KAPITEL
14
LAURA
Sobald wir die Tür geöffnet hatten, erklärte uns Lena, den Mopp in der Hand, dass wir auf der Stelle
verschwinden müssten, da um zwölf bereits Gäste eintrafen. Daher saßen wir innerhalb von zehn Minuten wieder auf Leifs Roller und fragten uns, was wir als Nächstes tun könnten.
»Also«, meinte Leif, immer noch grinsend. Wir hatten an diesem Morgen gar nicht damit aufhören können, einander anzulächeln.
»Also …«, wiederholte ich und nahm den Helm aus seiner ausgestreckten Hand.
»Bist du bereit, Conor gegenüberzutreten?«, fragte er. »Oder möchtest du lieber erst etwas essen?«
»Essen«, erwiderte ich, ohne zu zögern. Die letzten zwölf Stunden waren absolut magisch gewesen, und ich konnte es nicht ertragen, dass dieser Augenblick endete. »Aber ich muss mich wirklich mal umziehen. Dieses T-Shirt fängt langsam an zu riechen.«
Leif nickte nachdenklich. »Wir könnten am Strand picknicken«, sagte er. »Da brauchen wir nichts zum Anziehen.«
Ich lachte. »Sicher«, sagte ich, »machen wir das. Wir können uns heute Abend umziehen.« Es war nicht schwer, mich zu überzeugen.
Wir fuhren in die Außenbezirke von Oia, zu dem ersten kleinen Laden am Rande der Stadt, aber selbst dort hatten wir noch das Gefühl, nicht weit genug fort zu sein, um uns wirklich zu entspannen. Ich trieb in einer Blase des Glücks dahin und fühlte mich angenehm umnebelt durch den Mangel an Schlaf. Instinktiv wusste ich, dass Conor, falls und sobald ich ihn sah, meine Blase garantiert würde zerplatzen lassen.
Aber unsere kleine Einkaufstour in dem Laden verlief ohne Zwischenfälle, und um zwölf waren wir wieder am Strand. Im Tageslicht wirkte er vollkommen anders, aber nicht weniger schön. Und das Beste war, dass wir ihn wieder ganz für uns hatten.
Wir aßen Käse und Brot und die süßesten Tomaten, die je meine Zunge berührt hatten, dann machten wir ein bisschen im flachen Wasser herum. Später saßen wir an einem Ende des Strands im Schatten, wo der Fels ins Meer ragte, und seufzten vor Erleichterung, als ein Pärchen, das auf dem Pfad über uns aufgetaucht war, wieder umdrehte und den Weg zurückging, den es gekommen war.
Wir redeten ohne Unterlass, und als ich von meiner Schulzeit erzählte und von Abby und Leif von seinem Studium und dem Leben in Norwegen, überkam mich wieder dieses Gefühl, hierherzugehören – das Gefühl, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Irgendwie prägte es den Tag.
Es war mir zuvor noch nie aufgefallen, glaube ich, aber an jenem Nachmittag begriff ich, dass ich ein ziemlich angespannter Mensch war, dass ich im Normalzustand immer
bereit war loszuspringen. Nur selten hatte ich mich in meiner Haut oder mit meiner Umgebung wirklich wohlgefühlt. Ich befand mich ständig im Alarmzustand, immer auf der Suche nach irgendeiner Bedrohung oder Gefahr, und verschiedene Ereignisse und auch Menschen hatten mir recht gegeben, weil, wie ich annahm, meine Beurteilung der Situation einfach so schlecht war. Ich nehme an, dass vieles davon daher rührte, wie ich aufgewachsen war, denn in dieser Zeit hatte ich mich nur selten entspannt oder gar glücklich gefühlt. Die Tatsache, dass meine Mutter mich so lange bei sich behalten hatte, wie sie nur konnte, war wahrscheinlich auch keine große Hilfe gewesen. Doch das zu begreifen, war nur möglich im Zustand tiefer, geradezu kindlicher Entspannung. Oder wenn man mit jemandem zusammen war, dem man absolut vertraute.
Wir schwammen zusammen, wir sammelten farbige Steine und wir erkundeten beide Enden des Strands. Wir saßen nebeneinander und beobachteten, wie winzige Fische an unseren Zehen knabberten, und fühlten uns, glaube ich, wie zwei unschuldige Kreaturen, die gemeinsam die Welt erforschten.
Zwei- oder dreimal einigten wir uns, dass wir weitermüssten. Es gab keinen Zweifel daran, dass es allmählich drängte, meinen Reisepass zurückzuholen – dass es Zeit wurde, den Strand zu verlassen und uns darum zu kümmern. Aber jedes Mal kam es einfach nicht dazu. »Lass uns noch einmal schwimmen gehen«, sagte dann einer von uns, und aus dem Schwimmen wurde eine spielerische Rauferei, oder wir kuschelten und küssten uns, wonach wir dann meistens noch ein wenig am Strand einschliefen.
Als wir es schließlich schafften aufzubrechen, war es bereits sechs. Wir packten unsere nassen Sachen in Leifs Rucksack und gingen Hand in Hand das letzte Mal über
unseren
Strand.
Auf der Fahrt zurück kamen wir bei Lena vorbei, und ich fragte mich, wer jetzt wohl in unserem Zimmer war, und hoffte, dass es für sie so wunderbar werden würde, wie es für uns gewesen war. Ein Stückchen weiter lag die Taverne mit dem Balkon, in der wir zuvor gewesen waren, und während wir daran vorbeifuhren, wurde Leif langsamer und hielt am Straßenrand. »Wir müssen reden«, sagte er ernst. »Wir müssen uns darauf einigen, was wir Conor erzählen.«
Ich nickte. Ich hatte ebenfalls schon darüber nachgedacht, da aber jedes Gespräch über Conor zu einem Gespräch über alles andere führen würde, wurde mir allein bei dem Gedanken daran schon schwindelig. Doch ich wusste, Leif hatte recht.
