum bis hin zu einem kleinen weiß verputzten Gebäude am Rand der Klippe. Es hatte ungefähr die Größe eines Schuppens.
Leif schloss die Tür auf und schaltete das grelle Oberlicht ein. »Tada!«, sagte er.
»Mein Gott, Leif«, sagte ich. »Hast du das für uns gemietet?«
Er nickte.
»Hast du das alles geplant?«
»Nein«, erwiderte Leif. »Ich habe nur eben das Schild gesehen, und wir hatten Glück. Sie hatte nur noch dieses frei.«
Ich betrat den Raum und blickte mich um. Er war spärlich möbliert, aber sauber. Es gab zwei weit auseinanderstehende Einzelbetten mit weißen Bezügen. Auf der Kommode lagen zwei gefaltete blaue Decken.
Ich ging hinüber zum Fenster und stieß die Läden auf. Draußen schimmerte die See im Mondlicht. »Wow«, sagte ich. »Was für ein Meerblick. War das teuer?«
»Überhaupt nicht«, erwiderte Leif. »Wir haben schon September, daher …«
Ich stützte mich auf das Fensterbrett und sah, dass man an der Seite des kleinen Gebäudes Zugang zu einem Balkon aus Holz hatte, und dann hob ich meinen Blick, um erneut den faszinierenden Mond zu betrachten.
»Ist das eine gute Idee?«, fragte Leif, trat neben mich an das offene Fenster und stützte sich, wie ich, auf das Fensterbrett. »Ist es dir recht?«
Ich schnaubte und wandte mich ihm zu. »Recht?«, fragte ich. »Bist du verrückt?« Ich hatte schon den ganzen Abend Bauchschmerzen bei dem Gedanken, wieder ins Hotel zurückzukehren.
»Nur ein bisschen«, antwortete Leif. »Gerade verrückt genug, denke ich. Oder?«
Wir gingen wieder zur Eingangstür hinaus und um das Gebäude herum zu dem Balkon, wo wir uns an einen kleinen Tisch mit Stühlen setzten. Leif zauberte einen Schokoriegel hervor, den wir in aller Ruhe aßen und uns dabei sehr zurückhielten, damit wir lange etwas davon hatten. »Hätte ich das hier geplant, hätte ich Champagner besorgt«, erklärte Leif.
»Wir brauchen keinen Champagner«, erwiderte ich. »Es ist so einfach perfekt.«
Je später es wurde, desto mehr Wind kam auf, und ziemlich früh, gegen halb elf, denke ich, zwang uns die Kälte zurück ins Haus. Ich gähnte ohnehin inzwischen wie verrückt. Es war ein ausgesprochen mitreißender Tag gewesen.
Schüchtern duschten wir nacheinander im angrenzenden Badezimmer, um den Sand loszuwerden. Und als ich ins Zimmer kam, lag Leif bereits im Bett unter der Decke.
Nach meinem traumatischen Erlebnis mit Conor hatte ich noch etwas Angst vor Männern, denke ich, deswegen war ich tatsächlich dankbar, dass Leif nicht versuchte, mich zu verführen.
Ich kletterte in mein Bett und sagte: »Gute Nacht, Leif. Und vielen, vielen Dank. Es war einfach perfekt.«
»Gern geschehen«, erwiderte Leif gähnend. »Gute Nacht. Und noch mal alles Gute zum Geburtstag.«
Er schaltete die Nachttischlampe aus, und ich lag da und betrachtete den vom seltsamen Mondlicht erhellten Raum.
Zuerst erschien mir die Nacht so still, aber dann passten sich meine Ohren an. Ich konnte sowohl Leifs Atem hören als auch die Wellen, die unter uns auf den Strand liefen – die Geräusche ähnelten sich in überraschender Weise. Auch der Wind pfiff hin und wieder durch die Fensterläden.
