KAPITEL
15
BECKY
Entgegen jeder Wahrscheinlichkeit schlief ich trotz Mums Versprechungen, mir alles zu offenbaren, tief und fest. Zwar hatte ich ziemlich anstrengende Träume, in denen es um Baruch und um Verkehrsunfälle mit Motorrädern und Autos ging, aber ich schlief, und das weitaus länger, als ich es seit Tagen getan hatte.
Es war halb zehn, als ich schließlich nach draußen trat. Der Tag war bereits heiß. Kein einziges Lüftchen regte sich.
Wie jeden Morgen stand ich da und starrte hinaus auf das überwältigende Blau des Horizonts. Ich bezweifelte, dass der Ausblick von Oia etwas war, wovon man jemals genug bekommen konnte oder an den man sich gewöhnte. Ich ging ehrlich davon aus, dass man dort sein ganzes Leben verbringen und trotzdem jeden Morgen denken konnte:
Wow!
Ich dachte eine Weile in diesem halb schläfrigen Zustand darüber nach, in dem man über so etwas nachdenkt. Dann beschloss ich, Baruch später darüber zu befragen, schloss unsere Unterkunft ab und ging ins Hotelrestaurant.
Mum saß ganz hinten im Raum, trank Tee und las den
Mirror
.
»Morgen!«, sagte ich, als ich den Tisch erreichte.
Zuerst schien sie überrascht, dann lächelte sie, faltete die Zeitung zusammen und legte mit einer eleganten und friedfertigen Geste ihre Hände darauf. »Guten Morgen«, erwiderte sie. »Es ist ein wundervoller Tag, nicht wahr? Der erste September!«
»Das ist es«, sagte ich und erinnerte mich daran, dass ich noch das Geschenk, das ich von zu Hause mitgebracht hatte, einwickeln musste. »Irgendwas in der Welt passiert?«
Mum sah mich einen Augenblick verwirrt an und blickte dann hinunter auf die Zeitung. »Oh«, sagte sie. »In der Zeitung? Ich weiß es nicht genau. Sie ist drei Tage alt, daher … Ich habe sie auf dem Tisch gefunden, das ist alles. Hast du gut geschlafen?«
Ich sagte ihr, das sei der Fall, und machte mich dann auf zum Buffet, von dem ich mit einem Toast, gegrillten Tomaten und einem leicht gummiartigen Spiegelei zurückkam. In der Zwischenzeit hatte die Kellnerin meine Tasse mit Kaffee gefüllt.
Eine Weile aß ich schweigend, und als diese Stille allmählich unangenehm wurde, sagte ich: »Ich habe deinen …«
Genau in diesem Moment ergriff auch Mum wieder das Wort: »Hast du meinen Zettel gefunden?«, fragte sie.
»Ja. Ja, das habe ich.«
»Es tut mir wirklich leid«, erklärte Mum und wirkte aufrichtig zerknirscht. »Ich … ich weiß nicht … es ist so ein schwieriges Thema. Für dich. Für mich. Wirklich für alle. Aber ich sollte jetzt besser damit umgehen können. Deswegen tut mir das mit gestern leid.«
Ich nickte und lächelte schwach, während ich weiteraß und damit rechnete, dass sie weiterredete und sagte, was immer sie mir erzählen wollte. Stattdessen fragte sie: »Hattest du gestern einen schönen Abend? Mit Baruch?«
Ich nickte, und sobald ich geschluckt hatte, erwiderte ich: »Ja. Es war herrlich. Er hat mich in ein ganz besonderes Restaurant mitgenommen, wo nur Griechen hingehen. Das Essen war umwerfend, und es hat nur zehn Euro pro Person gekostet.«
»Zehn Euro?«, wiederholte Mum. »Wow! Vielleicht sollten wir heute Abend dort auch hingehen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Wie ich schon sagte, es ist nur für Griechen. Mich haben sie geduldet, weil ich mit ihm zusammen dort war, aber sonst glaube ich kaum, dass ich überhaupt hineingekommen wäre.«
Mum verzog das Gesicht. »Das erscheint mir ein bisschen unfair.«
»Ich glaube, unfair ist tatsächlich, dass die Griechen nicht genug verdienen, um in einem normalen Restaurant essen zu gehen.«
»Stimmt«, sagte Mum. »Ja, natürlich. Ja, das verstehe ich. Jedenfalls hattest du einen schönen Abend. Das ist gut.«
»Ja, er war toll«, berichtete ich. Ich wollte nicht wirklich über meinen Abend mit Baruch sprechen. Ich wollte, dass sie endlich zum Punkt kam. »Du hast gemeint, du willst mir etwas erzählen«, ermunterte ich sie. »Auf deinem Zettel.«
Mum nickte und blinzelte ein paar Mal heftig. Sie räusperte sich und blickte sich im Speisesaal um, als wolle sie sichergehen, dass niemand lauschte, woraufhin ich unwillkürlich das Gleiche tat. Doch schienen wir keinerlei Interesse erregt zu haben.
Sie räusperte sich ein zweites Mal. Sie kaute auf ihrer Unterlippe. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, sagte sie schließlich. »Ich weiß nicht genau, was du wissen willst.«
Ich zuckte die Achseln und seufzte tief. Ich nahm einen Schluck von meinem Kaffee und versuchte, die richtigen Worte zu finden. »Ich weiß nicht genau …«, sagte ich. »Einfach …«
»Er war Norweger«, platzte Mum heraus und sprach so schnell, als seien die Worte ein Zug, den man verpassen konnte, wenn man sie nicht rechtzeitig zu fassen bekam. »Das wolltest du doch wissen, oder nicht? Seine Nationalität. Also er war Norweger. Und er war schlank und blond, genau wie du. Er war unglaublich sanft und freundlich. Und er war Norweger.«
Ich legte mein Besteck zur Seite, damit ich mit meinen Fingernägeln spielen konnte. Ich blickte Mum tief in die Augen, während ich darüber nachgrübelte, wie ich die beiden Geschichten zusammenführen konnte – Mums und Baruchs. Mum hielt meinem Blick ohne mit der Wimper zu zucken stand. Ihre Augen wirkten ein wenig feucht. Ich fragte mich, ob sie anfangen würde zu weinen.
Im gleichen Moment begriff ich, dass die Geschichten nicht zusammenpassen würden. Mums freundlicher, blonder Norweger war nicht Baruchs englischer betrunkener Raufbold, und damit hatte sich die Sache. Und wenn ich mir vorzustellen versuchte, wer von den beiden die wichtigeren Gründe hatte zu lügen, fiel mir darauf nur eine einzige Antwort ein.
»Ist das besser?«, fragte Mum besorgt. »Ich meine, hilft dir das?« Sie schien wirklich aufrichtig zu sein, auf der anderen Seite war sie schon immer eine gute Schauspielerin gewesen.
Mein Herz schlug schneller, und ich merkte, dass ich wütend wurde. Ich bedauerte es, dass ich dieses Gespräch in der Öffentlichkeit führte, denn ich begann richtig wütend zu werden.
Ich war wütend, weil sie so oft in der Vergangenheit meine Versuche ausgebremst hatte, darüber zu sprechen. Weil es nie einfach gewesen war, nach meinem Vater zu fragen. Ich hatte immer Tage gebraucht, um mir eine passende Frage zurechtzulegen, und dann noch ein paar, um den Mut aufzubringen, sie auch zu stellen. Und Mum hatte das Thema immer mit einer kurzen, scharfen und oft gemeinen Antwort beendet.
Ich war wütend auf den Keil, den sie zwischen uns getrieben hatte. Denn obwohl ich sie liebte und die meiste Zeit meines Lebens meine Welt sich um sie gedreht hatte, verstand ich an diesem Morgen, dass sie, genau wie bei Brian, etwas vor mir verheimlicht hatte.