Die Bar war auch dieses Mal leer. Dieselben drei Leute waren dort, aber diesmal stand nur der Kellner auf, um uns zu begrüßen. Der Koch und der Besitzer schienen viel zu sehr in ihre Partie Backgammon vertieft.
»Also was sagen wir ihm?«, fragte Leif.
Ich nippte an meinem Getränk. Es kostete mich Mühe, meine Gehirnzellen in Schwung zu bringen und an Conor oder meinen Reisepass und alles andere zu denken. Eigentlich wollte ich mich im Moment einfach nur in Leifs blauen Augen verlieren. »Ich bitte ihn, dass er mir meine Sachen zurückgibt«, sagte ich. »Wenn er da ist.«
»Wenn er da ist«, wiederholte Leif. »Wann geht euer Flug nach Hause?«
Die Frage traf mich wie ein Faustschlag. Ich hatte mich geweigert, an meinen Flug zu denken, denn die Vorstellung, dass all dies ein Ende haben würde, war unerträglich.
»Am 5.«, sagte ich. »Das müsste übermorgen sein, oder?«
Leif nickte. »Deswegen ist es jetzt ziemlich dringend. Wir müssen das heute in Ordnung bringen. Wenn er nicht da ist, denke ich, sollten wir zur Polizei gehen.«
»Zur Polizei?«
»Die können vielleicht seinen Reisepass aus dem Hotel holen. Und ihn ihm zurückgeben, sobald wir deinen haben.«
Was Leif sagte, ergab durchaus einen Sinn, doch die Polizei in die ganze Sache hineinzuziehen, erschreckte mich trotzdem. »Glaubst du, es gibt auf Santorin Polizei?«, fragte ich. »Ich habe nie welche gesehen.«
»Ich auch nicht«, erwiderte Leif.
Ich nahm seine Hand in meine. Allein dass der Tisch zwischen uns stand, erschien unerträglich, ganz zu schweigen von dem Flug nach Hause.
»Und was ist mit uns?«, wollte Leif wissen. »Erzählen wir Conor von uns?«
Mein Herz bebte, als er ganz selbstverständlich erwähnte, dass es ein »Uns« gab. »Nein«, sagte ich und drückte seine Hand. Ich wollte nicht, dass die Magie zwischen uns von Conors Meinung befleckt wurde. »Nein, das geht ihn nichts an.«
»Nein«, sagte Leif. »Gut.«
»Wie …?«, begann ich. Aber ich fürchtete den Gedanken, dass es sich vielleicht als unmöglich herausstellen würde, Leif noch einmal wiederzusehen, nachdem wir Griechenland verlassen hatten, so sehr, dass ich meine Frage nicht beenden konnte.
»Wie sehen wir uns wieder?«, fragte er, da er offensichtlich das Gleiche gedacht hatte.
Ich nickte und biss mir auf die Unterlippe.
»Wir schreiben uns«, sagte Leif. »Wir telefonieren. Und wir besuchen uns, schätze ich.«
»Meinst du?«
»Ich meine es nicht«, entgegnete Leif. »Ich
weiß
es. Und ich werde dir Norwegen zeigen und du wirst mir England zeigen.«
Eine Sekunde lang fragte ich mich, wie ich das jemals mit meiner Mutter hinbekommen sollte, verdrängte den Gedanken
aber wieder. Alles, was meine Zukunft mit Leif verkomplizieren würde – und offen gesagt war daran eigentlich alles kompliziert –, schien mir an diesem Abend nichts als Kopfschmerzen zu bereiten. Es fühlte sich an wie eine dieser Migräneattacken, die über einem Auge schwebt, und meine einzige Möglichkeit, damit umzugehen, bestand darin, alles auszuschließen, was diesen Schmerz auslösen könnte. »Ich liebe es hier«, sagte ich und blickte hinaus in die Sonne, die sich inzwischen langsam dem Horizont zuneigte und den Himmel für die abendliche Lichtshow vorbereitete.
»Ich weiß«, sagte Leif und nahm mit beiden Händen meine Hand. »Ich liebe es auch. Aber wir müssen wirklich los und das erledigen.«
Langsam schlenderten wir zurück zu dem Roller und blickten hinaus aufs Meer. Die Sonne war jetzt ein riesiger roter Ball.
Nebeneinander standen wir da und blickten hinaus. »Sie bewegt sich so schnell«, bemerkte ich. »Man kann fast zusehen.«
»Glaubst du, sie wird zischen, wenn sie das Wasser berührt?«, fragte Leif.
»Es sieht so aus, als müsse sie das eigentlich«, antwortete ich. »Wenn sie es tut, wird sie dabei einige Fische kochen.«
»Mmmh«, sagte Leif. »Fischsuppe.«
Wir wandten uns einander zu und küssten uns, und als der Kuss vorbei war, war ein Teil der Sonne bereits hinter dem Horizont verschwunden.
Als wir uns Oia näherten, überzogen lila und rote Streifen in umwerfenden Schattierungen den Himmel. Besonders faszinierend an Santorin ist, dass es irgendwie die Fähigkeit besitzt, sich ständig selbst zu übertreffen. Jedes Mal wenn man meint, einen unglaublichen Ausblick genossen zu haben, wartet um die nächste Ecke schon ein besserer.
