KAPITEL 16
LAURA
Sie ist auf einem Flughafen und zerrt ihren Koffer einen scheinbar endlosen Gang entlang, der, das hofft sie zumindest, zu ihrem Gate führt. Sie ist schon spät dran für ihren Flug und wechselt zwischen Traben und schnellem Laufen, ihre hohen Hacken erlauben ihr nichts anderes, aber selbst bei dieser Geschwindigkeit hört sie ihren Herzschlag in den Ohren, und Schweißperlen sammeln sich auf ihrer Stirn.
Man hat ihren Namen über die Lautsprecheranlage ausgerufen, und jetzt hört sie ihn gerade wieder. » Letzter Aufruf für Laura Ryan. Laura Ryan! Bitte begeben Sie sich unverzüglich zu Gate 115! «
Weil sie glaubt, dass es vielleicht schneller geht, besteigt sie den Rollsteg, aber aus irgendeinem Grund merkt sie, dass er sie nur verlangsamt. Wenn sie darauf rennt, scheint sie sich lediglich mit Schrittgeschwindigkeit voranzubewegen, und wenn sie stehen bleibt, gleitet sie immer noch vorwärts, allerdings noch langsamer – es fühlt sich an, als würde sie durch Sirup waten. Sie wirft einen Blick auf das Gate, an dem sie vorbeikommt – es ist Nummer 18 – und denkt: Himmel, ich schaffe es nie rechtzeitig bis 115! Und deswegen beugt sie sich hinunter, zieht sich ihre Schuhe aus und beginnt, während sie die Schuhe in der einen Hand hält und mit der anderen den verhassten Koffer trudelnd hinter sich herzerrt, zu joggen. Sie läuft und läuft, bis sie atemlos ist, aber plötzlich beginnen die Nummern der Gates anzusteigen. 32 … 34 …
Als sie schließlich das Gate erreicht, ist dort keine Schlange. Alle anderen sind bereits an Bord.
Die Bodenstewardess blickt ihr entgegen und sagt: »Ich hoffe, Sie sind Laura Ryan. Wir haben schon auf Sie gewartet.«
Sie zieht ihre ausgedruckte Bordkarte aus der Tasche. Die Stewardess faltet sie auseinander und schiebt sie in das Lesegerät, aber anstatt dass es piept und ein grünes Licht aufleuchtet, zerschreddert die Maschine sie in winzige Streifen, die zu Boden fallen und dann den Gang entlanggeweht werden, den sie gekommen ist.
»Tut mir leid«, sagt die Frau. »Aber das war eindeutig nicht Ihre Bordkarte.«
Verblüfft und voller Panik durchsucht sie ihre anderen Taschen – sie scheint Hunderte zu haben –, und schließlich findet sie ein weiteres Stück Papier. »Oh, hier ist sie!«, sagt sie und reicht sie herüber. Dieses Mal zwitschert die Maschine zufrieden. »Sie müssen sich beeilen«, sagt die Frau. »Sonst verpassen Sie Ihren Flug.«
Sie läuft den Rüssel entlang und steht plötzlich vor einer geschlossenen Flugzeugtür, deswegen lässt sie den Koffer los und trommelt mit den Fäusten dagegen, bis schließlich wieder geöffnet wird. »Laura Ryan?«, fragt der Stewart. »Sie sind sehr spät dran!«
Kaum hat sie ihren Anschnallgurt geschlossen, rollt die Maschine auch schon vom Gate zurück. Sie wischt sich den Schweiß von der Stirn und wendet sich dem Mann neben ihr zu. »Das war knapp!«, sagt sie zu ihm. »Ich dachte schon, ich würde ihn verpassen.«
»Sie haben ihnen das falsche Stück Papier gegeben«, sagt er.
»Ja. Ja, das habe ich«, entgegnet sie und fragt sich, woher er das bloß weiß.
Als das Flugzeug die Richtung ändert und rumpelnd über das Vorfeld rollt, fügt der Mann hinzu: »Und nun ist es für immer fort.«
Seine Worte verwirren sie zunächst, aber dann steigt Panik in ihr auf, und sie durchsucht noch einmal ihre vielen Taschen. Doch der Mann behält recht. Das Stück Papier – von dem sie sich nicht sicher ist, was es war, aber ohne Zweifel das wichtigste Stück Papier der Welt – ist fort.
Und als sie sich vorstellt, wie die Streifen den windigen Gang des Flughafens entlanggeweht werden, bemerkt sie, dass ihr gleich übel wird.
fleuron
Ich saß da und starrte in die Ferne, als Becky zurückkehrte. Am Horizont waren im Westen Wolken aufgezogen, die ersten Wolken, die wir in Menge gesehen hatten, seit wir angekommen waren, und ich fragte mich, ob sie den Sonnenuntergang an diesem Abend verdecken oder noch verstärken würden, und dann fragte ich mich, wie oft es auf Santorin eigentlich regnete.
Ich war seit fast zwei Stunden auf und wie so oft hing mir mein Albtraum noch nach. Mir war leicht übel, und darum hatte ich nicht gefrühstückt.