Und aus dem Nichts rollte eine dritte Welle der Wut heran. Eine Wut, die ich so nachhaltig unterdrückt hatte, dass mir kaum bewusst gewesen war, dass sie existierte. Doch in diesem Moment ließ ich sie zu, und ich merkte, dass ich ziemlich außer mir war, keinen Vater zu haben – stinksauer, dass ich die Einzige von meinen Klassenkameradinnen war, die keinen hatte. Und wegen all meiner Spiele, all meiner fiktiven Väter, die Astronauten waren oder Feuerwehrmänner, kochte ich ebenfalls vor Wut.
Norweger, dachte ich plötzlich und erinnerte mich daran, dass mein vorgetäuschter Vater kurz der Präsident von Norwegen gewesen war. War daher die Lüge meiner Mutter gekommen? Hatte sie einfach versucht, an irgendein Land zu denken und mein angeblicher Präsidentenvater war in dem Land platziert worden, das ihr als Erstes einfiel? Es war schockierend genug, dass sie mich immer noch anlog. Aber sich für eine solche billige, oberflächliche Lüge zu entscheiden, fand ich beschämend.
»Becky?«, sagte Mum, runzelte die Stirn und beugte sich vor, um nach meiner Hand zu greifen. Ich zog sie zurück und merkte erst da, dass ich weinte.
Ich schluchzte nicht. Ich schniefte nicht einmal. Ich fühlte mich innerlich eiskalt, während ich dasaß, meine Mutter anstarrte und sie hasste, sie zum ersten Mal in meinem Leben wirklich hasste. Doch im Stillen, völlig gegen meinen Willen, weinte ich.
Ich nahm eine Serviette aus dem Spender auf dem Tisch und tupfte mir die Wangen ab, aber die Tränen liefen weiter – es gab nichts, was ich hätte tun können, um sie aufzuhalten. Ich
hatte das Gefühl, als sei endgültig etwas zerbrochen, als sei tief in meinem Innern etwas kaputtgegangen.
»Was ist los, Schatz?«, wollte Mum wissen.
»Ich bin es nur einfach so müde«, erwiderte ich leise. »Ich bin der ganzen Sache so
müde
.«
Mum sah mich verwirrt an, deswegen erklärte ich es ihr. »Ich bin erschöpft von deinen Lügen. Von all den Täuschungen. Von der ständigen … ich weiß nicht … der ständigen Verschleierung, das ist, glaube ich, das richtige Wort.«
»Aber ich …«, begann Mum.
»Früher habe ich immer gedacht, du wolltest mich schützen«, unterbrach ich sie.
»Das wollte ich auch. In gewisser Weise tue ich das.«
»Nur dass du es nicht tust. Du schützt dich selbst, ist es nicht so? Und das ist nicht fair, Mum.«
»Aber du wolltest es wissen und …«
»Es ist nicht fair, Mum«, wiederholte ich. »Ich bin dreiundzwanzig. Ich bin
dreiundzwanzig Jahre alt
, und ich bin der einzige Mensch, den ich kenne, der keinen Vater hat. Und du bringst es nicht einmal über dich, mir ehrlich zu sagen, wer er war?«
Meine Stimme war zum Ende des Satzes hin lauter geworden, deswegen blickten wir uns beide noch einmal im Raum um, aber niemandem schien es aufgefallen zu sein.
»Vielleicht sollten wir dieses Gespräch unten fortführen«, schlug Mum vor und deutete mit dem Kopf hinaus.
»Welches
Gespräch
fortführen?«, fragte ich spöttisch. »Das ist kein Gespräch, Mum. Es ist einfach totaler Mist. Es ist nur die neueste Ladung von völligem Blödsinn, die du mir hingeworfen hast.«
Mum schlug eine Hand vor den Mund. Sie blickte mir einen Moment lang in die Augen und tupfte mit ihrem kleinen Finger eine einzelne Träne fort, die sich in ihrem Augenwinkel
gebildet hatte. »Ich weiß nicht, was du von mir willst«, sagte sie schließlich.
Ich lachte bitter. »Oh doch, das weißt du«, antwortete ich. »Du weißt ganz genau, was ich will. Aber du bist einfach nicht bereit, es mir zu geben.«
»Ich habe es dir doch gesagt«, beharrte Mum. »Ich weiß, wir sind … hör mal, ich weiß, dass ich dir in der Vergangenheit ausgewichen bin. Und vielleicht war das falsch. Ich meine, als Mutter ist es kompliziert. Dein Kind ist zu jung, um wirklich zu verstehen, und auch zu jung, um es überhaupt wissen zu müssen. Und plötzlich bist du nicht mehr zu jung, aber es fühlt sich an, als sei es nun zu spät. Es gibt einfach nicht den richtigen Zeitpunkt für solche Dinge, aber ich habe es dir gerade gesagt.«
»Norweger?«, erwiderte ich voller Verachtung.
»Ja«, sagte Mum und nickte ernsthaft.
»War er … ich weiß nicht … war er vielleicht auch Präsident?«
Mum runzelte die Stirn. »Wie bitte?«
»War er Präsident? Der Präsident von Norwegen vielleicht?«
»Nein!«, entgegnete Mum. »Nein, natürlich war er das nicht. Jetzt bist du aber wirklich albern. Er war Student. Und er hieß Leif.«
Ich schnappte nach Luft. Mir blieb buchstäblich der Mund offen stehen. Ich dachte, Himmel, ich kenne dich einfach überhaupt nicht.
»Was?«, fragte Mum offensichtlich verärgert.
Ich schob meinen Stuhl zurück und erhob mich, aber sie beugte sich über den Tisch und ergriff sanft mein Handgelenk. Ich wusste nicht, wieso – vielleicht lag es an dem Kontakt mit ihrer Haut oder Jahre der Erziehung zum Gehorsam –, jedenfalls setzte ich mich wieder hin, allerdings verschränkte ich die Arme vor der Brust.
»Was ist los?«, fragte Mum. »Rede mit mir.«
»Ich kann dir nicht glauben«, sagte ich. »Ich kann nicht glauben, dass du das eben getan hast.«
»Was getan hast?«
»Einen Namen für ihn erfunden. Ich meine, du hast nur dreiundzwanzig Jahre gebraucht, um damit herauszurücken. Ist Leif überhaupt ein norwegischer Name? Weißt du das tatsächlich?«
»Natürlich ist er das«, entgegnete Mum. »Ich denke mir nichts aus, Schatz. Er war Norweger. Er hatte nichts mit einem angeblichen Präsidenten zu tun, aber er war Norweger. Und sein Name war Leif. Ich lüge dich nicht an.«
»Nein«, sagte ich. »Denn deine eigene Tochter anzulügen, das wäre wirklich schockierend, oder nicht?«
»Es ist die Wahrheit.«
»Engländer, Mum!«, spie ich ihr entgegen. »Er war
Engländer
!«
Mum runzelte die Stirn und formte tonlos mit den Lippen: »Was?«
»Er war Engländer«, sagte ich erneut und fühlte mich stolz und aufrichtig und sehr zufrieden. »Und er war nicht
sanft
. Er war ein Trunkenbold, der in Kneipenschlägereien verwickelt wurde. Baruchs verdammte Großmutter erinnert sich nur zu gut an ihn. Sie erinnert sich, dass es fünf Männer gebraucht hat, um ihn zu Boden zu bringen, und sie erinnert sich daran, dass er hier in Oia über die Klippe gefahren ist. Sie erinnert sich sogar an das Datum, verdammt noch mal, fast auf die Woche genau. Also lügst du. Du lügst mich nach all diesen Jahren
immer noch
an.«
Ich sah ihr direkt in die Augen, bis sie den Blick abwandte. Bebend holte sie Luft und bedeckte ihre Augen mit einer Hand. Schweigend bewegten sich ihre Kiefermuskeln, und ich dachte:
Scheiß drauf, es reicht! Dreiundzwanzig Jahre von diesem Mist sind genug.