Als wir den Rand der Stadt erreichten, deutete ich auf den Sonnenuntergang. Ich wollte nicht, dass er ihn verpasste. »Hast du das gesehen?«, rief ich.
»Ja«, erwiderte er. »Es ist wunderschön.«
Als wir die nächste Kreuzung erreichten, hielt Leif an. »Es geht da lang«, sagte ich, weil ich glaubte, er hätte sich verfahren.
»Ich weiß«, antwortete er. »Ich habe mich nur gefragt … meinst du, wir haben noch Zeit, nach Norden zu fahren? Ich glaube, ich möchte ein Foto davon machen. Ein Foto von dir an diesem Tag.«
»Dann los«, sagte ich. »Aber beeil ich.« Der Tag war fast zu Ende, und es schien irgendwie eine Schande zu sein, seine letzten, prächtigen Momente zu verschwenden.
Leif gab Gas und wir flitzten um Oia herum und Richtung Norden.
Als wir die nördlichste Spitze der Insel erreichten, hielt er an einer Kreuzung. Links von uns verlief ein Feldweg voller Schlaglöcher. »Ich denke, wir lassen den Roller lieber hier«, sagte er. »Die Straße ist zu schlecht.«
Ich nahm meinen Helm ab, und Leif holte seine Kamera aus dem Topcase und schloss stattdessen meinen Helm darin ein. »Komm«, sagte er. »Wir müssen uns beeilen.«
Als ich nach seiner Hand griff, hielt neben uns auf der Hauptstraße mit quietschenden Reifen ein Strandbuggy. »Hier seid ihr also!«, rief eine Stimme, und als ich mich abrupt umdrehte, entdeckte ich Mike am Steuer. »Conor hat dich schon überall gesucht.«
»Äh … hi Mike«, sagte ich, hauptsächlich um Leif zu erklären, wer das war. »Und nein, er hat nirgends nach mir gesucht. Ich habe ihn seit
Tagen
nicht mehr gesehen.«
»Hat sich Sorgen um dich gemacht«, erklärte Mike.
Darüber konnte ich nur säuerlich lachen. »Er hat aber eine lustige Art, das zu zeigen.«
»Doch, das hat er«, beharrte Mike.
»Hat er sich auch Sorgen um Candy und Anthea, oder wie immer sie hießen, gemacht?«, wollte ich wissen.
Die kleinen Muskeln um Mikes Mund zuckten, als habe er plötzlich Zahnschmerzen. »Na ja, jedenfalls sieht es so aus, als hättest du einen Weg gefunden, dir die Zeit zu vertreiben«, sagte er und deutete mit dem Kopf in Leifs Richtung.
»Das ist Leif«, sagte ich zu ihm. »Mein Freund.«
Leif trat einen Schritt vor und streckte die Hand aus. Aber Mike übersah sie und blickte stattdessen die Straße hinunter.
»Ich muss mit ihm sprechen, Mike. Er hat meinen Reisepass. Weißt du, wo er ist?«
»Ach so?«, erwiderte Mike desinteressiert. »Deinen Reisepass hat er? Als ich das letzte Mal nach ihm gesehen habe, war er in eurem Hotel.«
»Und wann war das?«
Mike zuckte die Achseln. »Vor einer Stunde. Vielleicht vor zwei.«
»Wenn du ihn siehst, könntest du ihm sagen, dass er dortbleiben soll?«, bat ich. »Sag ihm, dass ich auf dem Weg bin.«
Mike nickte. »Ja. Ich werde ihm sagen, dass ich euch gesehen habe.«
»Danke.«
»Jedenfalls mach ich mich jetzt mal lieber auf die Hufe«, erklärte Mike. »Ich muss den Buggy zurückbringen. Ich muss die Nachtfähre bekommen, denn wenn ich die wieder verpasse, habe ich überhaupt keine Alte mehr.«
Sobald er verschwunden war, standen wir einen Augenblick schweigend da. »Willst du direkt zurück?«, fragte Leif nach ein paar Sekunden.
»Nein«, erwiderte ich. »Lass uns das Foto machen und dann zurückfahren.« Zu wissen, dass Conor tatsächlich im Hotel war, hatte mir plötzlich Angst eingejagt. Nun war ich
noch abgeneigter, dorthin zurückzukehren. Und auch nicht in der Lage zu sein, mich von Leif zu trennen, weil ich meinen Reisepass nicht besaß, fühlte sich plötzlich eher positiv als negativ an.
Der Feldweg führte an zwei unfertigen Häusern vorbei. Das Erdgeschoss war jeweils vollständig fertig, aber ohne Fenster und Türen. Dicke Stahlstifte ragten aus dem Dach, und Leif erklärte mir, dass sie dazu dienten, irgendwann in der Zukunft mal einen ersten Stock daraufzusetzen. »Man bezahlt keine Steuer, bis die Häuser fertig sind«, erklärte er mir, »deswegen ist ein nächstes Stockwerk immer irgendwie im Bau.«
Der Rand der Klippe war weiter entfernt, als es uns zunächst erschienen war, und bald bedauerten wir, zu Fuß gegangen zu sein, besonders weil sich hinter den im Bau befindlichen Gebäuden der Weg deutlich verbesserte.
Schweigend liefen wir nebeneinander her, die Köpfe im Nacken, damit wir den unglaublichen Himmel betrachten konnten. »Soll ich zurückgehen und den Roller holen?«, bot Leif an. »Ich glaube, wenn wir dort ankommen …«
»Nein, schon gut«, erwiderte ich und drückte seine Hand. »Es ist schön.«
Eigentlich war es noch viel mehr als nur schön, aber ich fürchtete mich davor, in Worte zu fassen, was ich fühlte, weil ich Angst hatte, dadurch diesen Moment zu verderben. Denn im Augenblick verspürte ich zum ersten Mal in meinem Leben pure, ungetrübte Hoffnung. Ich wurde davon geradezu überspült.