Sie kam und sprang die Stufen so schnell herunter, dass ich schon dachte, sie würde stürzen. Ihr Gesicht war trotz der Anstrengung blass und ihre Miene wirkte gequält.
Mein erster Gedanke war, dass Baruch ihr irgendetwas angetan hatte, deswegen sprang ich auf, um sie in die Arme zu nehmen, doch das war es nicht, was sie wollte. »Du musst mitkommen, Mum«, sagte sie, ergriff meine Hand und zog daran. »Komm schnell.«
»Wieso?«, fragte ich. »Was ist passiert?«
»Bitte!«, flehte Becky und zerrte erneut an meiner Hand. »Und beeil dich.«
Ich folgte ihr weit genug, um zu sehen, dass, was immer vor sich ging, nicht auf den Stufen geschah, und dann stieß ich hervor: »Meine Schuhe. Warte! Ich brauche meine Schuhe.«
Alle möglichen Bilder huschten durch meinen Kopf, während ich meine Turnschuhe anzog und die Tür hinter mir abschloss. Vielleicht hatte Baruch ihr überhaupt nichts getan, sondern sich selbst verletzt. Was immer auch geschehen war, es hatte Becky in völlige Panik versetzt. Wie ein frustriertes Kleinkind stand sie mit bebenden Fäusten an den Seiten da, während sie mich drängte, endlich schneller zu machen.
Ich lief mit ihr die Stufen hinauf und die Erinnerung an das Laufen im Traum kam wieder zurück, und ich fragte mich, ob ich das irgendwie geahnt hatte. Aber selbst wenn ich lief, kam ich die Treppe nicht so schnell hinauf wie meine Tochter.
»Was um alles in der Welt ist passiert?«, fragte ich sie, als ich oben ankam und sie mich buchstäblich die Straße entlangzerrte. »Becky! Sag mir, was passiert ist«, verlangte ich.
»Er ist hier«, sagte sie. »Der Norweger. Mein Vater. Er ist hier
Ich erstarrte zur Salzsäule und entwand ihr meine Hand. »Jetzt bleib stehen und sag mir, wovon du redest«, befahl ich und war ein wenig verärgert über ihr Gedrängel. Es starb ja schließlich niemand.
»Er ist in einem Hotel«, antwortete sie. »Da runter. Ich habe ihn gerade gesehen. Komm schon!«
Kopfschüttelnd folgte ich Becky, während sie ein paar Schritte lief, sich dann umdrehte und zurückkam, um mich anzutreiben. Ein paar Leute starrten herüber. »Ich wusste genau, dass ich es dir nicht hätte erzählen sollen«, sagte ich. »Ich wusste, es würde dich in den Wahnsinn treiben.«
»Ich bin nicht wahnsinnig, Mum. Vertrau mir. Er ist hier!«
»Aber das ist er nicht, Becky«, entgegnete ich. »Ich weiß nicht, wen du gesehen zu haben glaubst.«
Sie war vor einem Hotel stehen geblieben, und es war dasselbe Hotel, in dem ich vor so vielen Jahren gewohnt hatte, nur die Lobby war umgebaut worden, und es trug einen anderen Namen und ein neues Logo. Langsam nahm Beckys Wahnsinn für mich Gestalt an. Die einzelnen Teile hatte ich selbst fabriziert. Ich war es, die ihr erzählt hatte, sie sei auf Santorin gezeugt worden. Und ich hatte sie zudem zwanzig Jahre lang belogen, dass ihr Vater tot sei. Und jetzt wusste sie, dass er es nicht war, und all das hatte ich ihr hier berichtet, keine hundert Meter von dem Ort, wo ich ihm begegnet war. Wie sonst hätte sie darauf reagieren sollen als mit Wahnsinn?
»Da drin«, sagte sie. »Sieh selbst. Der große blonde Typ.«
Ich ergriff ihren Arm und versuchte, sie zu beruhigen. »Becky«, sagte ich. »Hör mir zu.« Ich fragte mich, ob sie gerade einen Nervenzusammenbruch erlitt und wie ich damit zurechtkommen sollte. Ich fragte mich, ob es auf Santorin wohl irgendeine Art psychiatrischer Versorgung gab.
»Bitte geh hinein und sieh selbst, ja, Mum?«, drängte sie. »Er sieht genauso aus wie ich. Es ist unheimlich.«
»Becky, das ist alles meine Schuld, aber …«
»Sieh einfach nach! «, begann sie erneut, und weil sie inzwischen tatsächlich vor hilfloser Wut weinte, sagte ich ihr, dass ich es tun würde.
»Ich werde hineingehen und ich werde nachsehen«, sagte ich ruhig zu ihr. »Aber du wirst dich dort auf die Mauer setzen und dich beruhigen, in Ordnung? Denn ich kann dir versichern, dass er es unmöglich sein kann.«
Die Türen glitten auf und jemand kam heraus, und Becky warf einen Blick hinein und sagte: »Er! Er ist da. Sieh nur!« Aber als ich mich umdrehte, hatten sich die Türen bereits wieder geschlossen, und ich sah nur das Spiegelbild des Souvenirladens auf der anderen Seite.