Wieder wollte ich aufstehen, nur diesmal war ich innerlich ganz ruhig. Ich hatte das Gefühl, dass sich die Beziehung zu meiner Mutter ihrem Ende zuneigte, und ich wollte den Augenblick genießen, so wie man es genießt, wenn man seine Zunge in einen Zahn drückt, der ein Loch hat. Ich wollte den Schmerz spüren. Ich wollte das Messer umdrehen, auch wenn das Messer ich selbst war.
Ich beugte mich vor, packte den Tisch mit beiden Händen und wartete darauf, dass sie mich ansah. Ich wollte ihr sagen, dass ich sie hasste. Ich wollte ihr sagen, dass unsere perfekte kleine Beziehung, die nur auf ihren Lügen beruhte und darauf, dass ich so tat, als würde ich es nicht bemerken, vorbei war. Aber ich wollte, dass sie mich zuerst ansah.
Als sie schließlich die Hand von den Augen nahm und über ihren Mund legte und sich mir zuwandte, sprach sie tatsächlich. »Das war Conor«, sagte Mum, senkte die Hand und sprach jetzt lauter. »Und er war absolut kein Engländer. Er war Ire.«
»Na toll!«, meinte ich. Und dann: »Wer zum Teufel ist Conor?«
»Conor?«, erwiderte Mum.
Aber plötzlich war es mir alles zu viel – meine Gefühle übermannten mich. Ich fuhr herum und warf dabei beinah meinen Stuhl um. Dann stürmte ich aus dem Restaurant. Mum kam mir nachgelaufen und stolperte die Stufen herunter.
»Geh weg!«, sagte ich zu ihr, als wir unsere Unterkunft erreichten. »Ich packe nur ein paar Sachen, dann bin ich den Tag über weg. Bis dahin lass mich verflucht noch mal einfach in Ruhe.«
Sobald ich die Tür geöffnet hatte und hineingegangen war, folgte Mum mir natürlich. »Hör zu, ich habe dich angelogen«, sagte sie von der Tür meines Schlafzimmers aus. »Das stimmt.«
»Das weiß ich!«, erklärte ich und wurde lauter, da wir nun allein waren. »Darauf bin ich auch schon selbst gekommen.«
»Becky, bitte setz dich hin«, sagte Mum. »Was suchst du überhaupt da drin?«
Ich durchwühlte meinen Koffer, und in Wirklichkeit hatte ich längst vergessen, wonach ich suchte. Ich wollte nur irgendwie meiner Mutter aus dem Weg gehen.
»Becky«, sagte sie, setzte sich auf mein Bett und versuchte, meinen Arm zu berühren. »Becky!«
»Was?«, fuhr ich sie an und ließ die Sachen fallen, die ich in der Hand hielt, und fuhr zu ihr herum. »Möchtest du, dass ich mich hinsetze, Mutter, damit du mir noch ein Märchen erzählen kannst? Steht das heute in deinem Terminkalender?«
»Es
hat
noch einen anderen Mann gegeben«, sagte Mum. »Sein Name war Conor. Er war ein irischer Boxer. Nicht Engländer, sondern Ire. Aber er ist nicht dein Vater.«
»Weil mein Vater ein Norweger namens Leif ist?«, entgegnete ich sarkastisch.
»Ja«, sagte Mum. »Das versuche ich dir doch die ganze Zeit zu erklären. Und es ist die Wahrheit.«
Ich erstarrte einen Moment, während ich mit mir rang, weil ich einerseits mehr erfahren und andererseits nichts mehr hören wollte, das aus ihrem verhassten Lügenmund kam. Es war die zweite Option, die gewann. »Kannst du mich bitte einfach allein lassen?«, sagte ich. »Ich bin erwachsen, und das hier ist mein Zimmer, und ich bitte dich zu gehen. Also geh bitte einfach, ja?«
Mum kaute einen Augenblick auf ihrer Unterlippe, dann schüttelte sie den Kopf, stand auf, verließ das Zimmer und schloss sanft die Tür hinter sich.
Fast eine Stunde lag ich auf meinem Bett. Ich starrte hinauf zur Decke, zuerst noch viel zu wütend, um klar zu denken. Später, als ich mich beruhigte, begann ich das Ganze zu analysieren, oder versuchte es zumindest anhand der Informationen, die ich hatte zusammentragen können. Aber wenn sie mir
die Wahrheit gesagt hatte, dann hatte ich jetzt weitaus mehr Fragen, als Antworten dabei herausgekommen waren. War Conor derselbe wie Baruchs betrunkener Engländer? Wer war von der Klippe gefahren? Woher kannte meine Mutter Conor oder auch Leif überhaupt? Und wenn mein Vater Leif war und nicht Conor, woher kam es, dass er ebenfalls tot war? Hatten sie vielleicht zusammen im Auto gesessen?
Ich war mir nicht sicher, ob ich irgendetwas davon glauben sollte, aber ich bedauerte es, dass ich nicht ruhiger geblieben war. Ich bedauerte es, dass ich sie nicht mehr hatte erzählen lassen.
Ich lag da und überlegte mir, wie ich dort anknüpfen konnte, ohne das Gesicht zu verlieren, wozu es nicht gehörte, dass ich mich entschuldigte, als Mum sanft an der Tür kratzte.
»Becky?«, rief sie. »Kann ich reinkommen?«
Mein Stolz ließ es nicht zu, dass ich antwortete, deswegen wartete ich einfach, dass sie die Tür öffnete, denn ich wusste aus Erfahrung, dass sie es tun würde.
Nach ein paar Sekunden schwang die Tür quietschend auf, und Mums Gesicht erschien. Sie hatte ganz verschmierte Augen und ich konnte sehen, dass sie lange geweint hatte. »Schläfst du?«, fragte sie.
»Kaum!«, erwiderte ich.
»Kann ich dann mit dir sprechen?«
Ich sagte nicht, dass sie es könne, aber ich sagte auch nicht Nein. Und so schlich sie ins Zimmer und setzte sich auf den Bettrand, mit einem Bein auf dem Boden, damit sie mich ansehen konnte. »Du bist im Recht, wütend zu sein«, sagte sie sanft.
»Das weiß ich.«
»Ich habe dich angelogen.«
»Das weiß ich auch«, sagte ich. Beim Klang meiner eigenen Stimme hatte ich plötzlich ein schlechtes Gewissen. Nichts
kann einen so schnell wieder zu einem fünfjährigen, schmollenden Kind machen wie ein Streit mit der eigenen Mutter, aber mit dreiundzwanzig hatte ich zumindest angefangen, mich selbst dabei zu erwischen.
»Willst du nun also, dass ich es dir erzähle, oder nicht?«, fragte Mum.
Ich zuckte die Achseln und überlegte, wie ich sie ermutigen konnte, ohne ihr gleichzeitig vollständig zu vergeben.
»In Ordnung«, sagte Mum und war im Begriff, sich wieder zu erheben. »Vielleicht später dann.«
»Ich will es ja«, sagte ich zu ihr und griff nach ihrem Arm, um sie zurückzuhalten. »Aber nur, wenn es die Wahrheit ist, Mum. Ich glaube nicht, dass ich noch irgendwelche Lügen ertragen könnte. Ich glaube auch nicht, dass unsere Beziehung das könnte.«
»Die Wahrheit also«, wiederholte Mum und setzte sich wieder. »Natürlich.«
Sie rutschte einen Moment auf dem Bett herum, dann leckte sie sich über die Lippen und begann zu reden.