Der Tag war umwerfend gewesen, und zehn Minuten lang lag ich voller Optimismus für die Zukunft und gesättigt von allem, was passiert war, in den frischen weißen Laken. Aber der Wind nahm weiter zu, und irgendwo in der Ferne schrie ein Tier ganz schrecklich – es klang, als würde es getötet –, und völlig unerwartet für mich begann die Nacht sich zu verändern. Ich fühlte mich weniger willkommen und viel mehr allein. Der Tag mag ja wunderschön sein , schien der Wind zu sagen, aber in der Nacht bist du allein.
Ich öffnete den Mund zwei- oder dreimal, bevor ich es schließlich schaffte zu flüstern: »Schläfst du?«
»Nein«, erwiderte Leif. »Ist ein bisschen kalt. Ich denke, ich mache mal das Fenster zu. Und hole eine Decke.«
Ich hörte, wie er aus dem Bett stieg. Ich hörte Schritte seiner nackten großen Füße auf dem Fliesenboden, als er das Fenster schloss und quer durch den Raum zur Kommode ging.
»Mir ist auch ein bisschen kalt«, sagte ich.
»Ja? Soll ich dir auch eine Decke holen?«
»Ich …«, begann ich.
»Ja?«
Ich hörte, wie sich seine Schritte näherten. Sein Gesicht erschien vor mir, als er sich neben das Bett hockte. Genau wie ich trug er sein T-Shirt und seine Unterhose. »Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Ja … ich …«, sagte ich.
»Ich hole dir eine Decke«, meinte Leif.
»Ach, komm einfach zu mir, ja?«, entgegnete ich und klang ungewollt nervös. »Wenn das okay ist?«, fügte ich hinzu, um meine deutliche Einladung etwas abzumildern. Meine Nervosität, das wusste ich, wurde ausschließlich dadurch ausgelöst, dass ich unfähig war, zu sagen oder es auch nur mir selbst einzugestehen, was ich wollte.
Leif lächelte fragend. »Du möchtest, dass ich zu dir ins Bett komme?«, fragte er.
» Ja! Wenn es dir recht ist.«
Leifs Zähne blitzten im Mondlicht, als er grinste. »Gott sei Dank«, sagte er, zog die Decke zurück und schlüpfte neben mich. »Ich hab schon gedacht, du würdest nie fragen.«
Mindestens zehn Minuten lagen wir steif wie zwei Bretter nebeneinander. Nur unsere Schultern berührten sich, und ganz allmählich kroch unsere Körperwärme durch die beiden Stoffschichten.
»Und was jetzt?«, erkundigte sich Leif schließlich.
»Können wir einfach so schlafen?«, fragte ich, obwohl jede einzelne meiner Zellen sich danach sehnte, unseren Körperkontakt so weit wie möglich auszudehnen. »Wäre das okay?«
»Natürlich«, erwiderte Leif sachlich. Doch seine wahren Gefühle verriet er, als er sich mit einem tiefen Seufzer auf die Seite drehte, von mir fort.
Ich rollte mich ebenfalls auf die Seite, allerdings zu ihm hin – ich hatte noch nie auf dem Rücken schlafen können, und in dem Einzelbett war es einfach unmöglich, Leifs Rücken nicht zu berühren.
Da keine der beiden anderen Möglichkeiten – ihn zu bitten, in sein eigenes Bett zurückzukehren, oder sich andersherum zu drehen, um mit dem Rücken zueinander zu schlafen – mir erstrebenswert erschien, ergab ich mich in das Unausweichliche und rutschte an ihn heran, wobei ich einen Arm über seine Hüfte legte und mich an ihn schmiegte. »Ist das okay?«, fragte ich.
Leif griff nach meinem Arm und zog mich näher an sich heran. »Das ist sehr okay«, sagte er.
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Ich schlief in dieser Nacht nicht sonderlich gut. Pures Begehren beschleunigte meinen Atem, ließ mein Herz schneller schlagen und meine Haut kribbeln, und all das war nicht sehr schlaffördernd. Außerdem kreisten meine Gedanken ständig darum, was als Nächstes geschehen würde – was im Bett geschehen würde, in meinem Leben und mit Conor. Aber irgendwann musste es mir dann doch gelungen sein einzudösen, denn als ich am Morgen aufwachte, entdeckte ich zu meiner Enttäuschung, dass Leif wieder den Weg in sein eigenes Bett gefunden hatte.