»Geh einfach!«, sagte Becky und klang schon fast hysterisch. »Bevor er noch verschwindet.«
Und da ich inzwischen überzeugt war, dass sich die Sache nur erledigen würde, wenn ich tat, was sie wollte, und ihre Wünsche in diesem Moment einfach erfüllte, verdrehte ich die Augen, ließ ihren Arm los und trat durch die Türen. Als sie vor mir auseinanderglitten, fragte ich über die Schulter: »Möchtest du lieber mitkommen?«
Statt einer Antwort schüttelte sie nur den Kopf.
fleuron
Ich betrat die Lobby. Sie war erst vor Kurzem umgebaut worden und nun weitaus größer, als ich sie von meinen früheren Besuchen in Erinnerung hatte. Der Boden war großzügig mit Marmor ausgelegt, und bei dieser Klimaanlage den ganzen Tag zu arbeiten, ging mir durch den Kopf, musste unerträglich sein. Es fühlte sich an, als würde man den nördlichen Polarkreis betreten.
Ich sah mich im Raum um und ließ meinen Blick von einer Gruppe Gäste zur nächsten wandern, und dann entdeckte ich den Mann, den Becky ganz sicher meinte. Und obgleich ich sehen konnte, wie sie darauf gekommen war zu glauben, was sie glaubte, wusste ich sofort, selbst von hinten, dass es nicht Leif war. Natürlich war er es nicht. Wie hätte er es auch sein können?
Mein Herz wurde schwer. Ich musste sogar ein paar Tränen herunterschlucken, und ich erkannte, dass ich, obwohl ich Becky gegenüber darauf bestanden hatte, dass es unmöglich sein konnte, doch gehofft hatte, dass es vielleicht wahr war. Alle Träume, die ich, was mein Leben mit Leif anging, gehabt und an die ich mich so viele Jahre geklammert hatte und schließlich gezwungen war aufzugeben, waren für einen Moment erneut in mir aufgestiegen.
Langsam atmete ich aus und biss mir auf die Lippe. Ich warf einen Blick zurück durch die Scheibe zu Becky. Sie saß gegenüber auf der Mauer, rauchte und nagte an ihren Nägeln. Ich fragte mich, wie sie reagieren würde, wenn ich ihr die Wahrheit sagte.
Fast wäre ich wieder direkt zu ihr hinausgegangen, aber dann faszinierte mich irgendwie der Gedanke, das Gesicht des Mannes zu sehen, das Gesicht jenes Mannes, von dem Becky überzeugt gewesen war, dass er ihr Vater sei. Ich fragte mich, welches Bild von ihm sie sich erschaffen hatte. Und deswegen ging ich an die gegenüberliegende Wand und drehte mich um, weil ich ihm ins Gesicht sehen wollte. Er war groß und blond und hatte blaue Augen. So weit lag sie ganz richtig. Aber aus irgendeinem Grund hatte ich eher das Gefühl, dass er Deutscher war. Und alles andere an ihm stimmte überhaupt nicht. Seine Schultern waren weitaus breiter als die von Leif, und im Gegensatz zu Leifs Stupsnase war seine unglaublich spitz. Wieder seufzte ich und machte mich auf den Rückweg zur Tür, doch gerade, als ich sie erreichte, rief eine Männerstimme: »Jens!«, und irgendetwas an seinem Ton ließ mich abrupt stehen bleiben. Die Tür öffnete sich direkt vor mir – und schloss sich wieder. Ich konnte Becky gegenüber sehen, aber sie sah mich nicht an. Sie war damit beschäftigt, sich mit dem Stummel der letzten eine neue Zigarette anzuzünden. Trotz des Surrens der auf und zu fahrenden Türen lauschte ich den Stimmen hinter mir. Tränen begannen mir über das Gesicht zu laufen. Tränen der Hoffnung gemischt mit Tränen des fürchterlichen Entsetzens, dass ich mich fast ganz sicher irrte – dass ich fast sicher genauso wahnsinnig war wie meine Tochter.
Ich schluckte schwer, drehte mich auf einem Fuß herum und blickte zurück.
Der blonde Mann, den ich zuvor gesehen und der offensichtlich Jens hieß, hatte sich jetzt mir zugewandt, während der Mann, dessen Stimme in meinem Rücken erklungen war, ihm auf dem Arm schlug, während er fröhlich und angeregt mit ihm sprach. Mir wurde ganz weich in den Knien und ich musste nach rechts treten, um mich an einer Säule abzustützen.
Jens bemerkte das offensichtlich, denn er runzelte die Stirn. Der Mann, mit dem er sprach, wandte sich um, weil er sehen wollte, was Jens ins Auge gestochen war. Und was er sah, als er sich umdrehte, war ich.