»Also ich bin nicht mit Tante Abby weggefahren. Ich habe dir gesagt, dass ich mit ihr zusammen unterwegs war, aber das stimmt nicht. Ich bin mit Conor gefahren. Ich bin nicht besonders stolz darauf, weswegen ich dir wahrscheinlich … Aber ich bin mit Conor gefahren. Ich hatte ihn ein paar Wochen zuvor kennengelernt, und ich dachte dämlicherweise, ich sei in ihn verliebt. Natürlich war ich das in keiner Weise. Ich war verknallt in ihn, nennt man das glaube ich. Wenn er wollte, konnte er sehr charmant sein. Und ich hatte keine Ahnung, wie es sich tatsächlich anfühlt, wenn man verliebt ist. Als wir hier ankamen, habe ich sehr schnell erkannt, dass er überhaupt nicht nett war. Er war sogar ganz im Gegenteil absolut schrecklich.«
»Du willst mir also sagen, du bist mit einem Typen nach Griechenland gefahren, den du kaum kanntest?«, fragte ich.
Mum nickte. »Ich war dumm. Und ich war unreif. Und unerfahren. Und wollte unbedingt mal etwas Abstand von deiner Großmutter haben. Und zuerst hat er nett auf mich gewirkt. Er war großzügig – er hat die ganze Reise bezahlt –, und ich wollte schon immer mal hierherkommen. Außerdem gefiel mir der Gedanke, mal einen richtigen Freund zu haben. Mit all diesen Dingen habe ich mich überzeugt, denke ich. Ich weiß es nicht wirklich. Ich kann es auch nicht erklären. Manchmal tut man Dinge, die nicht logisch sind. Manchmal machen wir Fehler. Aber ich habe ihn völlig falsch eingeschätzt.«
»Okay …«, sagte ich langsam.
»Er hat viel getrunken«, fuhr Mum fort. »Er war Alkoholiker, denke ich. Es war das erste Mal, dass ich jemanden mit einem wirklich ernsthaften Alkoholproblem kennengelernt habe. Und er ist sehr grob geworden, wenn er etwas getrunken hatte. Einmal hat er sich mir aufgezwungen. Und er hat mich ein paar Mal geschlagen.«
In diesem Moment setzte ich mich auf, lehnte mich gegen das Kopfende und zog die Knie unter mein Kinn. »Er hat dich geschlagen?«, fragte ich. »Aber das ist ja schrecklich.«
Mum nickte traurig. »Ich weiß. Es
war
schrecklich. Jedenfalls hat er mir eines Abends ins Gesicht geschlagen. Wir waren in einer Taverne, und ich bin hingefallen. Er war nicht nüchtern. Er war sturzbetrunken, deshalb … Ich meine, das ist natürlich keine Entschuldigung. Ich weiß nicht, warum überhaupt … Jedenfalls hat er mich geschlagen, und ich bin hingefallen. Ich habe mir den Ellbogen aufgeschlagen und hatte einen blauen Fleck am Kinn. Und dieser Norweger, der hat … nun ja … er hat mich in gewisser Weise gerettet. Er war so ein netter Kerl, Becky. So freundlich und sanft. Alles das, was Conor nicht war.«
»Und deshalb hast du am Ende auch mit ihm geschlafen?«
Mum verzog gequält das Gesicht.
»Es tut mir leid, ich will damit nichts Besonderes sagen«, meinte ich. »Es ist nur …«
»Es klingt einfach ein bisschen brutal«, sagte Mum. »Es ist sehr langsam passiert. Er hat … schon irgendwie auf mich aufgepasst. Conor hat mir meinen Reisepass abgenommen und mein Geld, und Leif hat mir geholfen, beides zurückzubekommen. Und er hat mir den schönsten Geburtstag beschert, den ich jemals erlebt habe. Für mich war es wirklich die schrecklichste Zeit meines Lebens, aber Leif hat alles gerettet.«
»Und dieser Leif ist mein Vater?«
Mum nickte. »Du bist nicht an meinem Geburtstag gezeugt worden. Sondern am Morgen danach.«
»Aber woher weißt du das? Ich meine, bist du dir sicher? Woher willst du wissen, dass es nicht dieser Conor war?«
Mum zuckte die Achseln. »Ich wusste es nicht. Zuerst nicht. Aber als du geboren wurdest, hast du genauso ausgesehen wie Leif. Blond und mit blauen Augen. Deine langen Ärmchen und Beinchen. Conor hatte mehr die Form … einer Bulldogge. Er war klein und stämmig und hatte rote Haare. Wogegen Leif wie eine Gazelle war, falls du weißt, was ich meine. Und deswegen hatte ich keinerlei Zweifel mehr, sobald ich dich gesehen habe.«
»Und dieser Conor?«, wollte ich wissen. »Wo kam der her? Ich meine, wo hast du ihn kennengelernt?«
»Auf einer Party«, erwiderte Mum schlicht. »Auf einer großen Party unter freiem Himmel in Northampton. Ich bin mit deiner Tante Abby dort gewesen. Sie ging mit einem Kerl, der damals den DJ kannte, und sie hat mich mitgeschleppt. Und dort habe ich Conor kennengelernt. Ich war betrunken. Und hatte auch anderes Zeug genommen. Mein Urteilsvermögen war nicht besonders gut, glaube ich.«
»Du warst
bekifft
?«, fragte ich mit großen Augen. »Willst du das damit sagen? Du warst bekifft?«
»Nicht richtig«, erwiderte Mum.
»Nicht richtig?«, wiederholte ich
»Hör mal …« Mum seufzte und verdrehte die Augen. »Okay, wie auch immer. Deine Tante Abby hat mich überredet, diese Pille zu nehmen, okay? Weil mir die Musik nicht gefallen hat.«
Ich verschloss mit einer Hand meinen Mund und blickte meine Mutter fasziniert an. »Reden wir von einer
Rave
-Party?«
Mum nickte kaum merklich.
»Und die Pille … sprechen wir von Ecstasy?«
Wieder nickte Mum, und sie sah aus, als täten ihr die Zähne weh.
Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Denn dies war bei Weitem die unfassbarste Geschichte, die meine Mutter mir je erzählt hatte, und trotz dieser Unfassbarkeit fühlte sie sich an, als sei es auch die wahrscheinlichste. Ungeachtet meiner selbst fand ich es schwer, ihr nicht zu glauben.
»Meine Mutter hat auf einem Rave eine Pille geschmissen? Hat einen betrunkenen Conor kennengelernt? Und ist mit ihm nach Griechenland durchgebrannt?«, fragte ich und baute mir langsam ein Bild zusammen.
Wieder nickte Mum.
»Und dieser Leif hat dich gerettet.«
»Ja, so ziemlich war es das.«
»Also hast du mit ihm geschlafen?«
»Nein, ich habe nicht mit ihm geschlafen, weil … Ich habe mit ihm geschlafen, weil ich mich verliebt hatte. Weil er innerlich einfach wunderbar war und äußerlich auch. Weil er der beste Mensch war, der mir jemals hat passieren können. Weil er das
einzig
Gute war, das mir jemals passiert war.«
»Okay«, erwiderte ich. »Tut mir leid. Ich hab’s nicht böse gemeint.«
»Schon gut«, sagte Mum. »Ich weiß, wie es sich anhört. Deshalb …«
»Aber wer ist über die Klippe gestürzt? War das Leif? Oder Conor? Oder beide?«
Mum wandte den Blick ab und blickte zur Tür. Ich wartete einen Moment, bevor ich sie drängte: »Mum?«
Als sie mich wieder ansah, bemerkte ich, dass sie weinte. Ihre Schultern bebten, als habe sie Schluckauf.
»Mum«, sagte ich sanft, rutschte an ihre Seite und legte einen Arm um ihre Schultern. »Ich weiß, das ist alles … Eigentlich kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, wie schrecklich es gewesen sein muss. Aber ich muss wissen, was mit diesen Leuten passiert ist. Wer ist über die Klippe gefahren?«
»Conor«, hauchte sie durch ihre Tränen. »
Conor
ist über die Klippe gefallen.«
Die Offenbarung führte zu einem weiteren Tränenausbruch, was uns zwang, eine Pause zu machen, und um ehrlich zu sein, hatte ich auch nichts dagegen. Ich war von Gefühlen überrannt und zitterte und war fast ohnmächtig bei dem Gedanken, was vielleicht noch herauskommen würde. Ich brauchte selbst ein paar Minuten, um mich zu beruhigen.