Bis zu diesem Punkt war mein Leben ziemlich mies verlaufen, schätze ich. Irgendwann dieser Tage würde bei meiner Mutter wahrscheinlich irgendeine Art von Geisteskrankheit diagnostiziert – und vielleicht sogar behandelt – werden, aber ihre Launen und ständig wechselnden Regeln, ihre unvorhersehbaren Wutausbrüche hätte ich damals nie bewusst als
anormal betrachtet. Ich beurteilte meine Erziehung vielleicht als streng, aber nie als verletzend. Da es alles war, was ich bis dahin gekannt hatte, erschien es mir einfach nur normal. Doch innerhalb dieses Rahmens waren mir meine Aussichten darauf, wirkliches Glück zu finden, als sehr dünn gesät erschienen. Und noch vor vierundzwanzig Stunden hatte ich es als völlig unmöglich empfunden, einen Ausweg daraus zu finden und mir eine irgendwie geartete erstrebenswerte Zukunft vorzustellen.
Und doch war ich nun hier und lief Hand in Hand mit dem liebsten Mann auf Erden – einem schönen, sanften, sexy, beschützenden Mann, der aus keinem mir ersichtlichen Grund auch mich komisches Ding zu mögen schien.
Plötzlich gab es so viel, auf was ich mich freute, worauf ich hoffte, dass ich es am liebsten herausgeschrien hätte. Ich wollte hüpfen vor Freude. Aber ich beherrschte mich. Ich drückte einfach seine Hand und blinzelte die Tränen weg.
Nach vielleicht weiteren hundert Metern sagte Leif: »Musst du wirklich am Fünften nach Hause?« Er klang, als würde er sich bemühen, ganz entspannt zu klingen, doch in seiner Stimme schwang eine Inständigkeit mit, die ihn verriet.
»Ich glaube, das muss ich«, erwiderte ich.
»Du glaubst?«
»Es gibt Dinge, zu denen ich zurückmuss.«
»Deinen Job?«
»Na ja, ich muss erst am Zehnten wieder arbeiten«, gab ich zu. »Aber mein Flug und all das … Ich weiß nicht, wie man ihn umbucht. Oder wie viel das kosten würde.«
»Dabei könnte ich dir vielleicht helfen«, meinte Leif.
»Und bei dir?«, wollte ich wissen. »Wann geht dein Flug?«
»Es ist eine Fähre«, erklärte mir Leif. »Sie fährt morgen.«
»Morgen!«, rief ich entsetzt über diese Enthüllung. »Um wie viel Uhr?«
»Morgens«, sagte Leif. »Um zehn. Aber ich glaube, ich möchte die Fähre nicht nehmen.«
»Möchtest du nicht?«
»Nein. Ich glaube, ich möchte länger hierbleiben.«
»Wirklich?«
»Ich habe mich in dich verliebt«, entgegnete Leif. »Daher ja. Wirklich.«
Ich blieb stehen und nahm seine Hände in meine. Ich blickte in der Abenddämmerung zu ihm auf und dachte einen Moment lang, dass ich gleich weinen würde. Denn noch nie hatte jemand das zu mir gesagt. Oder zumindest konnte ich mich absolut nicht daran erinnern.
»Wenn ich also bleibe …«, fuhr Leif fort. »Könntest du es auch?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich und widerstand dem Verlangen, der Frage auszuweichen, stattdessen ging ich weiter. »Ich vermute, ein bisschen schon. Wenn es möglich ist, die Flüge umzubuchen.«
»Ein bisschen?«, wiederholte Leif.
»Eine Weile.«
»Ist eine Weile länger als ein bisschen?«, wollte Leif wissen.
»Ja«, sagte ich. »Ja, ich denke schon.«
»Dann ist es gut«, meinte er, wandte sich mir zu und grinste breit.
Er warf einen Blick auf seine Uhr und fragte, ob das alles zu lange dauere und ich umkehren möchte.
»Nein, ich habe Angst«, gestand ich. »Ich habe Angst zurückzugehen. Ich habe Angst vor Conor. Ich habe Angst davor, diesen Augenblick zu beenden. Daher ist alles gut, was uns davon abhält zurückzukehren.«
»Also vor Conor brauchst du keine Angst zu haben«, sagte Leif. »Ich werde es niemals zulassen, dass er dir etwas tut, okay?
Ich werde es nicht zulassen, dass dir jemals wieder jemand etwas tut.«
»Danke«, sagte ich. Doch ich fragte mich unwillkürlich, ob der magere Leif, so tapfer er auch sein mochte, gegen die bullenhafte Kraft von Conor irgendeine echte Chance haben würde.
»Wow«, stieß Leif hervor. Wir hatten das Ende der Straße erreicht, wo der Schotterweg im Unterholz verschwand. Wohin dieser Pfad einst geführt hatte, nur der Herr wusste es, denn wo immer das auch war, lag jetzt unter dem Meeresspiegel. Der Hang der Klippe war abgerutscht und hatte den Weg verschüttet.
