KAPITEL 17
BECKY
Ich rauchte ein paar Zigaretten auf der Mauer vor dem Hotel. Meine Hände zitterten – also sie zitterten richtig . So richtig, dass die Zigarette, wenn ich einen Zug nahm, gegen meine Lippen schlug. Auch mein Herz raste, und mein Kopf schien mit dreifacher Geschwindigkeit zu arbeiten und es trotzdem nicht hinzukriegen, einen einzigen zusammenhängenden Satz zu produzieren. Mein Kopf fühlte sich wie eine Waschmaschine im Schleudergang an und produzierte nur ein verwaschenes Farbengemisch.
Nachdem ich meine dritte Zigarette ausgedrückt hatte, beschloss ich, mal nachzusehen, was eigentlich im Hotel passierte, aber als ich den Eingang erreichte, überflutete mich eine Welle der Furcht – ich hatte einfach nicht den Nerv. Also wandte ich mich stattdessen der Innenstadt zu. Ob ich nun recht hatte oder mich irrte – es so plötzlich herauszufinden, erschien mir unerträglich.
Meine Gedanken waren immer noch verschwommen, selbst meine Sehfähigkeit schien aus dem Lot zu sein. Und ich funktionierte so wenig, dass ich auf der Straße gegen mehrere Leute stieß. Sogar mein Navigationssystem hatte sich wohl verabschiedet.
Also gab ich es auf und rannte fast, als ich an dem kleinen Laden vorbeikam und Kurs nahm hinunter zu unserer Behausung. Dort setzte ich mich hin, rauchte eine Weile, und weil ich hoffte, dass mich beruhigen würde, was die Zigaretten nicht geschafft hatten, beschloss ich, eine kalte Dusche zu nehmen.
In dem Moment, als Mum den Raum betrat, wusste ich, dass ich recht gehabt hatte. Ihre Augen waren ganz rot und verweint, aber sie hatte auch dieses eigenartige Leuchten im Gesicht. Sie sah aus – wenn das ein gutes Bild ist –, als habe sie Jesus gefunden oder Buddha oder irgendjemand Ähnliches. Ihre Bewegungen waren ruhig, ihre Züge sanft. Ihre Stimme klang weicher als gewöhnlich.
»Komm«, sagte sie, nahm meine Hand und führte mich hinaus in den Sonnenschein. Dort stand der vermutete Buddha und blickte hinaus aufs Meer.
»Leif«, sagte sie. »Das ist Becky.«
Er drehte sich zu mir um, und einen seltsamen Augenblick lang starrten wir einander in die Augen, suchten nur, denke ich, nach Ähnlichkeiten. Nicht in den Augen selbst, sondern dahinter in unseren Seelen.
Leif runzelte die Stirn. Er schien verwirrt. »Hallo Becky«, sagte er.
»Hallo … Dad ?«, fragte ich zweifelnd.
Er wurde blass, und erst in dem Moment begriff ich, dass Mum ihn nicht vorgewarnt hatte – sie hatte ihm nicht erklärt, wer ich war. Mir war das alles plötzlich peinlich und ich fühlte mich im Namen von Leif ziemlich schwindelig und wütend mal wieder, was meine Mutter betraf.
Wir starrten uns einige weitere Sekunden an, und es war, als würde man in einen Spiegel sehen, wenn auch in einen verzerrten auf dem Jahrmarkt. Es gibt da diese Programme im Internet, die einem zeigen, wie man aussehen würde, hätte man das gegenteilige Geschlecht. Genauso war es hier. Ganz genauso. Ich sah mich an, aber in der Form eines fünfzig Jahre alten Mannes.
Leif wandte sich an Mum. »Laura?«, fragte er.
Sie nickte nur sanft und blinzelte langsam. Ihre Augen waren feucht, und sie besaß immer noch diesen seltsam gelassenen Ausdruck, und ich spielte mit der Idee, ihn ihr aus dem Gesicht zu hauen.
» Herregud! «, rief Leif, was ungefähr so klang, als würde es bedeuten »Oh mein Gott!« oder »Himmel!« oder vielleicht sogar »Ach du Scheiße!«.
»Ich … muss mich mal setzen«, sagte er mit bebender Stimme, während er auf einen Liegestuhl sank.
Ich blieb stehen und beobachtete seine Miene. Ich suchte immer noch nach Ähnlichkeiten – es gab viele –, aber genauso verzweifelt nach irgendeinem Ausdruck der Freude auf seiner Seite, dass er eine ihm bisher unbekannte Tochter gefunden hatte. Doch davon war keine Spur zu erkennen. Wenn er überhaupt nach irgendetwas aussah, dann, als würde er sich jeden Moment übergeben.