So leise, wie ich konnte, schlich ich ins Badezimmer, wo ich aufs Klo ging und mir die Zähne putzte. Als ich zurückkehrte, sah ich, dass Leifs Augen offen waren. Er blickte mich an, wenn auch schläfrig.
»Alles okay bei dir?«, fragte ich, und er lächelte mich sanft an.
»Besser als okay«, erwiderte er und strahlte.
»Aber du bist wieder in deinem Bett«, meinte ich. »Konntest du nicht schlafen? Ich hab doch nicht geschnarcht, oder?«
Leif richtete sich auf und stopfte sich sein Kissen in den Rücken, damit er mich vernünftig ansehen konnte. »Es ist ziemlich hart für einen Mann«, sagte er, »zu schlafen, wenn …«
Ich lachte. »Wenn was?«, fragte ich, obwohl ich genau wusste, was er meinte.
»Wenn man … jemanden so unglaublich gern küssen möchte«, sagte er sehr süß.
Ich sah ihn an und blickte ihm tief in seine blauen Augen. Dann biss ich mir auf die Unterlippe.
»Tut mir leid«, sagte Leif. »Das hätte ich nicht sagen sollen.«
»Nein«, versicherte ich ihm. »Nein, alles ist gut. Ich … ich habe genau das gleiche Gefühl. Ich habe auch nicht viel geschlafen.«
»Ist das wahr?«, wollte Leif wissen.
»Ja.«
»Bitte komm her«, sagte er. Er klopfte neben sich auf das Bett.
Ich nickte nervös. Mein Bauch war voller Schmetterlinge. Leifs ganze Art machte mich plötzlich irgendwie verlegen. Aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, als stünde mir mein erster Kuss mit einem Jungen bevor, als wüsste ich nicht, wie man das macht.
Die wenigen Jungen, mit denen ich geschlafen oder die ich auch nur geküsst hatte, waren wie Güterzüge über mich hinweggerollt, deswegen hatte ich immer nur nachgeben müssen, mich einfach nicht zu widersetzen brauchen. Bei Leif schien ich tatsächlich entscheiden zu müssen, was ich wollte, und obwohl ich mich dadurch stark fühlte und es sehr lieb von ihm war und ich mich deswegen nur noch mehr danach sehnte, machte es mir die Sache auch nicht im Geringsten leichter.
Ich ging zu ihm und hockte mich mit dem Rücken zu ihm auf die Bettkante. Er streckte die Hände aus und streichelte meine Schultern.
»Du bist noch nicht bereit«, stellte er fest. »Es geht alles zu schnell, nachdem … aber das ist okay.«
Ich zuckte die Achseln. »Ich glaube, ich bin bereit«, entgegnete ich und schluckte schwer, während ich versuchte, all meinen Mut zusammenzunehmen. »Ich weiß einfach nur nicht, wie ich es anstellen soll.«
Leif umfasste mich mit etwas mehr Kraft, und so drehte ich mich um und legte mich neben ihn.
»Wir müssen nichts tun, was du nicht …«, begann er.
Aber ich hatte mich auf die Seite gedreht und legte ihm einen Finger auf die Lippen, wodurch ich ihn zum Schweigen brachte. »Jetzt küss mich einfach«, befahl ich. »Bevor ich es mir anders überlege.« Und ich spürte an meinen Fingerspitzen, dass er Mühe hatte, nicht zu grinsen.
Zunächst küssten wir uns ziemlich keusch, aber dann, während wir allmählich wagten, mit den Fingerspitzen den Körper des anderen zu erkunden, weitaus leidenschaftlicher. Leif strahlte mich an wie die Grinsekatze aus Alice im Wunderland , und ich merkte, dass ich ihn ebenfalls anlächelte.