Während wir uns an den Händen hielten, gingen wir ganz bis an den Rand des Felsens und blickten hinunter aufs Meer, das die Felsen unter uns umspülte, bevor wir uns wieder zurück in Sicherheit begaben, wo Leif seine Fotos machen konnte. Er knipste zwei oder drei von mir mit dem Sonnenuntergang rechts von mir, und dann machte ich ein paar von ihm. Schließlich positionierten wir die Kamera auf einen Felsblock und stellten den Timer ein, um ein witziges Selfie zu machen, und ich erinnere mich, dass ich mir vorstellte, dies würde das Foto sein, das später bei uns auf dem Kaminsims stand, das Foto, das langsam verblasste, während wir älter wurden. Es war der glücklichste Gedanke, den ich je gehabt hatte, und trotzdem schien er in diesem Moment auch tatsächlich möglich. Alles erschien mir völlig verändert.
Die Sonne war jetzt fast verschwunden, nur noch ein kleiner Rest von ihr spähte über den Horizont, aber der Himmel spielte vollkommen verrückt. Er sah aus, als habe jemand einen Farbfächer dort oben angebracht und den dann mit Lösungsmittel abgespritzt, sodass alle Schattierungen ineinander verflossen. Fast jede denkbare Farbe schien darunter zu sein und sich horizontal über den Himmel zu erstrecken, wobei der Rand in das Indigoblau des Nachthimmels überging.
»Das erinnert mich an die Fjorde zu Hause«, bemerkte Leif und zeichnete mit der Hand eine Welle in die Luft, um den Verlauf der Küstenlinie zu zeigen.
»Es ist wunderschön«, sagte ich. »Ich liebe die Küste, wenn sie so aussieht.«
»Dann werden wir irgendwo an einem Fjord leben«, erklärte Leif. »Vielleicht möchtest du ja ein kleines Haus am Wasser.«
Ich sagte ihm, dass ich nicht genau wisse, was das Wort Fjord bedeutet, und deswegen erklärte er mir, dass die Fjorde jene Stellen waren, wo die See tief ins Land schnitt, manchmal Hunderte Kilometer weit in die zerklüftete norwegische Küste. Daraus entstanden dann, sagte er, riesige, endlose Salzwasserseen.
Mein Herz hüpfte, als er sagte »wir werden dort leben«, aber es war fast zu viel für mich, es war eine fast zu große Hoffnung, als dass ich sie hätte ertragen können, und um es mir etwas leichter zu machen, antwortete ich mit Ironie.
»Hmmm, da bin ich mir nicht so sicher«, sagte ich. »Du hast mir gesagt, es sei kalt. Du hast gesagt, es regnet die ganze Zeit. Ich bin eine kleine Sonnenanbeterin. Ich bin mir nicht sicher, ob deine Fjorde das Richtige für mich wären.«
»Dann werden wir leben, wo immer du willst«, sagte Leif. Er stieß mich mit der Hüfte an, und ich ließ mich gegen ihn fallen, sodass mein Kopf an seiner Brust ruhte. Er legte einen Arm um mich und zog mich nur noch fester an sich.
»Ich möchte für immer hierbleiben«, sagte ich, während er mich sanft in seinen Armen wiegte.
»Dann werden wir genau hier leben«, meinte Leif lachend. »Wir werden hier leben und über die Fjorde von Santorin blicken.«
Und obwohl ich wusste, dass es nicht möglich sein würde, obwohl ich wusste, dass es nur ein Wunschtraum war, deutete
ich auf ein Haus in einiger Entfernung. »Da.
Da
möchte ich leben.«
»Dann werden wir da leben.«
»Genau«, erwiderte ich und versuchte, mich selbst in die Wirklichkeit zurückzuholen. »Es wird dunkel.«
»Ja«, sagte Leif traurig.
»Wir müssen los.«
Kaum hatten wir uns umgedreht, um uns auf den Rückweg zu machen, warf ich einen bedauernden Blick über die Schulter, aber die Sonne war längst untergegangen und die Farben verblassten bereits. Ein Gefühl der Melancholie stieg in mir auf, und voller Traurigkeit dachte ich darüber nach, dass ich diesen Tag nie wieder erleben würde. Ein aufblitzendes Licht fiel mir ins Auge, das über die verwilderte Landschaft huschte, und als ich mich danach umdrehte, drückte Leif meine Hand. Ich habe keine Ahnung, wieso oder warum, aber wir beide spürten, dass der Wagen, der uns auf dem Feldweg entgegenkam, für uns von Bedeutung war.
Zu dem Zeitpunkt war es bereits dunkel, und nur noch das Glühen des Sonnenuntergangs beleuchtete die Landschaft, und während der Wagen über die unebene Straße holperte, wanderten seine Lichter wie Suchscheinwerfer hin und her. Die sich daraus ergebende Stimmung, vielleicht, weil Suchscheinwerfer im Allgemeinen nichts Gutes bedeuteten, war eher düster.
»Mike?«, schlug ich vor.
»Es ist ein Auto, kein Buggy«, erwiderte Leif. Wir konnten den Motor hören, der nach jeder Kurve beschleunigt wurde.
»Vielleicht macht jemand eine Spritztour?«, meinte ich.
»Keine Ahnung«, erwiderte Leif ernst. »Aber ich glaube nicht, dass mir die Sache sonderlich gut gefällt.«
»Sie fahren ziemlich schnell …«, bemerkte ich. Der Wagen war bereits an den unfertigen Häusern vorbei, und wir hörten,
wie der Schotter unter den Reifen wegspritzte. »Sollten wir uns verstecken?«, fragte ich und sah mich auf der kargen Fläche um. Der nächste Baum befand sich vierzig oder fünfzig Meter entfernt, und selbst er war zu schmal, um sich dahinter zu verbergen.