Zunächst runzelte er die Stirn, als könne er das, was seine Augen ihm zeigten, nicht verarbeiten, dann öffnete er den Mund, um etwas zu sagen, doch schloss er ihn wieder, ohne dass ein Wort über seine Lippen gekommen war. Schließlich klopfte er, ohne den Blick auch nur eine Sekunde von mir abzuwenden, seinem Freund abwesend auf die Schulter, dann kam er durch die Lobby auf mich zu.
»Bist du es?«, fragte er nur.
Aber obwohl ich es versuchte, konnte ich nicht antworten. Stattdessen schlug ich eine Hand vor die bebenden Lippen und begann wieder zu weinen.
Er trat noch näher an mich heran und nahm mich, zunächst behutsam, in die Arme. »Laura«, sagte er. »Oh, Laura
Sein Freund Jens und eine blonde Frau kamen herüber und fragten ihn etwas auf Norwegisch, wahrscheinlich, ob alles in Ordnung sei. Was immer Leif ihnen daraufhin sagte, schien sie zu einem Lächeln zu veranlassen, sich zu entschuldigen und zu verschwinden.
Ich weinte in seinen Armen, sicher eine Minute lang, und genoss zwischen den Schluchzern das Gefühl, festgehalten zu werden, und den warmen, moschusartigen Geruch, an den ich mich nach so vielen Jahren immer noch erinnerte.
Ich ließ mich von ihm zu einem Zweiersofa in der Ecke der Lobby führen, wo wir uns Seite an Seite niederließen, aber in einer Weise, dass wir einander halb zugewandt waren. Als ich schließlich in der Lage war zu sprechen oder zumindest zu krächzen, fragte ich: »Wie kannst du hier sein, Leif?«
»Ich?«, fragte Leif. Er zuckte die Achseln. »Wir kommen oft her«, sagte er schlicht. »Vielleicht zehn Mal, seit … du weißt schon … Und du? Wie kommst du her?« Er klang sachlich, fast ein wenig gereizt. Das war nicht das Wiedersehen, von dem ich so häufig geträumt hatte.
»Ich bin zu meinem fünfzigsten Geburtstag hier«, sagte ich. »Um der alten Zeiten willen eigentlich.«
Leif nickte. »Um der alten Zeiten willen«, wiederholte er und strich mir fahrig über den Rücken. Es fühlte sich freundlich an, aber nicht leidenschaftlich. Selbst die Bezeichnung freundlich war leicht übertrieben. Sagen wir zögernd freundlich.
»Wohnst du hier?«, fragte er. »Im Blue Balconies?«
Ich schüttelte den Kopf. »Das hätte ich gern«, erklärte ich. »Aber ich konnte es nicht finden, als wir gebucht haben. Sie haben den Namen geändert, daher …«
»Ja«, bestätigte Leif. »Ja, sie haben den Namen geändert.«
Mir ging durch den Kopf, wie lächerlich es war, darüber zu reden, dass sie den Namen des Hotels geändert hatten. Aber alles andere, alles, was ich gern sagen wollte, erschien mir viel zu komplex, irgendwie zu gewaltig, um Worte dafür zu finden. Oder eine Brücke dorthin.
Wirklich gern wissen wollte ich wahrscheinlich, ob Leifs regelmäßige Reisen zurück nach Santorin irgendetwas mit mir zu tun hatten. Aber es fühlte sich absurd und egoistisch an, es auch nur anzusprechen. Und irgendwas an seinen ausdruckslosen Worten warnte mich zudem – irgendetwas in seiner Formulierung, seinem: Wir kommen oft hierher.
Wir , dachte ich jetzt. Wer sind »wir«?
Schließlich war es vierundzwanzig Jahre her. Wie kam ich nur darauf, dass der reizende Leif Single geblieben war? Wie konnte ich glauben, dass ich immer noch der Grund war, dass er nach so vielen Jahren herkam? Wir hatten ein paar Tage zusammen verbracht und danach vierundzwanzig Jahre getrennt.
»Und du?«, erkundigte sich Leif, als könne er meine Gedanken lesen. »Bist du allein hier?«
»Nein«, erwiderte ich. »Nein, ich bin mit … jemandem hier.« Ich bin mit deiner Tochter hier , dachte ich. Die Worte klangen einfach gut, aber wie der ganze Rest schienen sie im Moment alles andere als angebracht.
»Mit einem Mann?«, fragte Leif.
»Oh, nein!«, erwiderte ich und warf einen Blick nach draußen, um nach Becky zu sehen. Aber der Platz auf der Mauer, wo sie gesessen hatte, war jetzt leer. »Nein, ich bin … ich bin mit einer Frau hier. Einer Freundin.«
Leif nickte. »Das ist gut«, sagte er.
»Gut?«
»Es ist nicht schön, allein zu reisen.«
»Nein«, stimmte ich ihm zu. »Nein, das ist es nicht.«
»Dann denke ich, es wäre angemessen, dir alles Gute zum Geburtstag zu wünschen, oder?«, meinte Leif.