»Du bist dreiundzwanzig?«, fragte er und wollte offensichtlich damit bestätigen, dass das Unmögliche, was sich hier gerade abspielte, tatsächlich geschah.
Ich nickte. »Hergestellt in Oia«, erwiderte ich mit einem erzwungenen Lächeln und einem aufgesetzten Schulterzucken.
»Ja«, sagte Leif schwach. »Ja, natürlich. Bitte … setz dich zu mir.« Er deutete auf einen zweiten Liegestuhl. Also setzte ich mich dort ihm gegenüber hin. »Es tut mir leid«, sagte er. »Es ist ein kleiner Schock.«
»Ich weiß«, erklärte ich. »Wem sagst du das?«
»Ich … äh … mache dann mal Tee«, verkündete Mum in ihrer albernen überdrehten Stimme. »Möchte jemand einen Tee? Ja, ich mache eine schöne Tasse Tee.« Als sie im Haus verschwand, wünschte ich, mir wäre das zuerst eingefallen, denn die Anspannung hier draußen war geradezu verrückt. Sie schien den gesamten Sauerstoff aus der Luft gesaugt zu haben, und mir fiel es zunehmend schwer zu atmen.
»Ich denke …«, begann Leif. »Ich finde, du bist … Hmm. Das ist ziemlich hart, oder?«
»Ja«, bestätigte ich.
»Aber wir sehen uns sehr ähnlich, findest du nicht?«
»Ja, das tun wir«, sagte ich.
»Deine Hände«, sagte Leif und deutete mit dem Kopf in ihre Richtung. »Sie sind lang, genau wie meine. Die Finger.«
Ich nickte und streckte eine Hand aus, um sie zu vergleichen. »Mein Musiklehrer wollte, dass ich Klavier lerne«, sagte ich und blickte mehr auf meine zitternde Hand als auf Leif. »Aber ich habe es gehasst. Ich habe nie Noten lesen können.«
»Nein«, sagte er. »Nein, Musik ist sehr schwer.« Er deutete erneut auf meine Hand und fragte: »Darf ich?«
Ich runzelte einen Moment die Stirn, weil ich nicht verstand, was er meinte. Dann begriff ich, dass er meine Hand gern nehmen wollte, und bot sie ihm zitternd an. Er umschloss sie mit seinen eigenen Händen. Sie hatten die gleiche Temperatur, und seine Haut fühlte sich an wie meine eigene, nur rauer.
»Ich bin überrascht«, sagte er. »Du bist wunderschön.«
Ich spürte, wie ich rot wurde, und zog meine Hand zurück. Es war alles einfach zu peinlich.
»Natürlich, deine Mutter ist ja auch schön«, sagte er. »Nur ich bin es …« Er deutete auf sein eigenes Gesicht und verzog es. »Dein Name ist also Becky?«
Ich nickte. »Eigentlich Rebecca«, erwiderte ich. »Aber alle nennen mich Becky. Oder Becks.«
»Es ist ein reizender Name«, sagte Leif.
»Und dein Nachname?«, wollte ich wissen. »Wie ist er genau?«
»Vilhjálmsson«, antwortete er.
Ich hatte es nicht richtig verstanden, aber ich nickte. »Genau«, sagte ich.
»Er kommt aus dem Isländischen. Meine Eltern waren Isländer. Aber ich bin Norweger.«
»Okay«, sagte ich.
Einen Moment lang herrschte Stille, in der ich hörte, wie Mum in unserem Häuschen mit Tassen und Tellern herumklapperte. »Und was machst du so?«, fragte ich, nicht nur, weil die Stille unerträglich war, sondern weil meine vielen und unterschiedlichsten Fantasien über meinen Vater sich immer um seine Tätigkeiten als Superheld gedreht hatten.
»Ich bin Ingenieur«, sagte Leif. »Ich arbeite auf Ölplattformen. In der Nordsee. Du weißt schon, wir bohren.«
»Ah ja«, sagte ich und war irgendwie enttäuscht.
»Und du?«
»Ich? Ich … äh … bin gerade mit dem College fertig. Ich habe Geisteswissenschaften studiert. Vielleicht will ich Lehrerin werden, aber ich habe mich noch nicht entschieden.«
»Du willst Lehrerin werden?«
»Ja«, sagte ich. »Vielleicht. Oder ich suche mir einen Job. Irgendeinen Job. Aber es gibt nicht so viele. Alles ist im Moment ziemlicher Müll. Die Wirtschaft ist im Abstieg, dann der Brexit …« Ich verstummte. Ich hatte mich gerade, im wichtigsten Augenblick meines Lebens, über irgendwelche Bedeutungslosigkeiten ausgelassen, und das hatte mir überhaupt nicht gefallen.