»Nein«, sagte Leif. »Ich glaube nicht. Aber ich mache mir Sorgen, dass der Wagen …«
»Über die Klippen fährt?«, rief ich im selben Moment, als Leif sagte: »Ins Meer fährt.«
Er war keine hundert Meter mehr entfernt und machte keinerlei Anstalten, langsamer zu werden, deswegen rannte ich mitten auf den Feldweg und begann, meine Arme zu schwenken. Eine Sekunde später war Leif bei mir. Er hüpfte von einer Seite zur anderen und versuchte, sich in den Scheinwerferkegel zu stellen.
Das Auto fuhr immer noch auf uns zu. Der Fahrer schien weder uns noch die Klippe zu sehen, deswegen fingen wir an zu rufen. »Stopp! Stopp!
Stopp!
«
Schließlich bemerkte uns der Fahrer. Das Auto fuhr einen wilden Zickzackkurs, und als die Räder blockierten, rutschte es die letzten zwanzig Meter.
Leif riss mich aus dem Weg, und ich schlug mir die Hand vor den Mund, während ich voller Entsetzen sah, wie der Wagen auf die Klippe zurutschte.
Man sagt ja, dass manche Ereignisse in Zeitlupe geschehen. Und das stimmt. Genauso kam es mir vor. Ich hielt den Atem an und beobachtete, wie der Wagen auf die Klippe zuschlitterte, und während er immer weiterrutschte, kniff ich die Augen zu, weil ich kaum mit ansehen konnte, was da geschah.
Als er an uns vorbeikam, nicht mehr weit von uns entfernt, erkannte ich, dass es Conors Mietauto war und Conor am Steuer saß.
Der Wagen kam buchstäblich genau am Rand der Klippe zum Stehen. Es waren die letzten Büsche und blanken Felsen, die ihn aufhielten, denke ich – die den Rädern wieder Halt gaben. Und trotz allem machte ich mir Sorgen um Conor. Keuchend vor Erleichterung rannte ich zur Fahrertür.
»Conor!«, sagte ich nur, als er aus dem Auto kletterte. Ich sah sofort, dass er betrunken war.
»Himmel, Arsch!«, rief Conor, rieb sich die Nase und schniefte, während er in die Tiefe sah, die direkt vor dem Auto gähnte. »Was verflucht noch mal machst du hier draußen?«
Leif, der sich schützend an meine Seite begeben hatte, sagte: »Du wärst fast ins Meer gestürzt. Wir hatten Angst, dass du nicht mehr rechtzeitig bremsen würdest.«
»Und wer zum Teufel bist du?«, fragte Conor und rollte mit den Schultern, um sich Leif vorzunehmen. »Bist du der kleine Freund, von dem Mikey mir erzählt hat?«
»Ich bin Leif«, sagte er und streckte die Hand aus.
Doch Conor schlug Leifs Hand einfach zur Seite, dann warf er einen Blick zurück zum Wagen, als habe er dort etwas vergessen.
Ich folgte seinem Blick – ich glaube, wir beide taten es – und sahen, wie vermüllt das Innere war. Es war übersät mit Chipstüten und Sandwichschachteln, und überall lagen leere Bierdosen. Die Innenbeleuchtung glomm warm.
Und dann versetzte Conor ihm einen Faustschlag. Keiner von uns beiden sah ihn kommen, und keiner von uns beiden hatte überhaupt damit gerechnet, was Conor als Nächstes tun würde, so unvereinbar damit war sein Blick zurück zum Auto. Aber genauso geschah es. Er drehte seinen Oberkörper, um zurück zum Wagen zu sehen, und als er sich wieder umwandte, schlug er zu. Seine Faust landete direkt auf Leifs Wangenknochen und schickte ihn rücklings zu Boden.
»Conor!«, keuchte ich, aber er hatte bereits meine Hand gepackt und zog mich zur Beifahrertür. »Du kommst mit mir«, erklärte er drohend. »Du kleine Schlampe.«
»Aber …!
Conor!
«, protestierte ich und versuchte, mich seinem Griff zu entwinden und gleichzeitig zu erkennen, ob mit Leif alles in Ordnung war – er hatte noch Mühe, sich wieder aufzurappeln. »Was … tust … du?«, stieß ich hervor, während er mich brutal hinten um den Wagen herumzerrte. »Conor! Lass … mich … los …!«, schrie ich, während er am Türgriff herumfummelte. Voller Wut schlug ich ihm ins Gesicht, aber er schien es nicht einmal zu bemerken. Es hatte ungefähr genauso viel Auswirkung, als wenn eine Fliege gegen einen Elefanten fliegt. Ich sprang hoch und es gelang mir, gegen die Autotür zu treten, die er gerade aufmachen wollte, und sie flog wieder zu. Er riss meinen Arm hoch, wie es eine Mutter tun würde, deren Kind sich nicht benahm, während sie mit ihm die Straße überqueren wollte, nur tat er es so kräftig, dass ich für einen Moment glaubte, er habe mir die Schulter ausgekugelt. Ich verlor den Halt, und Conor zog mich erneut in die Höhe, wobei es ihm gleichzeitig gelang, die Tür zu öffnen. Voller Verzweiflung trat ich ihm gegen sein Schienbein. Einen Moment lang war ich stolz auf das Resultat, denn er hielt tatsächlich eine Sekunde inne, stöhnte und krümmte sich beinah. Als er sich wieder aufrichtete, bleckte er knurrend die Zähne. »Du verfluchte
Nutte
!«, sagte er leise und ließ den Türgriff los, damit er mit der Linken mein Haar packen konnte. Erst als er mir ins Gesicht schlug, tauchte Leif wieder hinter ihm auf.
»Lass sie in Ruhe«, sagte er, wobei sein skandinavischer Akzent diese Anweisung eher nach einer Frage klingen ließ.