Ich nickte. Ich spielte an meinen Fingernägeln, an einem Knopf meines Tops. Ich tat praktisch alles, um zu vermeiden, Leif in die Augen zu sehen. Denn ich hatte schreckliche Angst davor, was ich darin finden könnte. Oder vielleicht wäre es aufrichtiger zu sagen, dass ich schreckliche Angst davor hatte, was ich alles vermissen würde. »Ja«, erwiderte ich. »Fünfzig heute. Fünfzig! Wann ist das bloß passiert?«
»Es ist schwierig zu reden«, sagte Leif nach einem Moment des Schweigens. »Es ist so lange her.«
»Ja«, stimmte ich ihm zu. »Ja, du hast recht. Möchtest du einfach wieder zu deinen Freunden zurückgehen?« Es war Wahnsinn, das vorzuschlagen. Ich hatte mir diesen Augenblick praktisch ununterbrochen herbeigesehnt, seit ich Leif das letzte Mal gesehen hatte, und nun, da es passierte, schien mir die Kraft zu fehlen oder die Intelligenz oder der Mut, angemessen damit umzugehen. Und während ich vorschlug, unser Gespräch an dieser Stelle zu beenden, fürchtete ich einerseits, dass Leif zustimmte, und war gleichzeitig voller Hoffnung, dass er, wenn er es tat, damit die unerträgliche Spannung des Augenblicks beenden würde. Denn sie war wirklich quälend. Ich konnte kaum atmen.
Aber stattdessen lachte Leif. »Nein«, sagte er. »Nein, ich möchte nicht zurück zu meinen Freunden gehen. Möchtest du , dass ich es tue?«
Ich schüttelte sanft den Kopf und wagte, weil sein Lachen es möglich gemacht hatte, ihm ins Gesicht zu sehen.
Er hatte im Laufe der Jahre ein wenig an Gewicht zugelegt, aber er besaß immer noch den gleichen Körperbau. Sein Gesicht war runder und er hatte Lachfalten um die Augen, die zuvor nicht dort gewesen waren. Seine blauen Augen hatten etwas Eisiges, das mir neu war, und ich fragte mich, ob es Trauer war oder Enttäuschung, die ihren Farbton geändert hatte. Seine Nase war etwas schief, und ich streckte die Hand aus, um sie sanft zu berühren.
»Conor«, bestätigte Leif. »Ich habe sie mir nachher im Krankenhaus brechen und wieder richten lassen. Aber sie wurde nie mehr ganz richtig. Deswegen denke ich immer an dich. Immer, wenn ich in den Spiegel sehe.«
»Ich denke auch immer an dich«, sagte ich. »Ich habe nie damit aufgehört.«
Leifs Augen schienen noch etwas kühler zu werden, und ich dachte: Oh mein Gott, es ist Wut! Wenn er wütend wird, nehmen seine Augen diese Farbe an.
»Du hast nicht geschrieben«, sagte er und bestätigte meinen Argwohn. »Du hast nie angerufen. Nicht einmal.«
Obgleich ich mir am Anfang oft vorgestellt hatte, wie Leif am Telefon saß und darauf wartete, dass ich Kontakt zu ihm aufnahm, hatte ich im Laufe der Jahre vergessen, wie wütend er gewesen sein musste, weil ich mir mehr Sorgen über mein eigenes trauriges Schicksal gemacht hatte – über meinen eigenen Verlust und den meiner Tochter, die, wegen des Schicksals, ohne einen Vater hatte aufwachsen müssen. Aber natürlich hatte Leif nie von dem verlorenen Koffer erfahren. Hatte er auf meinen Anruf gewartet? Und wenn ja, wie lange? Und wie hatte sich das angefühlt. Wie wütend hatte es ihn gemacht?
Er hatte sich von mir abgewandt und blickte hinaus auf die Straße, deswegen berührte ich seinen Arm. »Leif«, sagte ich sanft. »Es war nicht meine Schuld. Ich weiß … ich verstehe, wie das für dich gewesen sein muss, aber ich konnte dich nicht anrufen. Ich konnte nicht schreiben.«
Er schniefte und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, die, wie ich erst dann sah, feucht waren. »Nicht hier«, sagte er und stand auf. »Wir müssen uns alles erklären, aber nicht hier.« Er erhob sich und ich tat es ihm gleich. »Komm«, sagte er und ging auf die automatischen Glastüren zu.
Außerhalb des Hotels blickte ich nach links und rechts auf der Suche nach Becky, aber sie war nirgends zu sehen. Ich prüfte, ob ich mein Telefon in der Tasche hatte – ich hoffte, sie anrufen oder ihr zumindest eine SMS schicken zu können –, aber ich hatte es nicht mitgenommen. Und deswegen dachte ich mir, bevor ich mit Leif gesprochen hatte, konnte ich die beiden einander sowieso nicht vorstellen, und so folgte ich ihm die gefürchteten Stufen hinunter.