»Nein«, erwiderte Leif. »Natürlich.«
Wie aus dem Nichts begann plötzlich ein Mahlstrom aus Gefühlen in meinem Innern zu wirbeln. Es war eine komplexe Mischung aus Scham über die geradezu Zahnschmerzen verursachende Unterhaltung, die wir führten, aus Wut auf Leif, dass er diesen Moment nicht magischer gestaltete, und auch auf Mum, dass sie mich einfach damit alleingelassen und die Begegnung nicht besser organisiert hatte. Und wenn ich ehrlich bin, war ich auch wütend auf sie, dass sie sich jemand so Gewöhnliches und ökologisch Unvernünftiges als meinen Vater ausgesucht hatte. Ich meine, nach Öl bohren! Also wirklich!
Noch bevor ich wusste, was ich da eigentlich tat, stand ich auf und sagte: »Ich kann das nicht. Es tut mir leid, aber ich kann nicht«, und rannte die Stufen hinauf. Ich lief bis ganz nach oben und marschierte ein paar Hundert Meter die Straße entlang, dann stieg ich die gefürchteten Stufen hinab, als Mum hinter mir herkam.
»Becky!«, schrie sie. » Becky! «
Ich hielt inne, damit sie mich einholen konnte, dann setzte ich mich auf eine Stufe, als sie mich erreichte.
»Was ist passiert?«, fragte sie atemlos.
Ich zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf.
»Rede mit mir«, sagte Mum, setzte sich neben mich und legte einen Arm um meine Schultern.
»So sollte es einfach nicht sein«, erklärte ich schwach.
»Was sollte so einfach nicht sein?«
»Wenn man seinen Vater trifft«, entgegnete ich, »das erste Mal.« Ich ließ die Bilder, die ich im Laufe der Jahre erschaffen hatte, vor meinem inneren Auge paradieren und verglich sie dann mit der glanzlosen Wirklichkeit, wie sie sich gerade ereignet hatte.
Da waren wir, mein Vater und ich, wir umarmten uns und weinten an der Schulter des anderen.
Da war er, erschien in einer Tür, einen gottgleichen Heiligenschein um den Kopf, und sagte: »Du bist meine Tochter und ich liebe dich.«
Hier war er wieder und hielt in einem großen schwarzen Auto. »Dein Vater ist draußen und wartet auf dich«, hätte man gesagt, und als ich hinauslief, um ihn zu sehen, hätte ein Chauffeur die hintere Tür geöffnet, hinter der mein Vater erschien, der reich war, elegant gekleidet, lächelnd …
Stattdessen hatte unser Zusammentreffen mehr dem unbehaglichen Gespräch geähnelt, das man gezwungen ist, mit dem Vater einer Freundin zu führen, während man darauf wartet, dass sie fertig wird. Man kennt das ja: Wie läuft die Schule? Wie geht es deiner Mutter?
»Es fühlt sich an, als wäre da nichts«, sagte ich, als die Tränen begannen, über mein Gesicht zu strömen. »Ich hatte damit gerechnet, irgendetwas zu spüren, aber da ist nichts, Mum. Ich habe so lange gewartet, und jetzt ist da nichts, weißt du?«
Sie nahm mich in die Arme und wiegte mich sanft. »Oh, Schätzchen«, sagte sie. »Das braucht Zeit. Du musst alldem Zeit lassen.«
»Er ist einfach so gewöhnlich«, sagte ich und ließ meinen Tränen freien Lauf, wobei ich gleichzeitig diese Worte einer verwöhnten Göre hasste, noch während ich sie sagte.
»Nein, das ist er nicht«, entgegnete Mum leise. »Komm zurück, und du wirst selbst sehen. Er ist alles andere als gewöhnlich.«
»So soll es einfach nicht sein«, schluchzte ich.
»Nur ist es das vielleicht einfach, Häschen«, sagte Mum. »Vielleicht soll es genau so sein. Woher sollen wir das wissen?«
fleuron
Schließlich ließ ich es zu, dass Mum mich zurückführte, weil ich glaubte, dass es auch das war, was ich tatsächlich wollte. Ich ließ bereits meine kindischen Erwartungen hinter mir, dass mein Vater ein Superheld sein müsste – ich begriff, dass er natürlich ganz gewöhnlich war.