Doch sobald Mum ihr verschmiertes Make-up entfernt und uns jedem eine Tasse Tee gemacht hatte, schoben wir die Liegestühle hinaus und redeten weiter.
»Ich kann mich nicht erinnern, was ich gerade sagen wollte«, meinte Mum, nippte an ihrem Tee und warf mir aus dem Augenwinkel einen Blick zu, bevor sie wieder hinaus aufs Meer sah.
»Conor ist über die Klippe gestürzt«, sagte ich und hörte erst, wie brutal diese Worte klangen, nachdem sie ausgesprochen waren. »Tut mir leid«, fügte ich hinzu. »Aber da waren wir.«
»Ja«, sagte Mum mit einer seltsam strahlenden Stimme, als würde sie mir Kindergeschichten erzählen. Es klang, als hätte
sie sich Mühe gegeben, einen passenden Ton zu finden, sich dabei aber vertan und den falschen erwischt. »Ja, das stimmt.«
»Ist er betrunken gefahren?«, wollte ich wissen. »Ist er deshalb von der Klippe gestürzt?«
Mum nickte. »Ja, etwas in der Art«, sagte sie.
»Aber Leif, war er bei ihm?«
»Mein Gott, nein!«, entgegnete Mum, als würde sie allein der Gedanke entsetzen. »Warum hätte Leif bei ihm sein sollen?«
Ich zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht«, sagte ich. Und dann: »Aber warte bitte eine Sekunde, ja? Ich muss nur …« Ich sprang auf und rannte hinein, um meine Zigaretten und mein Feuerzeug zu holen. Ich ging davon aus, dass Mum mich zum ersten Mal wegen des Rauchens nicht ermahnen würde, und ich hatte recht.
Sobald ich zurück war, setzte ich mich wieder und zündete mir eine an. »Also was ist mit Leif passiert? Mum! Was ist mit meinem Vater passiert?«
Mum seufzte tief. »Ich habe mich innerlich so gewunden, dir das zu erzählen«, sagte sie. »Das ist … Also wahrscheinlich liegt es daran, dass es so lange gedauert hat, nehme ich an.«
»Du hast dich gewunden, mir
was
zu erzählen?«
»Es ist Folgendes … Ich weiß es nicht. Ich bin mir nicht sicher, wie du reagieren wirst, das ist meine Sorge.«
»Erzähl es mir einfach, Mum«, sagte ich. »Wir haben es bis hierhin geschafft. Jetzt kannst du auch das noch tun.«
»Ja. Ja, wahrscheinlich sollte ich das lieber.«
Ich zog an meiner Zigarette und blies den Rauch nach rechts. »Also Leif, Mum. Komm jetzt. Was ist passiert?«
Als sie weiterhin schwieg, drehte ich mich um und musterte ihr Gesicht. Sie fuhr mit der Zunge über ihre Zähne und seufzte und schluckte abwechselnd. »Ich habe ihn verloren«, sagte sie schließlich. »Ich vermute, man könnte sagen, ich habe ihn verloren.«
»Verloren an …?«
»An … eigentlich die Umstände.«
Ein Zittern überlief mein Rückgrat, denn erst jetzt dämmerte es mir, dass nun die größte ihrer Lügen kommen würde. »Er ist gar nicht tot, oder?«, fragte ich zaghaft und versuchte, wie sich die Worte auf meiner Zunge anfühlten.
Mum schüttelte den Kopf.
»Ist das ein Nein?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Mum. »Das ist die Wahrheit.«
»Wie kannst du das nicht wissen?«, fragte ich und kämpfte gegen ein erneutes Aufflackern meiner Wut an, die sich bereits am Horizont zeigte. »Entweder ist er tot oder er ist es nicht.«
»Ich habe ihn aus den Augen verloren, Schatz. Das ist passiert.«
Ich zwickte mir mit Daumen und Zeigefinger in die Nasenwurzel und wiederholte ihre Worte mit monotoner Stimme: »Du hast ihn aus den Augen verloren.«
»Er … Alles ist danach völlig aus dem Ruder gelaufen, verstehst du? Nach dem Unfall. Conor war gestorben. Es mussten alle möglichen Vorkehrungen getroffen werden. Ich musste mit der Polizei sprechen. Leifs Fähre fuhr einen Tag, bevor mein Flug ging. Er hat in Norwegen gelebt. Ich in London …«
»Du hast dir seine Adresse nicht besorgt? Willst du mir das sagen? Dass ich keinen Vater habe, weil du dir nicht die Mühe gemacht hast, seine Adresse zu besorgen?«
»Nein, das
habe
ich«, erwiderte Mum und wischte eine Träne fort, die ihr die Wange herunterlief. »Ich
habe
sie bekommen. Natürlich habe ich das. Aber auf dem Weg nach Hause ging mein Koffer verloren. Ich musste in Athen umsteigen, und der Koffer sollte mir folgen. Aber das hat er nicht getan. Er ist nie wieder aufgetaucht. Und seine Adresse – der Zettel mit seiner Adresse … also er war in dem Koffer.«
»Du willst mich an der Nase herumführen«, sagte ich mit zitternder Stimme, während ich zwischen Wut und Tränen schwankte.
Mum schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid«, sagte sie.
»Dann lebt er also?«
»Irgendwo, wahrscheinlich.«
»Hast du jemals
versucht,
ihn zu finden?«, wollte ich wissen, und meine Stimme wurde lauter, als die Wut sich ihrer erneut bemächtigte.
»Du weißt, dass ich das habe, Schatz. Was glaubst du, warum wir nach Bergen gefahren sind?«
»Er ist also in Bergen? So viel wissen wir?« Im Kopf dachte ich schon an das Internet und norwegische Wählerlisten.
»Das war er. Vor zwanzig Jahren … jetzt ist er es wahrscheinlich nicht mehr.«
»Und das Internet?«, fragte ich. »Hast du ihn überhaupt mal gegoogelt?«
»Das kann ich nicht«, sagte Mum.
»Natürlich kannst du das. Ach,
du
kannst es wahrscheinlich nicht. Aber ich kann. Was ist mit Facebook und LinkedIn und Twitter und …«
»Tut mir leid«, unterbrach mich Mum. »Bitte sei nicht böse auf mich.«
»Das bin ich nicht«, sagte ich. »Ich denke nur darüber nach, wie …«
»Ich kenne seinen Namen nicht«, sagte Mum. »Es tut mir leid. Aber ich habe nie seinen Nachnamen gewusst.«
»Oh Himmel, Mum!«, rief ich aus und bedeckte beide Augen mit meinen Händen.
Es gelang mir, meiner Mutter noch ein paar Fetzen an Informationen aus der Nase zu ziehen, bevor sie sich zum Schlafen in ihr Bett zurückzog. Aber sie schien nicht viel mehr zu wissen, und wenn ich ehrlich bin, war ich mit dem Herzen nicht mehr dabei.
Ich fühlte mich, was die ganze Sache anging, betrogen und ziemlich deprimiert. Man hätte mir wenigstens ein paar Sekunden Hoffnung geben können, dass dieses Thema, von dem ich immer geträumt hatte, das mich meine ganze Kindheit im Geheimen beschäftigt hatte, doch noch zu lösen war. Aber sobald mir die Möglichkeit in Griffweite schien, hatte meine Mutter sie mir wieder vor der Nase weggeschnappt. Denn ohne Nachnamen, da hatte sie recht, gestaltete sich das Ganze zur unerfüllbaren Aufgabe.