Er blieb vor der Unterkunft dreiundzwanzig stehen, demselben Raum, den er all die Jahre genommen hatte, und ich dachte, er würde etwas dazu sagen. Aber stattdessen schloss er die Tür auf. Er spähte einen Moment hinein, trat dann wieder heraus und deutete auf die Liegestühle. »Hier sind wir besser aufgehoben, denke ich«, sagte er. Ich fragte mich, ob da Damenkleidung auf dem Bett lag. Ich fragte mich, ob die elegante Frau, die ich an der Rezeption gesehen hatte, seine Freundin war oder vielleicht sogar seine Frau. Auf der Suche nach einem Ehering warf ich einen Blick auf seine Hand. Aber da war keiner.
Wir schoben die Stühle dicht zueinander und setzten uns. »Du hast immer noch denselben Raum«, bemerkte ich.
»Ja«, sagte Leif. »Immer. Ich buche sehr früh, und sie reservieren ihn für mich.«
»Wieso?«, wollte ich wissen. »Ich meine, warum willst du denselben Raum?«
»Weil …«, begann Leif. Aber dann hielt er inne und seufzte tief. »Weißt du was?«, sagte er. »Lass uns vielleicht mal über dich reden. Lass uns darüber sprechen, warum du mich nicht angerufen hast. Warum du mich nicht anrufen konntest
Ich bedeckte meine Augen für einen Moment mit der Hand, dann ließ ich sie über mein Gesicht nach unten gleiten. »Es tut mir so leid, Leif«, sagte ich.
»Es tut dir leid«, wiederholte er. »Ja. Aber warum?«
»Sie haben meinen Koffer verbummelt«, sagte ich mit einem Achselzucken. »Sie haben ihn auf dem Weg nach Hause verloren. Mit allem darin. Auch deinem Zettel. Dem Zettel mit deiner Adresse darauf. Und ohne das …«
Leif verzog bei dieser Enthüllung in seltsamer Weise das Gesicht und sah einen Augenblick hinaus übers Meer. Als er sich schließlich wieder umdrehte, hatte sich seine Miene in keiner Weise verändert. Er wirkte, als sei die Sonne zu hell und er müsse deswegen blinzeln. »Und das ist wahr?«, wollte er wissen.
Ich nickte. »Ich … ich würde nicht … Hör mal …«, stammelte ich. »Ich möchte nicht, dass du glaubst, das sei alles. Ich habe es wirklich versucht. Ich habe sogar die Botschaft angerufen. Die konnten mir auch nicht helfen.«
»Wegen deines Koffers?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe die Airlines dafür in Regress genommen. Über ein Jahr lang habe ich an die Verwaltungen geschrieben … und dann habe ich die norwegische Botschaft angerufen. Dort konnte man mir auch nicht helfen. Oder wollte es nicht. Ich habe versucht, dass sie mir deinen Namen geben. Ich habe auch an die Universität von Bergen geschrieben. Ich bin sogar hingefahren … Ich habe so sehr versucht, dich zu finden, Leif. Ich habe davon geträumt, dich zu finden. Ich träume immer noch davon, dich zu finden oder zu verlieren oder dieses verdammte Stück Papier. Ich habe wirklich alles versucht. Aber sonst ist mir einfach nichts mehr eingefallen.«
Leif lachte säuerlich. »Und das Telefonbuch?«, fragte er.
»Wie bitte?«
»Das Buch. In dem ich stehe. In Bergen.«
»Aber ich kenne deinen Nachnamen nicht. Ich kannte deinen Namen nie.«
Leif senkte den Kopf in die Hände und atmete einen Augenblick tief, geräuschvoll. »Ich auch nicht«, sagte er schließlich. »Ich habe deinen nie gewusst.«
»Ich heiße Ryan«, sagte ich ihm, und er schnappte nach Luft.
»Natürlich«, sagte er. »Natürlich. Ich wusste das, irgendwie …« Er zeigte auf seinen Kopf und vollführte mit dem Finger eine Kreisbewegung. »Ich habe das Hotel angerufen, weißt du? Ich dachte, die müssten ihn haben.«
»Ich auch«, erwiderte ich. »Aber sie hatten geschlossen.«
»Ja, aber am nächsten Tag hatte es wieder geöffnet. Sie haben die alten Papiere für mich durchgesucht. Und dann haben sie mir gesagt, dein Name sei O’Leary.«
»Das ist Conors Name.«
»Ja«, sagte Leif. »Ja, ich weiß. Das Hotel hatte dich als Mrs O’Leary aufgenommen.«
»Du hast auch versucht, mich zu finden?«
»Ja«, versicherte Leif. »Jahrelang habe ich es versucht.«
»Und dein Name?«, fragte ich. »Wie ist dein Nachname?«
»Vilhjálmsson«, antwortete Leif.