Völlig unerwartet erstarrte Conor. Er blickte mir direkt in die Augen. Seine Nasenlöcher blähten sich, als er tief die Luft einsog, und er lächelte säuerlich, während er sich zu Leif umdrehte. »Wer. Zum.
Teufel
. Bist. Du?«, fragte er.
»Ich bin Leif«, sagte er noch einmal und klang dabei absolut und völlig unangemessen vernünftig. »Ich liebe Laura. Sie will dich nicht mehr. Du kannst jetzt nach Hause fahren. Das hier ist vorbei.«
Conor brach in schallendes Gelächter aus – er fand es ehrlich witzig, und sein Gelächter war unheimlich. »Oh, du liebst sie, ja?«, erwiderte er spöttisch. »Du liebst …
das
hier …« Er hob mein Handgelenk, als wolle er das Ding zeigen, von dem er sprach. »Das ist natürlich etwas ganz anderes, oder?«
Leif nickte. »Niemand will sich hier prügeln, Conor«, sagte er. »Wir können wie Erwachsene darüber sprechen, oder?« Er trat jetzt auf Conor zu und wirkte seltsam furchtlos, offensichtlich überzeugt, dass Tausende Jahre menschlicher Zivilisation fraglos dieses alberne Missverständnis beilegen würden. Wie ein Verhandler, der sich einem Bewaffneten näherte. »Wir bleiben also ganz ruhig, okay?«, meinte er.
»Weißt du was?«, antwortete Conor. »Ich würde wirklich nichts lieber tun, als mal mit dir darüber quatschen.« Er stieß mich so hart zur Seite, dass ich zu Boden stürzte.
»Geh einfach, Conor«, sagte ich, während ich mich aufrappelte. »Bitte. Geh einfach.«
Erneut bestand Conors Antwort aus reinem Gelächter.
»Leif heißt du also?«, sagte er und trat auf ihn zu, sodass er ihm direkt gegenüberstand. »Was ist das überhaupt für ein bekloppter Name?«, wollte er wissen und klang fast gesprächig, geradezu heiter.
Leif zuckte die Achseln. »Ich heiße so.«
Conor warf mir einen Blick zu und lächelte breit genug, sodass ich einen Blick auf seine Zähne erhaschen konnte, die im Mondlicht glänzten. Dann nutzte er den gleichen Trick, den er schon bei seinem ersten Schlag angewendet hatte, und als er sich wieder Leif zuwandte, versetzte er ihm blitzartig einen
Kopfstoß, der ihn mitten auf die Nase traf und rücklings zu Boden warf.
»Stimmt das?«, fragte er, während er vortrat und sich über Leif stellte, der am Boden lag und sich die Nase hielt, um irgendwie die plötzlich hervorschießende Blutung zu stillen. Conor beugte sich hinunter und packte Leif am Kragen seines T-Shirts. Wieder sah er sich zu mir um. »Ist das
wahr
?«, rief er.
»Ist was wahr?«, fragte ich kraftlos und unter Tränen.
»Dass ihr jetzt zusammen seid? Du und dieser Clown?«
»Nein«, sagte ich und hoffte, dadurch Leif zu retten. Aber Conor schlug ihm trotzdem gegen den Kopf.
»Ja«, erwiderte Leif tapfer, vielleicht aber auch blöd. »Ja, es ist wahr.«
Conor verzog das Gesicht, als hätten Leifs Worte ihm einen Kinnhaken verpasst. »Wie kommst du darauf, dass ich mit dir rede?«, fragte er. Wieder schlug er Leif, sodass dessen Kopf zur Seite flog.
Er blickte mich an und fragte mich mit erschreckender Ruhe: »Ich frage dich jetzt noch einmal. Ist das wahr?«
»Ja«, sagte ich und versuchte es mal mit der gegenteiligen Antwort, um Zeit zu schinden. »Ja, ich liebe ihn. Bitte lass ihn in Ruhe und geh einfach, bevor wir die Polizei rufen.«
»Die Polizei?«, fragte Conor und verzog in erschreckender Weise das Gesicht. Er ließ seinen Blick über den Horizont schweifen, als wolle er damit betonen, dass wir kaum mit irgendeiner Hilfe zu rechnen hätten, wobei er mit den Lippen schmatzte. »Die Polizei«, wiederholte er. »Natürlich. Nur zu.«
Er wandte sich wieder Leif zu, und als er die Faust hob, rannte ich auf ihn zu. Ich umklammerte seinen Hals und hängte mich an ihn, aber das schien ihn nicht einmal zu behindern. Wieder schlug er Leif, nur diesmal spürte ich den Schlag, weil er sich durch Conors Körper auf mich übertrug.
Ich versuchte, ihm gegen die Beine zu treten, versuchte, den Erfolg meines Treffers gegen sein Schienbein zu wiederholen, aber Conor machte weiter, als sei ich überhaupt nicht da oder, genauer gesagt, als würde ihm das alles ungeheuren Spaß machen, als wäre er ein Vater, der bei einer Geburtstagsparty den Riesen spielt, und alle Kinder an seinem Hals hängen.
Da Conor es unbefriedigend fand, immer nur auf Leif einzudreschen, während er am Boden lag, riss er ihn auf die Füße, doch als er erneut ausholte, packte ich stattdessen seinen Arm und hängte mich daran, wodurch er aus dem Gleichgewicht geriet.
Er taumelte und ließ Leif los, bevor er wieder Halt fand und mich mit einem Schlag seiner Rückhand davonschleuderte.
Einen Moment lang verlor ich das Bewusstsein, glaube ich. Ich hatte mir am Boden den Hinterkopf angeschlagen, und als ich wieder aufblickte, hatte Conor Leif am Kragen gepackt, ihn hochgehoben und drehte ihn gerade, sodass ich sein Gesicht nur umso besser im Mondlicht sehen konnte.