Als wir zurückkamen, war Leif im Haus und würfelte Tomaten. »Ich dachte, ich könnte etwas zu essen machen«, sagte er zu Mum. »Ich hoffe, du hast nichts dagegen?«
Mum schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht«, sagte sie. »Genau das wollte ich vorschlagen. Wir haben sowieso noch alles da, was ich gestern gekauft habe, daher …«
Ich lungerte in der Tür herum und gab mir alle Mühe, nicht finster dreinzublicken wie ein Teenager, aber ich glaube, ich muss trotzdem ziemlich unglücklich ausgesehen haben, denn Leif warf mir noch einen Blick zu und hielt inne mit dem, was er tat. Er trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch ab, kam zu mir und stellte sich vor mich. »Wenn du möchtest, kann ich gehen«, sagte er.
Ich zuckte die Achseln. In dem Moment war es noch das Beste, wozu ich in der Lage war.
»Natürlich möchten wir nicht, dass du gehst«, entgegnete Mum. »Oder?«
»Es tut mir leid«, fuhr Leif fort. »Ich kann das nicht besonders gut. In der Schule lernt man so was nicht, weißt du?«
Ich schnaubte. »Nein«, sagte ich. »Ich habe das auch nicht in der Schule gelernt.«
Er drehte sich kurz zu meiner Mutter um, die gerade einen Salat aus dem winzigen Kühlschrank nahm. Dann sah er mich wieder an.
»Ich weiß, das ist …«, begann er. »Ich meine, wenn du es nicht möchtest, kannst du Nein sagen, okay?«
»Wenn ich was nicht möchte?«, fragte ich.
»Eine Umarmung«, sagte Leif. »Ich glaube, eine Umarmung könnte uns helfen?«
Ich schluckte und nickte nervös. Erneut stiegen mir Tränen in die Augen, als er die Arme ausbreitete. Denn das war wie aus einem dieser Filme, die ich mir vorgestellt hatte. Das war eine meiner Fantasien gewesen. Als er seine Arme um mich schloss, strömten mir bereits die Tränen über das Gesicht.
Mum beobachtete uns vielleicht eine Minute, den Kopf leicht zur Seite geneigt, dann legte sie den Salat hin, wischte sich die Hände hinten an ihren Shorts ab und kam quer durch den Raum auf uns zu. »Darf ich?«, fragte sie und legte dann ihre Arme um uns beide. »Ich habe so lange darauf gewartet.«
Zum ersten Mal in meinem Leben bekam ich etwas, wovon ich immer geträumt hatte: nicht nur eine Mutter, sondern auch einen Vater, und beide hielten mich fest. Und sie taten es tatsächlich, hier und jetzt – ich hatte das Gefühl, als würde ich vor lauter Emotionen auf der Stelle zusammenbrechen. Aber der Augenblick dauerte nicht lang. Ich glaube, uns alle überkam eine gewisse Verlegenheit. Deswegen trennten wir uns und widmeten uns voller Elan der nicht allzu herausfordernden Aufgabe, das Abendbrot zuzubereiten.
Mum wusch Salatblätter, und Leif und ich trugen den kleinen Tisch hinaus und deckten ihn. Ich öffnete die Becher mit Hummus und Zaziki, die Mum gekauft hatte, und schnitt das Brot in Scheiben.
Es war ein seltsames Gefühl, etwas so Normales zu tun. Denn es gemeinsam als Familie zu machen, war außergewöhnlich. Ich hatte das Gefühl, eine Rolle in einem Theaterstück zu spielen oder eine der Szenen zu durchleben, mit deren Erfindung ich mein Leben zugebracht hatte.
Während wir aßen, begannen wir uns fast völlig normal zu unterhalten. Mum und Leif – ich konnte mich einfach nicht überwinden, ihn noch einmal Dad zu nennen – hatten viel aufzuholen, und ich fühlte mich geehrt, dabei zu sein und es alles mit eigenen Ohren zu hören.
Leif berichtete, dass er mit einer Universitätsprofessorin und Erzfeministin verheiratet gewesen sei und wie sie darüber gestritten hatten, Kinder zu haben, wovon sie meinte, dass es Frauen erniedrigen würde. Er sagte, er hätte sie einmal mit nach Santorin gebracht, aber es sei schrecklich gewesen. Die ganze Zeit habe er an Mum gedacht, und seiner Frau – ihr Name war Aslaug – hatte die Insel nicht besonders gefallen.
Sowohl Mum als auch ich fragten uns laut, wie so etwas möglich sei, aber Leif beharrte darauf. »Blau, blau, alles ist blau«, sagte er und wiederholte offenbar die Worte seiner Exfrau. »Es ist einfach so langweilig, Leif.«
Mum erzählte auch ein wenig von ihrer eigenen Ehe mit Brian. Aber es war eine ziemlich überzuckerte Version, wahrscheinlich mir zuliebe. Ich denke, dass Leif am Ende ziemlich verwirrt gewesen sein musste, warum die beiden sich denn überhaupt getrennt hatten.