Ich bat ihn, ihn mir zu buchstabieren. »Ich wusste, es war irgendetwas mit Vil am Anfang«, sagte ich, als er fertig war. »Ich habe in der Bücherei gefragt. Da gab es dieses System, dem man eine Frage stellen konnte. Jede beliebige Frage. Also fragte ich nach einem norwegischen Namen, der mit V-I-L begann. Und dann habe ich online gesucht, als das möglich wurde, so 2000 oder 2001. Ich habe ihn gegoogelt. Aber deinen Namen habe ich nie gefunden.«
»Er ist isländisch«, erklärte Leif. »Nicht norwegisch. Meine Eltern sind Isländer.«
»Himmel«, sagte ich und schüttelte den Kopf. »Warum habe ich das nicht gewusst?«
»Wir haben über solche Sachen nicht gesprochen«, erwiderte Leif. »Wir hatten genug anderes zu tun. Mit Conor.«
»Ja. Ja, das hatten wir.«
»Aber du hast immer noch an mich gedacht?«, fragte Leif, und es klang überrascht.
»Ich habe nie aufgehört«, versicherte ich ihm. »Wirklich, Leif, ich habe nie aufgehört. Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, an nichts anderes zu denken.«
Wieder barg Leif seinen Kopf in den Händen, und ich legte einen Arm über seinen Rücken, während mir vereinzelte Tränen über die Wangen liefen. Es ist zu spät , dachte ich. Ich weiß nicht, was ich mir erhofft habe, aber es ist eindeutig zu spät. Ich glaube, erst dann, erst als ich den physischen Beweis unseres veränderten Äußeren vor Augen hatte, begriff ich, wie viele Jahre tatsächlich vergangen waren. Wir hatten vollkommen verschiedene Leben gelebt. Wir waren andere Menschen geworden.
Nach vielleicht einer Minute ging ich hinein, um mir das Gesicht zu waschen. Ich rechnete damit, ein ziemlich verschmiertes Make-up zu haben, doch als ich in den Spiegel sah, erinnerte ich mich, dass ich am Morgen keins aufgelegt hatte. Ich wusch mein Gesicht und trocknete es ab und warf einen Blick über meine Schulter, wobei ich den Badezimmerschrank prüfend ansah. Aber dort gab es nur Männersachen. Und eine einzelne Zahnbürste. Das bestätigte sich, als ich zurück durch den Schlafraum ging. Nur in einem der Doppelbetten hatte jemand geschlafen.
Als ich hinaus in den Sonnenschein trat, stand Leif da und blickte hinaus aufs Meer. »Hast du geheiratet?«, fragte ich schnell und bevor mein Mut mich wieder verließ.
»Ja«, antwortete Leif. »Und du?«
Ich nickte. »Es hat aber nicht funktioniert. Nun ja, für eine Weile schon …«
»Bei mir war es nicht anders«, sagte Leif. Er hatte sich immer noch nicht zu mir umgewandt. »Fünf Jahre.«
»Acht«, sagte ich. »Ich habe acht geschafft.«
»Also hast du gewonnen«, meinte Leif, und ich war mir nicht sicher, ob er es heiter meinte oder abfällig.
»Warum ist deine …?«, begann ich, doch ich hielt inne. Ich fand nicht, dass ich das Recht hatte, ihn danach zu fragen.
»Warum sie schiefgegangen ist?«
»Ja.«
Er wandte sich mir zu. Seine Augen hatten rote Ränder. »Ich wollte Kinder«, sagte er. »Aslaug nicht. Das hat zu einer Menge Problemen geführt. Und …«
»Und?«
Leif zuckte die Achseln. »Das war wirklich die Hauptsache«, sagte er. »Und bei dir?«
»Was bei mir?« Ich hatte Angst, dass er mich fragte, ob ich Kinder hätte. Denn ich wusste immer noch nicht, wie ich es hinbekommen sollte, ihm zu erzählen, was ich ihm sagen musste.
»Deine Ehe? Warum ist sie zu Ende gegangen?«
»Oh«, sagte ich. »Ich weiß es eigentlich nicht. Warum gehen Ehen zu Ende?«
»Du weißt es nicht?«
Ich zuckte die Achseln. »Er war ganz reizend. Sein Name war Brian, und er war freundlich und lustig und hübsch. Aber …«
»Aber?«
»Ich habe ihn … nicht richtig geliebt, nehme ich an. Ich habe immer … ich weiß nicht …«
»Schon gut«, entgegnete Leif. »Du musst nicht. Ich war nur neugierig.«
»Ich habe ihn ständig mit dir verglichen, nehme ich an. Daran hat es wohl gelegen, wenn ich ehrlich bin. Ich habe immer ein bisschen an dich gedacht. Und das hat alles … verkompliziert.«
Leif lächelte traurig. »Ich bin nicht so besonders, weißt du?«
»Nein«, erwiderte ich. »Und ich auch nicht.«
»Aber wir …«, sagte Leif und er deutete zwischen ihm und mir hin und her. »Zwischen uns herrschte etwas Magisches, war es nicht so? Damals?«
Ich nickte und kaute auf meiner Unterlippe. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber ich merkte, dass ich keinen weiteren Laut hervorbrachte. Ja , dachte ich. Zwischen uns herrschte etwas Magisches .