Aus dem einzigen Grund, dass ich etwas Raum für mich brauchte, um nachzudenken, oder – vielleicht noch mehr – etwas Raum, um mich mies zu fühlen und mich im Selbstmitleid zu suhlen, nahm ich meine Schwimmsachen und den Schlüssel vom Roller und ließ Mum zurück, damit sie ihren Mittagsschlaf halten konnte. Aus reiner Höflichkeit lud ich sie ein, mir nachzukommen, doch in einer Weise, dass ihr nichts anderes übrig bleiben würde, als abzulehnen.
Ich fuhr um die Landzungen von Oia herum und fragte mich, ob Conor wohl hier verunglückt war oder eher dort drüben, und als ich zu einem Schild kam, das zum Strand zeigte, hielt ich an.
Ich mietete mir eine Sonnenliege und ging ein paar Mal schwimmen. Ich bestellte mir sogar ein Sandwich und ein Bier an einer Strandbar. Aber ich tat es alles ohne jegliches Vergnügen. Ich fühlte mich benommen und abgeschottet von meiner Umgebung, als sei ich eingeschlafen und in einer Blase wieder aufgewacht. Das Gefühl ähnelte in ganz seltsamer Weise
dem Kummer nach einer Trennung. Der Trauer, die ich verspürt hatte, als auch Brian uns verlassen hatte.
Ich dachte an Mums Beziehung mit Brian. Denn wenn dieser Leif die große Liebe im Leben meiner Mutter gewesen war, ergab die halbherzige Ehe mit Brian plötzlich viel mehr Sinn.
Gegen fünf, als ich mich gerade auf die Rückfahrt vorbereitete, bekam ich eine SMS von Baruch, ob ich Zeit hätte, mit ihm essen zu gehen.
Da ich an Mum dachte und daran, wie aufgeregt sie gewesen war, zögerte ich einen Moment, dann dachte ich daran, dass sie die Adresse meines Vaters verloren hatte, und nutzte die Wut, die dieser Gedanke auslöste, um zu rechtfertigen, was ich wirklich tun wollte. Also schrieb ich ihm zurück: Ja.
Seine Antwort kam fast sofort.
Als ich zurück in unsere Unterkunft kam, saß Mum auf einem Liegestuhl und las in einem ihrer Romane. »Hallo Fremde!«, sagte sie mit ihrer künstlich aufgekratzten Stimme. »Hattest du Spaß?«
Ich sagte ihr, dass es schön gewesen sei und dass ich einfach am Strand gewesen war.
»Ich war einkaufen«, sagte Mum. »Ich dachte, wir könnten am Abend vielleicht zur Abwechslung mal picknicken. Ich habe ein paar wunderbare reife Tomaten und …«
»Ich habe zugesagt, ich würde mit Baruch Abend essen«, unterbrach ich sie, bevor sie noch weiterreden konnte. »Ist das in Ordnung für dich?«
»Oh … natürlich.« Mum wirkte, als sei sie zwar sehr tapfer, allerdings überhaupt nicht erfreut über diese Neuigkeiten. »Natürlich, das ist völlig in Ordnung.«
»Du bist okay? Bist du dir sicher?«
Mum nickte. »Ich habe mich richtig festgelesen«, sagte sie und zeigte mir das Cover ihres Romans. »Also ist bei mir alles in Ordnung. Es geht nur darum … weißt du … mich ein bisschen abzulenken.«
»Aber morgen essen wir zusammen, okay? Wir verbringen deinen ganzen Geburtstag zusammen. Machen irgendwas Schönes.«
»Sicher, Süße«, erwiderte Mum. »Natürlich. Du kannst ja deinen Baruch nach irgendeiner Empfehlung fragen.«
Vielleicht eine Stunde lang saßen wir nebeneinander und lasen, bis sich Mum – ich denke von der Atmosphäre peinlich berührt, die unangenehm blieb – auf den Weg die gefürchteten Stufen hinunter machte, um schwimmen zu gehen.
Als ich die Straßenebene erreichte, stand Baruch vor dem Laden und redete mit Damon. Also rauchten wir drei noch zusammen und plauderten eine Weile, bis Baruch etwas auf Griechisch zu Damon sagte und der darauf sofort verschwand.
»Er ist wie ein kleiner Bruder«, erzählte mir Baruch. »Wenn du ihm nicht sagst, dass er abzischen soll, verschwindet er nie. Und? Wollen wir nach Fira?«
»Sicher«, meinte ich. Ich hatte noch keinerlei Zeit in Santorins Hauptstadt verbracht und war ohnehin noch ganz von der Geschichte mit meinem Vater gefangen. Es war mir wirklich völlig egal, wo wir hinfuhren. »Aber nur, wenn ich dich irgendwo zum Essen einladen darf«, fügte ich hinzu.
Baruch verzog das Gesicht. »So machen wir Griechen das nicht«, sagte er.
»Dann ist es sehr gut, dass ich keine Griechin bin«, erwiderte ich. »Komm schon. Das wird schön.«
Die Fahrt entlang der Küste war ausgesprochen angenehm. Baruch fuhr ganz gemütlich und wurde zwischendurch auch mal langsamer, um mir Dinge zu zeigen, doch ich war immer noch mit meinen Gedanken beschäftigt – immer noch aufgewühlt davon, wie wenige Informationen ich über meinen Vater besaß, und im Moment fiel es mir schwer, damit umzugehen.
Sobald wir das Motorrad abgestellt hatten und durch die Straßen von Fira schlenderten, bemerkte Baruch meine seltsame Stimmung. Ich denke, ich habe wahrscheinlich an den falschen Stellen meinem Erstaunen oder meiner Begeisterung Ausdruck verliehen, weil ich Mühe hatte, ihm zuzuhören. Er fragte mich, was los sei.
Und so erzählte ich ihm so ziemlich die ganze Geschichte. Ich erklärte, dass ich entdeckt habe, mein Vater sei doch gar nicht tot – dass er nicht von einer Klippe in Oia gestürzt sei. Ich erzählte ihm von dem geheimnisvollen Leif, der verschwunden war und dessen Nachname, wie man glaubte, vielleicht mit dem Buchstaben V beginnen könnte oder sogar mit V-I-L und der früher einmal in Bergen gelebt hatte, über den meine Mutter aber sonst nichts mehr wisse.
Das einzige Detail, das ich absichtlich verschwieg, war die Tatsache, dass Conor ebenfalls der Liebhaber meiner Mutter gewesen war, wenn auch nur kurz. Das war etwas, womit ich selbst meine Mühe hatte, und es gab keinen Grund, beschloss ich, es auch noch an die große Glocke zu hängen.
Als wir das Restaurant erreichten, das Baruch ausgewählt hatte, eine Taverne, von der man einen Blick über den See eines Einsturzkraters hatte, erreichte ich das Ende meiner Geschichte. Es war mehr ein Monolog gewesen, und ich machte mir Sorgen, dass ich ziemlich selbstsüchtig gewesen sein musste.
Baruch machte »Hmm« und stellte die Eine-Million-Euro-Frage: »Glaubst du ihr?«
Ich musste lachen, und dieses Lachen, es war das erste am heutigen Tag, fühlte sich gut an – wie eine Art Befreiung. »Genau darum geht es, oder nicht?«, meinte ich. »Sie hat mir so viele verschiedene Versionen erzählt.«
»Mir kommt eigentlich nur der Koffer komisch vor«, sagte Baruch. »Ich habe noch nie gehört, dass sie einen Koffer verlieren.«
»Wirklich nicht?«, fragte ich. »Oh, das passiert allerdings. Ich höre es oft. Besonders wenn sie von einem Flug zum nächsten transportiert werden.«
»Sicher, aber sie
finden
den Koffer dann auch immer wieder«, entgegnete Baruch. »Er wird nur später nachgeliefert, oder?«
»Es sei denn, du vergisst, deine Adresse daraufzuschreiben. Mum ist berühmt dafür, solchen Kleinkram zu vergessen. Aber um ehrlich zu sein, ich habe meine auf dem Flug hierher auch nicht aufgeklebt.«
Als wir das Restaurant betraten, wurden wir von einem Kellner begrüßt, der Baruch offensichtlich kannte. Er führte uns zum letzten unbesetzten Tisch, der direkt am Geländer stand und von dem man über die ganze Bucht blicken konnte.