Auch über mich sprachen wir ein bisschen. Mum zog mich wegen meiner »Sache« mit Baruch auf, und Leif sagte, dass Santorin ein sehr romantischer Ort sei und ihn das überhaupt nicht überraschte. Auch er hatte Baruch gesehen und stimmte zu, dass er ein »sehr gut aussehender Junge« sei.
»Nur pack seine Telefonnummer nicht in deinen Koffer«, scherzte Leif, ein Witz, der irgendwie sein Ziel verfehlte. Einen Moment saßen wir alle schweigend da und dachten, nehme ich an, über das ganze Trauma und die verschenkten Möglichkeiten nach, die ein einfacher Irrtum verursacht hatte.
»Kann ich ein bisschen etwas über Conor fragen?«, fragte ich schließlich. Es war das einzige Thema, das wir noch nicht berührt hatten.
»Natürlich«, antwortete Mum. »Frag alles, was du möchtest.« Ihre Augen allerdings schienen etwas anderes zu sagen.
»Es geht mir eigentlich nur um den Unfall«, sagte ich. »Kann einer von euch beiden mir so ungefähr erzählen, was passiert ist?«
»Oh«, sagte Mum. »Darüber müssen wir doch nicht gerade jetzt sprechen, oder?«
»Du hast eben gesagt, ich könne alles fragen«, erinnerte ich sie. Aber da ich sah, dass sie sich bereits wie eine Muschel verschloss, wandte ich mich stattdessen an Leif. »Hast du es selbst gesehen?«
»Habe ich was gesehen?«
»Den Unfall. Conors Unfall. Warst du dabei, als es passiert ist?«
»Oh ja …«, erwiderte Leif. Ein Schatten glitt über sein Gesicht. »Ich meine, nein«, korrigierte er sich, und ich nahm an, dass Mutter ihm hinter meinem Rücken einen entsprechenden Blick zugeworfen hatte.
»Meinst du, ich könnte kurz mal allein mit Leif sprechen?«, fragte Mum und bestätigte damit meinen Argwohn.
»Wieso? Damit ihr eure Geschichten abstimmen könnt?«
»Nein«, erwiderte Mum. »Nein, darum geht es nicht. Warum bist du denn so? Es ist nur … nur … Gib uns eine Minute, okay?« Sie stand auf und winkte Leif. Er wirkte vollkommen verwirrt. Ich glaube nicht, dass er auch nur die geringste Ahnung hatte, was los war.
»Du sollst ihr folgen«, erklärte ich. »Damit sie dir sagen kann, welche Lügen du mir erzählen sollst.«
An dem Punkt wäre ich beinahe weggegangen. Ich saß da und stellte mir vor, wie sie hinter der geschlossenen Tür miteinander flüsterten, und dachte darüber nach, sie einfach allein zu lassen. Ich spannte sogar ein paar Mal meine Beinmuskeln an, um aufzustehen, aber am Ende blieb ich doch. Was immer sie mir auch erzählen würden, ich war neugierig darauf. Außerdem vermutete ich, dass Leif mich nicht würde anlügen wollen. Ich weiß nicht, warum ich das dachte, aber so war es. Es stand ihm einfach irgendwie ins Gesicht geschrieben, nehme ich an.
Als sie schließlich zurückkamen, schien es so, als hätte ich recht. »Also, Becky«, begann Mum ziemlich sachlich. »Wir haben das besprochen, Leif und ich, und es gibt noch einen Teil der Geschichte, den wir dir erzählen müssen. Aber ich muss wissen, dass ich dir vertrauen kann. Weil, nun ja … der ist heikel, könnte man wohl sagen.«
»Mir vertrauen?«, wiederholte ich, bereits außer mir. Und dann: »Heikel? Wieso?«
»Es geht nicht darum, dass ich dir nicht vertraue«, erwiderte Mum. »Das tue ich. Deswegen möchte ich es dir erzählen … diese Sache. Aber du darfst es niemandem weitererzählen. Wirklich nicht. Niemals. Wenn wir dir die Wahrheit sagen, und Leif meint, das sollten wir tun, dann musst du mir das versprechen.«
»Dann werde ich es niemandem erzählen«, sagte ich. »Keine Sorge.«
»Nicht mal Baruch«, sagte Mum.
»Ganz besonders nicht Baruch«, fügte Leif ernst hinzu.
»Ja, du hast recht«, stimmte Mum zu. »Ganz besonders nicht Baruch.«
»Okay«, gelobte ich feierlich. »Nicht einmal Baruch.«
Mum seufzte, dann sahen sie und Leif einander an und mussten sich erst schweigend darüber einig werden, wer begann.