Wir gingen zurück zu unseren Stühlen, und Leif nahm meine Hände in seine. »Also sag es mir, Laura«, bat er. »Und sag mir die Wahrheit. Bist du mit jemandem zusammen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Es hat sonst niemanden gegeben. Niemanden vor Brian und niemanden danach. Selbst Brian … es war nicht … weißt du … Und du?«
Leif schüttelte den Kopf. »Niemand seit Aslaug«, sagte er. »Ich denke oft, dass ich bei ihr hätte bleiben sollen.«
»Wirklich?«
»Ich habe ja nun trotzdem keine Kinder. Ansonsten haben wir uns eigentlich wegen nichts gestritten.«
»Ja, ja, ich verstehe«, sagte ich. Wieder versuchte ich, einen Satz zu formulieren, in dem der Name »Becky« vorkam, aber erneut schien es mir nicht möglich, die richtigen Worte zu finden.
»Ich habe immer gehofft, weißt du«, sagte Leif. »Jedes Jahr, in dem ich hierhergekommen bin, habe ich gedacht, genau das hier könnte passieren. Dass ich mich umblicke und dich sehe. Warum bist du nicht zurückgekommen?«
»Ich konnte es mir nicht leisten«, antwortete ich. »Und außerdem hatte ich Angst. Jedenfalls noch am Anfang. Und ich hatte ein … Der einzige Urlaub, den ich vorher je verbracht hatte, war in Bergen. Und später habe ich dann geheiratet und … Brian wollte ich kaum hierherbringen.«
»Nein«, sagte Leif. »Und jetzt?«
»Wie meinst du?«
»Warum bist du jetzt hergekommen?«
»Oh, ich weiß es eigentlich gar nicht«, meinte ich. »Ich habe ein bisschen Geld geerbt. Und ich habe meinen Job verloren, deswegen habe ich die Zeit. Und natürlich hatte ich mich von Brian getrennt. Vielleicht wollte ich mich einfach daran erinnern, wer ich war, bevor ich ihn getroffen habe. Irgendwas in der Richtung jedenfalls.«
»Und du bist wirklich nach Bergen gekommen? In welchem Jahr war das?«
»2000 vielleicht? 2001? Ich habe Jahre gebraucht, um dafür zu sparen.«
»Klar«, sagte Leif.
»Bist du dort gewesen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe auf Ölplattformen gearbeitet. Ich war niemals richtig irgendwo. Immer draußen auf See.«
Ich seufzte. Die Tatsache, dass er nicht in Bergen gewesen war, verlieh mir ein halbwegs zufriedenes Gefühl. Denn ich hatte mir immer vorgestellt, ihn verpasst zu haben. Oft hatte ich vor mir gesehen, wie wir nur Meter voneinander entfernt aneinander vorbeigingen. Immer wieder sah ich Becky und mich, wie wir ein Café verließen und Leif nur Minuten später auf meinem immer noch warmen Stuhl Platz nahm. Aber nun war er überhaupt nicht dort gewesen. Irgendwie kam mir das besser vor.
Vielleicht zehn Minuten saßen wir einfach nur da und blickten einander schweigend in die Augen.
Gelegentlich atmete Leif scharf aus und schüttelte den Kopf, als sei die Absurdität der ganzen Geschichte irgendwie amüsant. Und ich schwankte zwischen Tränen und einem Gefühl von Erschlagenheit. Ich war ganz benommen von alldem, denke ich, und ich konnte einfach nur weinen oder es nicht tun.
Der Gedanke erwischte mich, ohne dass ich ihn kommen sah. Ganz plötzlich geschah es. Ich riss mich aus Leifs Griff los und stand auf. »Ich muss nach jemandem sehen«, sagte ich und hatte vor, Becky zu holen, damit sie ihren Vater kennenlernen konnte. »Könntest du warten?« Leif blickte verwirrt.
»Vertrau mir einfach«, sagte ich. »Und rühr dich nicht von der Stelle. Was immer du auch tust, rühr dich nicht von hier weg.«
»Ich werde hier warten«, versprach Leif.
Als ich loslaufen wollte, sprang er allerdings auf und griff nach meiner Hand. »Ich habe Angst«, sagte er. »Ich habe Angst, dass du verschwindest und niemals wiederkommst.«
»Dann komm mit«, sagte ich, nachdem ich eine Sekunde nachgedacht hatte. »Es kommt aufs Gleiche hinaus. Komm mit mir mit.«
Wir kletterten die Stufen bis zur Straßenebene hinauf, gingen an der eiskalten Lobby vorbei und bis zu dem kleinen Laden. Ich spähte hinein und sah Baruch, der die Einkäufe einer Frau mit der altmodisch klingenden Kasse abrechnete.
»Becky?«, fragte ich nur.
Baruch zuckte die Achseln. Dann entdeckte er Leif hinter mir, und er bekam ganz große Augen. »Ist das …?«, fragte er.
Ich nickte. »Wir sehen uns später«, sagte ich.
Als wir zu unserer Unterkunft kamen, stand die Tür offen. »Becky?«, rief ich.
»Ich bin im Badezimmer«, rief sie zurück.