»Toller Blick, was?«, fragte Baruch, sobald wir uns gesetzt hatten.
»Ja«, stimmte ich ihm zu. Meine Frage über den Ausblick fiel mir wieder ein, und da wir im Moment über nichts anderes sprachen, fragte ich ihn danach. Seine Antwort war, nehme ich an, ziemlich vorhersehbar, indem er sagte, dass er ihn an manchen Tagen bemerkte und an anderen wieder nicht. Das ergab für mich absolut Sinn, denn an diesem Abend war ich derart mit anderen Dingen beschäftigt gewesen, dass mir der Blick gar nicht aufgefallen war, bis Baruch mich darauf hingewiesen hatte.
Die andere Kleinigkeit, die ich übersehen hatte, bestand darin, dass Baruch – Schrecken über Schrecken – ein Seafood-Restaurant ausgewählt hatte.
»Seafood«, sagte ich und musterte voller Entsetzen die Karte und fragte mich, wie es mir gelingen sollte, so zu tun, als wüsste ich, wie man Krabbenbeine abzieht, und das auch noch, ohne zu schreien.
»Ja, ich liebe Seafood«, erklärte Baruch. »Und du?«
»Hmm«, log ich. »Ja, einiges mag ich schon. Anderes nicht so sehr.«
Es gelang mir, die Bestellung ohne große Peinlichkeiten hinter mich zu bringen, indem ich Baruch sagte, dass ich zum Mittag Seafood gegessen hatte und gerne etwas Neues probieren wollte. Ich bestellte stattdessen Tomatenkroketten und gebratenen Feta.
Es war schon seltsam, denn normalerweise lüge ich bei solchen Dingen nicht. Aber er strahlte eine derartige Selbstsicherheit aus, die mir das Gefühl gab, ein bisschen kindisch zu sein, was meine eigenen Nahrungsphobien anging. Ich wollte mich wie eine Erwachsene benehmen. Ich wollte ihn beeindrucken. Ich versuchte immer noch, ihn zu verführen, nehme ich an.
Beinah hätte ich mich verraten, als er mir eine geschälte Königskrabbe auf seiner Gabel hinhielt und sagte: »Probier mal. Die ist köstlich. Sie kochen sie hier in Ouzo.« Ich blickte in seine wunderschönen blauen Augen, dann auf die Krabbe, und ich dachte:
Wenn ich das in Bergen für meine Mutter tun kann, dann kann ich es auch hier
. Und so lächelte ich und nahm die Gabel aus seiner Hand. Die Konsistenz der Krabbe begeisterte mich nicht unbedingt, muss ich sagen, und ich hatte Mühe, dass ich beim Kauen nicht würgte. Aber der Geschmack war nicht so schlecht, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Eigentlich war er sogar ganz gut.
Während wir aßen, sprachen wir darüber, wie man irgendeinen Menschen mit Namen Leif Vil-irgendwie-oder-auch-ganz-anders auftreiben könnte. Irgendwann zog ich mein Telefon aus der Tasche, um norwegische Nachnamen zu googeln, und ich überzeugte Baruch sogar davon, seine Großmutter anzurufen. Aber Google zeigte schon mal keinerlei Ergebnisse, und Großmutter schien sich an nichts anderes zu erinnern, als dass ein Wagen von der Klippe gerutscht war.
Plötzlich und völlig unerwartet fing das ganze Thema an, mich unglaublich zu langweilen. Ärgerte ich mich über mich selbst und war frustriert von meiner Unfähigkeit, noch an irgendetwas anderes zu denken? Also gab ich mir Mühe, Baruch dazu zu bewegen, von sich zu erzählen. Er war witzig und selbstironisch und sah in seinem pinkfarben und weiß gestreiften T-Shirt und den üblichen knallengen Jeans so sexy aus wie immer. Und er fuhr eindeutig eine Charmeoffensive, denn er tat alles, was einem nur einfallen konnte, um auch mich zu verführen.
Wenn ich mich doch stattdessen nur auf ihn konzentrieren könnte
, dachte ich.
Gegen halb elf fuhren wir zurück nach Oia, und sobald Baruch das Motorrad abgeschlossen hatte, versetzte ich mir selbst einen Schock, als ich fragte, ob es im Hotel immer noch leere Zimmer gab. War das jetzt schlampig von mir? Vielleicht. Aber alles geschieht aus einem Grund, und ich glaubte wirklich, dass ich mich ganz verzweifelt nach körperlichem Kontakt sehnte, um wieder in der Wirklichkeit anzukommen und meinen Körper zu fühlen. Ich wollte einfach mal für einen Augenblick meinen Kopf verlassen.
Aus dem Laden nahmen wir Bier mit, und Baruch hatte einen weiteren Freund an der Rezeption, der ihm einen Schlüssel gab. Die Unterkunft Nummer zwölf befand sich weit genug weg von Mum, wofür ich durchaus dankbar war.
Wir tranken unser Dosenbier auf der kleinen Terrasse, bevor wir hineingingen, damit wir uns küssen konnten. Es fühlte sich schön an. Es war nicht revolutionär. Die Erde erbebte nicht. Aber es war einfach schön. Es war
wirklich
schön.
Baruch war sanft und höflich und gelegentlich witzig. Nachdem wir eine ganze Weile herumgemacht hatten, verzogen wir uns aufs Bett, und von da an lief alles eigentlich ganz natürlich. Nach einer ziemlichen Marathonleistung von seiner Seite brachte er auch mich zum Orgasmus, was ich als unerwarteten Bonus empfand. Denn in diesem Augenblick, nur für einen kleinen Moment, gelang es mir, den Rest zu vergessen, die Gegenwart, das Bett mit ihm, den Raum, Santorin, Griechenland, die Erde. Und wenn man bedachte, in welchem Zustand sich meine Nerven befanden, war das keine unbedingt geringe Leistung.
Nachdem es vollbracht war, überkamen mich meine üblichen Selbstzweifel – Selbsthass sogar – wegen der ganzen Sache. Aber dann drehte Baruch sich auf die Seite, legte einen schweren, behaarten Arm über mich, und ich dachte: Nein. Das ist gut. Kein Schaden angerichtet. Kein schlechtes Gewissen. Keine Scham. Es war der typische Spruch einer meiner Freundinnen im College, und noch nie hatte er besser gepasst.
Am nächsten Morgen wachte Baruch auf und verschwand, bevor ich überhaupt nur einmal richtig gähnen konnte. Der Laden, erinnerte er mich, öffnete um halb acht.
Während ich im Bett lag und versuchte, die Energie aufzubringen, um aufzustehen, ging ich alle meine Gefühle durch und beschloss, dass, trotz all meiner Zweifel, mir meine Nacht der Leidenschaft mit Baruch unglaublich gutgetan hatte. Ich fühlte mich unendlich weniger außer mir als noch zuvor, und
der Sex glühte immer noch in mir nach, sodass ich mich behaglich fühlte und weich und ein wenig gelockert, während ich vor ein paar Stunden noch den Eindruck gehabt hatte, nur aus rechten Winkeln zusammengesetzt zu sein.
Als ich den kleinen Laden betrat – um den Schlüssel zurückzugeben –, sah Baruch zu mir auf und grinste. Und ich begriff, obwohl ich mir wirklich Mühe gab, keine Gefühle für ihn zu entwickeln, dass ich den Kerl wirklich mochte. Er hatte so etwas herrlich Unkompliziertes an sich, auch was die ganze Situation anging und ebenso uns.