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, sagte Mum.
»Am Anfang«, sagte Leif. »An dem Abend, an dem Conor …«
»Nein«, unterbrach Mum ihn. »Nein, wir müssen ein Stück weiter zurückgehen. Sonst ergibt das keinen Sinn. Es würde schrecklich klingen.«
»Okay«, erwiderte Leif. »Fang an, wo immer du willst.«
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Mum begann, mir ihre Geschichte zu erzählen. Sie berichtete mir noch einmal von der Rave-Party, auf der sie Conor kennengelernt hatte. Sie erzählte mir, wie sie nach London gefahren war, um sich mit ihm zu treffen, und er beschlossen hatte, trotz ihrer Proteste die Tickets nach Santorin zu kaufen. Sie sagte, dass er schon am Flughafen betrunken gewesen sei, als sie dort eintrafen, und dass sie es sich fast noch einmal anders überlegt hätte.
Teile der Geschichte waren Leif offenbar ebenfalls neu, denn er wirkte manchmal überrascht. An anderen Stellen stellte er Fragen wie: »Aber warum bist du ins Flugzeug gestiegen? Warum bist du nicht einfach nach Hause gefahren?«
Mum tat ihr Bestes, um alle unsere Fragen zu beantworten, obwohl sie manchmal Mühe hatte, uns das alles verständlich zu machen.
Sie erzählte mir, wie Conor sie sich auf Mykonos einfach genommen hatte, und ich fragte sie, warum sie nicht zur Polizei gegangen sei. Wieder fiel es ihr schwer, das zu erklären.
Von dem Punkt an, wo sie Leif getroffen hatte, begannen sie beide gemeinsam zu erzählen, manchmal redeten sie gleichzeitig, manchmal wechselten sie sich ab. Ab und zu widersprachen sie einander gutmütig, was sehr niedlich zu beobachten war, weil sie wie ein richtiges Pärchen wirkten, das versuchte, sich darüber zu einigen, was in der Vergangenheit nun genau geschehen war.
Mum erklärte, wie Conor sie geschlagen hatte und wie sie Leif auf den Stufen wiedergetroffen hatte. Leif berichtete dann von Mums Reisepass und wie sie überall nach Conor gesucht hatten, weil sie ihre Papiere unbedingt zurückhaben musste.
Mums Geburtstag klang wahnsinnig romantisch, und mir stiegen die Tränen in die Augen, als mir klar wurde, dass sie sich entgegen jeder Wahrscheinlichkeit tatsächlich wiedergetroffen hatten, sich gemeinsam daran erinnern und es mir erzählen konnten. Und dann nahm ihre Geschichte eine düstere Wendung, und ganz allmählich stellten sich mir die Nackenhaare auf.
Es kam mir vor wie einer dieser Augenblicke in einem Horrorfilm, wenn sich die Musik verändert und man weiß, dass etwas Schlimmes passieren wird. Die Protagonisten parken am Straßenrand und laufen einen dunklen Pfad zum Rand der Klippen entlang, und man will schreien: »Nicht! Geht nicht den Pfad entlang!«
Wie ich schon vermutet hatte, war Conor aufgetaucht, und ein Kampf hatte sich entwickelt.
»Er war Boxer«, erinnerte mich Mum. »Und so fit. Und massiv gebaut wie ein Bulle. Er war wirklich unbezwingbar.«
»Und betrunken«, fügte Leif hinzu. »Wenn er getrunken hatte, war alles noch schlimmer.«
»Ja, wenn er trank, wusste er nicht mehr, was er tat. Dann hatte er die Kraft von zwanzig Männern.«
»Er hat versucht, deine Mutter zu entführen«, erklärte Leif. »Er hat versucht, sie ins Auto zu zerren. Deswegen habe ich ihm gesagt, dass es vorbei sei. Ich habe ihm gesagt, dass wir uns lieben.«
»Ich hätte dich umbringen können, als du das gesagt hast«, erklärte Mum. Sie wandte sich an mich. »Kannst du dir das vorstellen? Das war wie ein rotes Tuch für einen Stier. Als würde man eine ganz kurze Lunte anzünden, und am anderen Ende der Zündschnur war Conor.«
»Ich dachte, er würde vielleicht vernünftig sein«, sagte Leif. »Ich dachte, er müsse das wissen.«
»Vernünftig …«, wiederholte Mum sarkastisch.
»Und dann ist er völlig durchgedreht?«, fragte ich.
»Mehr als das«, sagte Leif.