Der Anblick von Leif war entsetzlich, und bei mir begannen wütende Tränen zu fließen. Denn Leifs Gesicht war völlig zerschlagen. Blut strömt ihm aus der Nase, und seine linke Wange war aufgesprungen.
»Ich habe keine Angst vor dir«, sagte Leif, und als er sprach, sah ich, dass auch seine Zähne blutig waren.
Zu meiner Überraschung versetzte Leif Conor einen Hieb direkt aufs Auge, doch da er gut zehn Zentimeter größer war als er, blieb dieser Schlag so uneffektiv, wie es meine eigenen gewesen waren. Wenn Conor randalierte, hatte er etwas Raubtierartiges an sich. Es fühlte sich wirklich an, als versuche man ein Nashorn niederzuringen.
»Lass ihn in Ruhe!«, flehte ich. »Ich komme mit dir, Conor. Es tut mir leid. Was auch immer. Nur …
hör auf
.«
Aber es wirkte, als würde er einem vorbestimmten Ablauf folgen, als würde er von einer Art tödlichem Autopiloten gesteuert. Denn er riss Leif einfach hoch, als sei der so leicht wie eine Stoffpuppe, und versetzte ihm einen weiteren wohlgezielten Schlag.
Ich weinte nun haltlos, schluchzte wirklich, und das machte mich noch nutzloser, als ich es ohnehin schon war. Während Conor fortfuhr, gleichmäßige, gut verteilte Schläge in Leifs Magen und auf seinem Gesicht zu platzieren, taumelte ich herum und suchte nach einer Waffe, mit der ich ihn angreifen konnte, und blickte mich jedes Mal um, wenn ein Schlag sein Ziel fand.
»
Conor
… bitte …«, wimmerte ich. »Bitte. Du wirst ihn noch umbringen, wenn du so weitermachst.«
In diesem Moment entglitt Leif Conors Griff und sackte schwer zu Boden. Conor stand über ihm und rollte mit dem Kopf, um seinen Nacken zu strecken. Und einen Augenblick lang dachte ich, es sei vorbei. Ich dachte, Leif am Boden zu sehen, sei für ihn ausreichend befriedigend.
Aber bleib bloß da,
dachte ich.
Steh nicht auf.
Doch Leif hatte sich schon auf die Seite gerollt und auf alle viere erhoben. Er kroch davon. Und da fing Conor an, ihn zu treten. Er holte ein paar Schritte aus und versenkte dann die Spitze seines Schuhs mit der Präzision und der Kraft eines Strafstoßes in Leifs Magen, seinem Hintern oder seinem Rücken.
Ich lief zu ihm und begann ohne jede Wirkung mit meinen Fäusten auf Conors Rücken einzutrommeln. »Hör auf«, flehte ich ihn an. »Bitte … bitte …
hör auf!
« Und wieder stieß mich Conor so hart zur Seite, dass ich stolperte und gegen sein Auto fiel.
Leif war immer noch auf allen vieren und versuchte verzweifelt zu entkommen, aber Conor rannte auf ihn zu und trat ihm erneut in die Seite.
Leif rollte sich zu einer Kugel zusammen. »Okay«, stieß er unter Tränen hervor. »Alles okay. Du hast gewonnen.«
Darüber musste Conor nur noch mehr lachen. »Ich habe gewonnen, ja?«, erkundigte er sich, den Mund voller Verachtung verzogen.
Leif, der einen Arm gehoben hatte, um seinen Kopf zu schützen, nickte schwach. »Du hast gewonnen«, sagte er noch einmal. »Es ist vorbei.«
Conor schnaubte. »Ich habe ja noch nicht einmal richtig angefangen, Freundchen«, sagte er. Dann griff er zwischen Leifs Arme, packte dessen T-Shirt und zog ihn wieder vollständig auf die Füße.
»Du wirst ihn töten, Conor«, schrie ich.
»Das«, erwiderte Conor und lächelte mich an, »ist genau mein Ziel.«
Und in dem Moment begriff ich, dass es stimmte. Bisher waren es nur Worte gewesen, aber in dem Augenblick verstand ich, dass Conor Leif wirklich töten würde. Genau hier. Genau jetzt. Genau vor meinen Augen. Und kein Kampf, kein Flehen oder ihn gewinnen Lassen würde daran etwas ändern. Wenn ich nichts unternahm, würde Leif sterben. Den einzigen Mann, den ich wirklich geliebt hatte, würde es nicht mehr geben.
Adrenalin schoss durch meine Adern und meine Tränen versiegten. Mein Hirn schien in eine völlig unbekannte Betriebsart umzuschalten, in der ich ultragenau, mit dreifacher Geschwindigkeit und Klarheit noch einmal die Umgebung nach irgendeiner Waffe absuchte und mir das Auto ins Auge fiel.
Im Rhythmus von Conors geradezu metronomischen Schlägen suchte ich schnell das Innere ab, aber dort gab es nichts, was ich hätte nutzen können. Ich dachte darüber nach, auf ihn loszufahren, doch er hatte die Schlüssel abgezogen. Zitternd lief
ich zum Kofferraum und hoffte, dort einen Kreuzschlüssel oder einen Wagenheber zu finden, aber er war abgeschlossen.
Ich stand da und betrachtete die Szene völlig analytisch. Kraft stand mir nicht zur Verfügung. Ich besaß auch keine Waffe. Aber wenn ich es klug anstellte, besaß ich den Vorteil von Schwung, Geschwindigkeit und Überraschung.