Es waren keine Kunden im Geschäft, deswegen setzte ich mich auf den Tresen und plauderte entspannt mit ihm.
»Ich habe noch mal versucht, den Namen zu finden«, sagte er nach einer Weile und deutete mit dem Kopf auf seinen Laptop. »Du hast V-I-L gesagt, oder?«
»Das hat Mum gesagt.«
»Ich habe nichts gefunden«, berichtete Baruch und griff nach dem Computer.
Ich drängte mich neben ihn, um auch einen Blick darauf zu werfen, und er langte um meine Taille, zog mich auf seine Knie und griff um mich herum, um die Tastatur zu bedienen.
»Siehst du?«, meinte er, sobald er die Liste auf dem Bildschirm hatte.
Ich las sie und sprach immer mal wieder irgendwelche Namen aus. Johannsen zum Beispiel oder Olsen, Pedersen und Simonsen, bevor mir etwas deutlich wurde: »Die meisten von ihnen enden auf
sen
.«
»Vilsen?«, schlug Baruch vor und öffnete ein weiteres Fenster, um speziell danach zu googeln
»Villonsen? Vildersen? Vilolsen?«, schlug ich vor, doch keiner unserer Vorschläge schien ins Schwarze zu treffen.
»Vielleicht ist es eine von
diesen
Endungen«, meinte Baruch und deutete auf dem Bildschirm auf Spillum und Storstrand
und Tennfjord. »Kannst du die für mich aufschreiben?«, fragte ich und zeigte auf Vang, Vinter und Vollan. »Zumindest fangen die mit einem V an.«
»Hey, hey, hey! Was läuft denn hier?«
Ich sprang von Baruchs Schoß und stieß dabei fast den Laptop vom Tresen. Dann fuhr ich herum und sah Damon mit einem süffisanten Grinsen in der Tür stehen. »Nichts«, erwiderte ich. Ich spürte, wie meine Haut brannte, und ich vermutete, dass ich wahrscheinlich rot war.
»Nein, sag es ihm«, meinte Baruch, und eine schreckliche Minute lang dachte ich, dass ich Damon erzählen sollte, dass wir miteinander geschlafen hatten. Aber dann fuhr er fort: »Er arbeitet in einem Hotel. Es sieht Millionen unterschiedliche Namen, oder, Damon?«
Damon ging zu einem Warenständer und nahm sich ein Paket Kaugummi heraus, bevor er zur Kasse kam und eine Euromünze auf den Tresen legte. »Erzähl mal«, forderte er mich auf.
»Norwegische Namen, die mit V-I-L beginnen«, sagte Baruch. »Du siehst es gleich. Wir nennen ihn Mr. Google«, erklärte er mir.
Damon verzog das Gesicht »Was?«
»Norwegische Namen, die mit V-I-L beginnen«, wiederholte Baruch langsam.
Damon zuckte die Achseln. »Warum sollte ich das wissen? Und wieso?«
»Becky versucht …«
»… einen Preis zu gewinnen«, vollendete ich den Satz. »Es ist so ein Quiz. Und das ist die einzige Antwort, die wir finden können.«
»Google es doch«, schlug Damon vor.
»Das haben wir versucht«, sagte Baruch. »Wir haben nichts gefunden.«
»Du könntest die Jungs in meinem Hotel fragen«, meinte Damon. »Wir haben gerade ein paar Skandinavier da. Ich weiß nicht, ob sie Norweger sind, aber fragen könnte man sie. Ich muss jedenfalls los. Bin schon spät dran.« Und Mr. Google, der doch nicht Mr. Google war, schnappte sich das Kaugummi und war verschwunden.
»Ich mache mich mal besser auf die Suche nach Mum«, sagte ich zu Baruch. »Sie hat heute Geburtstag.«
»Natürlich«, antwortete er. »Aber du solltest tun, was er gesagt hat. Vielleicht wohnen bei ihm ein paar Norweger. Ich wette, sie kennen die unterschiedlichen Namen.«
Ich nickte. »Ich schätze schon«, sagte ich. »Vielleicht versuche ich es später.«
Baruch lächelte strahlend. »Du kannst mich jederzeit besuchen.«
»Es ist nur, dass Mum heute Geburtstag hat, wie ich schon sagte, also es wird spät werden.«
»Ich sehe mal nach, ob sie leere Zimmer haben«, meinte Baruch mit einem Zwinkern.
Ich ging Richtung Tür, dann zögerte ich. »Einwickelpapier verkauft ihr wohl nicht, oder?«
»Einwickelpapier?«
»Du weißt schon, hübsches Papier. Für Geschenke.«
»Oh, nein …«, sagte Baruch und blickte sich um. »Ich habe braunes Papier da von einer Lieferung, glaube ich …«
Ich zog die Nase kraus.
»Da runter«, sagte er und streckte erneut den Zeigefinger aus. »In dem Laden, wo sie Postkarten verkaufen. Ich glaube, die haben so was.«
Ich winkte ihm mit den Fingerspitzen zu, trat hinaus und machte mich auf den Weg zu dem Laden mit den Postkarten, auf den er mich hingewiesen hatte. Aber als ich die Stelle erreichte, wo die gefürchteten Stufen hinunter zu dem winzigen
Hafen führten, bemerkte ich zum ersten Mal den Namen des Hotels, in dem Mum gewohnt hatte, wie sie sagte. Es hieß
Blue Balconies
.
Ich blieb stehen und dachte darüber nach. Aus irgendeinem Grund spürte ich, dass mein Herz bebte. Ich ermahnte mich, dass ich albern sei, aber in dem Augenblick erschien es mir wie ein Zeichen des Universums. Deswegen ging ich über die Straße und betrat zum ersten Mal die eiskalte Lobby.
Damon stand bereits hinter dem Tresen, deswegen ging ich über den Marmorfußboden und stützte mich mit den Ellbogen auf den Tresen. Als er aufblickte, grinste er mir anzüglich zu. »Hallo sexy Lady«, sagte er. »Hast du genug vom alten Baruch? Er weiß nicht, wie man Damen zufriedenstellt. Nicht so wie ich.«
Ich verdrehte die Augen. »Ach, bitte jetzt.« Ich lachte. »Wie alt bist du überhaupt? Vierzehn? Fünfzehn?«
»Sechzehn«, erwiderte Damon. »Alt genug. Du wirst schon sehen.«
»Ja, klar. Und du hast gesagt, du könntest mich mit ein paar Norwegern zusammenbringen?«
Damon seufzte theatralisch. »Nun ja«, sagte er. Er nickte in Richtung einer Gruppe, die auf der rechten Seite der Lobby neben dem Eingang saß. Es waren drei Männer und zwei Frauen, die alle Wandersachen trugen. Einer von ihnen war blond. »Versuchs mal bei denen«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob sie Schweden sind oder irgendwas anderes. Aber sie wissen es vielleicht.« Ich durchquerte die Lobby, und als ich mich der Gruppe näherte, hörte ich, dass sie sich in jedem Fall in einer skandinavischen Sprache unterhielten.
Ein Schauder lief mir über den Rücken, aber dann, als ich vielleicht noch einen guten Meter entfernt war, wandte der größte der Männer sich zum Empfangstresen um, und ich erstarrte.
Er hatte nur kurz in meine Richtung geblickt und sich dann wieder umgedreht, um sich weiter mit seinen Freunden zu unterhalten, aber ich hatte plötzlich eine ganz trockene Kehle, und mein Herz raste.
Ich ging zu einem leeren Stuhl, der an der Wand stand – meine Knie hatten sich in Gummi verwandelt. Ich versuchte, mich zur Vernunft zu bringen: Ich war verrückt. Ich konnte nicht klar denken – oder sehen. Aber als er nach ungefähr einer Minute wieder in meine Richtung blickte, wusste ich, dass ich recht hatte.