»Ja, es war viel schlimmer, als einfach nur durchdrehen«, stimmte Mum ihm zu. »Er hat sich benommen wie ein Killer in einem Film. Er hat Leif gepackt …«
»Am Kragen«, sagte Leif und packte sein T-Shirt mit der Faust, um es mir zu zeigen.
»Und dann hat er zugeschlagen«, fuhr Mum fort. »Wieder und wieder. Er wollte überhaupt nicht aufhören.«
»Er hat sie mir gebrochen«, meinte Leif und zeigte auf seine schiefe Nase. »Und zwei Zähne noch dazu.«
»Du hast zwei Zähne verloren?«, fragte Mum.
Leif nickte. »Sie haben so gewackelt«, berichtete er und zeigte mit der Spitze seines Zeigefingers, wie sehr. »Als ich nach Hause gefahren bin, sind sie mir herausgefallen. Diese vier sind jetzt miteinander verbunden.« Er deutete auf seine Schneidezähne.
»Du brauchtest eine Brücke«, half Mum, es zu erklären.
»Ja, eine Brücke.«
»Was habt ihr gemacht? Wie habt ihr ihn aufgehalten?«, wollte ich wissen. »Ihr habt ihn doch nicht gestoßen, oder? Ihr habt ihn doch nicht von der Klippe gestoßen?«
»Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob du das hören willst, Schätzchen«, sagte Mum und warf Leif einen besorgten Blick zu.
»Das soll ein Scherz sein«, meinte ich. »Wenn du glaubst, jetzt kannst du aufhören zu erzählen, musst du verrückt sein!«
»Es ist nur … es ist ein bisschen finster«, erklärte Mum. »Ich möchte nicht, dass es dich verfolgt.«
»Das wird es nicht«, versicherte ich ihr. »Erzähl schon. Ich muss es wissen.«
Wieder warf Mum Leif einen Blick zu. Er zuckte die Achseln und sagte: »Ich denke, wir müssen alles erzählen, Laura. Ich kann das tun, wenn du möchtest.«
»Nein«, sagte Mum. »Nein, schon gut.« Sie holte einmal tief Luft. »Also ich habe wirklich alles versucht, was mir nur einfiel, um ihn zurückzuhalten. Ich habe mich an seinen Hals gehängt. Ich habe mit meinen Fäusten auf seinen Rücken eingetrommelt. Aber nichts hat irgendetwas geändert. Es war, als würde er mich nicht einmal bemerken.«
»Ich habe nachgegeben«, gestand Leif. »Ich wusste, dass ich ihn nicht schlagen konnte. Ich war wirklich nicht tapfer. Ich habe geweint und ihn angefleht aufzuhören.«
»Du warst so tapfer«, sagte Mum zu ihm. Dann wandte sie sich unter Tränen wieder an mich. »Hör nicht auf ihn. Er war so tapfer. Ich war überzeugt, dass Conor ihn töten würde. Er schlug einfach immer weiter auf ihn ein, wieder und wieder. Wie auf einen Punchingball. Und als Leif dann am Boden lag, hat er angefangen, ihn zu treten. Es war entsetzlich.«
»Ich dachte, ich sterbe«, sagte Leif. »Das habe ich wirklich geglaubt. Ich begann, zu Gott zu beten. Ich bin nicht gläubig, weißt du? Nur für den Fall der Fälle habe ich angefangen zu beten.«
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Leif, der beide Arme gehoben hatte, um seinen Kopf zu schützen, nickte kraftlos. »Du hast gewonnen«, keuchte er erneut. »Es ist vorbei.«
Conor schnaubte. »Ich habe ja kaum angefangen, Freundchen«, sagte er. Dann griff er zwischen Leifs Arme, packte dessen T-Shirt und zog ihn wieder auf die Füße.
»Du wirst ihn noch umbringen, Conor!«, schrie Laura.
»Das«, erwiderte Conor und lächelte sie an, »ist genau mein Ziel.«
In dem Moment begriff sie, dass es stimmte. Bis zu diesem Augenblick waren es nur Worte gewesen, doch in dem Moment erkannte sie, dass Conor Leif tatsächlich töten würde. Genau dort. Genau jetzt. Direkt vor ihren Augen. Und keine Gegenwehr oder ihn gewinnen zu lassen, würde daran etwas ändern. Wenn sie nicht irgendetwas unternahm, wäre Leif tot. Der einzige Mann, den sie jemals geliebt hatte, würde einfach nicht mehr existieren.
Frisches Adrenalin schoss durch ihre Adern, und ihre Tränen versiegten. Ihr Hirn schaltete in einen ganz unbekannten Modus, mit dem sie höchst genau und in dreifacher Geschwindigkeit ihre Umgebung nach einer Waffe absuchte, wobei ihr der Wagen ins Auge fiel.