Leifs Haut, bemerkte ich, war kühler als meine eigene und sie fühlte sich unerwartet weich an, als sei sie mit Talkum eingepudert worden. Alles geschah so sanft und respektvoll, wie es mit Conor brutal und fordernd gewesen war. Leif schien ein maßgeschneidertes Gegenmittel zu sein, das mein Vertrauen in die Männerwelt wiederherstellen sollte.
Als meine immer mehr zunehmende Sehnsucht nach mehr schließlich meine Ängste überstieg, drehte ich mich auf den Rücken und versuchte, Leif auf mich zu ziehen. Unerwarteterweise widersetzte er sich.
»Was ist los?«, fragte ich.
»Wir können nicht.«
»Wieso nicht?«, wollte ich wissen und fürchtete, dass er gleich irgendeine Bombe würde platzen lassen – dass er verheiratet war oder krank oder dass er derartige Gefühle für mich einfach nicht hegte.
»Ich habe keine … du weißt schon …«, sagte er. »Ich habe keine Pariser.«
Ich lachte schallend. Seit Abby mir mal in der Schule ein Kondom gezeigt hatte, als wir dreizehn gewesen waren, hatte ich nie wieder gehört, dass jemand sie als Pariser bezeichnete.
»Warum lachst du?«, fragte Leif gekränkt und zog sich deutlich spürbar von mir zurück.
»Es hat nichts …«, stotterte ich und musste immer noch kichern. »Es ist nur dieses Wort. Pariser. Tut mir leid.«
»Ist es nicht das richtige Wort?«
»Es ist nur altmodisch«, erklärte ich ihm. »Heute nennt man sie Kondome. In Amerika sagt man, glaube ich, Gummis.«
»Okay«, meinte Leif und klang nur zum Teil besänftigt. »Jedenfalls habe ich keine, und deswegen …«
Ich dachte einen Moment darüber nach. Ich überlegte, dass ich bereits mit Conor geschlafen hatte und mich nach meiner Rückkehr sowieso um die Folgen kümmern musste. Ich verglich Leifs süße Besorgnis mit Conors perversem Narzissmus und fragte mich, ob ich mich Leif wirklich verweigern wollte, wenn ich mich doch Conor nicht verweigert hatte. Ich brauchte einen Augenblick, um einzuschätzen, wie stark mein Begehren war. Denn auch wenn wir uns aneinandergepresst hatten, spürte ich deutlich, dass es nicht ausreichte.
Ich ließ meine Hand unter Leifs Gürtellinie gleiten, und was ich dort vorfand, ließ mich vor Sehnsucht erzittern. »Es ist okay«, sagte ich und zog ihn wieder zu mir. »Bitte … tu es einfach …«
Erneut strahlte er mich mit seinen wundervollen Zähnen an. »Bist du sicher?«, fragte er. Aber gleichzeitig klopfte er bereits an meiner Pforte an.
fleuron
An diesem Morgen liebten wir uns zweimal, und es war jedes Mal genau so, wie ich mir Sex immer vorgestellt und ihn bis zu jenem Tag niemals erlebt hatte.
Leif war der mit Abstand liebste, aufmerksamste, zugewandteste Liebhaber, der mir je begegnet war, und ich erinnere mich daran, dass es mir bewusst wurde, als wir es zum zweiten Mal getan hatten und nebeneinanderlagen, warum man dazu auch Liebe machen sagt. Denn obwohl ich vielleicht akzeptiert hatte, mich gerade in Leif zu verknallen, als es vorbei war, hatte ich mich schon so sehr in ihn verliebt, dass ich wusste, ich würde nicht einfach damit abschließen können.
Ein Klopfen an der Tür unterbrach uns.
»Scheiße«, sagte Leif, griff sich seine Uhr vom Nachttisch, um nachzusehen, wie spät es war. »Es ist schon nach elf.«
»Was ist denn um elf? Wo liegt das Problem?«, fragte ich und streckte mich wie eine Katze in der Sonne, während Leif bereits ziemlich ziemlich lustig in seine Shorts hüpfte.
»Um elf müssen wir das Zimmer räumen«, sagte Leif. »Da liegt das Problem.«