Im Rhythmus von Conors metronomartigen Schlägen durchsuchte sie schnell den Innenraum, aber da war nichts, das sie hätte benutzen können. Sie überlegte, einfach auf ihn zuzufahren, doch er hatte die Schlüssel mitgenommen. Zitternd versuchte sie, den Kofferraum zu öffnen, weil sie hoffte, dort einen Radschlüssel oder einen Wagenheber zu finden, aber er war versperrt.
Laura stand da und betrachtete mit analytischem Blick die Szene. Kraft war nicht ihr Verbündeter. Sie besaß auch keine Waffe. Aber wenn sie es klug anstellte, würde ihr Vorteil in Schwung, Geschwindigkeit und Überraschung liegen.
Als Conor Leif wieder hochriss und ihn so hinstellte, dass er ihm mitten ins Gesicht schlagen konnte, lief sie einen weiten Bogen und rannte dann, so schnell sie konnte, auf ihn zu. Die letzten paar Meter flog sie buchstäblich durch die Luft und rammte ihre Schulter genau in die Mitte seines muskulösen Rückens.
Das Resultat war beeindruckender, als sie zu hoffen gewagt hatte. Er flog gegen Leif, dann durch die Luft und schlug schließlich hin. Fast gelang es ihm noch, auf den Füßen zu landen, aber in letzter Sekunde stolperte er erneut und stürzte schwer.
Leif sank zu Boden und rollte sich verzweifelt zusammen, um sein Gesicht vor der nächsten Welle von Schlägen zu schützen. Als Laura neben ihm auf die Knie sank und eine Hand nach ihm ausstreckte, zuckte er vor ihrer Berührung zusammen, sodass sie sofort wieder weinen musste.
Sie nahm ihn in die Arme, wollte ihn mit ihrem eigenen Körper schützen, wenn es sein musste, damit sie zusammen starben. Leif hatte all das nicht herausgefordert, und es reichte, dachte sie. Wenn Conor ihn töten wollte, würde er sie zuerst umbringen müssen.
»Es tut mir so leid, Leif«, sagte sie schluchzend bei dem Gedanken, dass sie zusammen sterben würden. »Ich liebe dich. Und es tut mir so, so leid.«
Ein paar Sekunden verstrichen, vielleicht eine Minute, bevor sie wagte, sich nach dem Wagen umzusehen. Er warf im Mondlicht einen Schatten auf die Stelle, wo Conor zu Boden gegangen war, deswegen konnte sie ihn nicht genau sehen, aber sie erkannte die Sohlen seiner Budapester, die zur Seite zeigten.
Leif, der vor Angst wimmerte, spähte schließlich ebenfalls durch seine Finger. »Wo ist er?«, fragte er mit zitternder Stimme. »Warum hat er aufgehört?«
»Ich weiß es nicht«, flüsterte sie und reckte den Hals, um besser sehen zu können.
Sie zog Leif noch enger an sich heran. Als ihr klar wurde, dass Conor vielleicht nur benommen war, sagte sie: »Ich sehe lieber mal nach. Bleib hier.«
Leif versuchte, nach ihrer Hand zu greifen, um sie zurückzuhalten, aber sie entzog sich sanft seinen zitternden Fingern und kroch zu der Stelle, wo Conor lag.
Er wirkte friedlich. Das war ihr erster Gedanke. Er wirkte so friedlich, als würde er schlafen und hätte gerade einen schönen Traum. Erst dann sah sie den Felsbrocken.
»Er hat sich den Kopf angeschlagen, denke ich, als er gestürzt ist«, rief sie und blickte zurück zu Leif, der mit Mühe versuchte, sich aufzurichten. »Sollten wir ihn fesseln oder so?«
»Ihn fesseln?«, wiederholte Leif, während er langsam auf sie zuhumpelte. Sein Gesicht war derart mit Blut besudelt und er näherte sich unter größten Schwierigkeiten, sodass er aussah wie ein Statist aus einem Zombie-Film.
»Nur wenn er wieder zu sich kommt«, entgegnete sie mit heftig bebender Stimme. »Was ist, wenn er dann wieder von vorn anfängt?«
Leif sank neben ihr auf die Knie und betrachtete Conor. Blut tropfte von seiner Nase auf Conors Hemd. »Atmet er?«, fragte Leif.
»Natürlich atmet er«, erwiderte sie. »Er ist nicht tot .« Doch als sie dort in der kühlen Nachtluft knieten, überlief sie ein Schauder. »Was tust du?«, fragte sie.
Geradezu seltsam sanft hatte Leif Conors Hand genommen. »Ich prüfe seinen Puls«, sagte er und presste zwei blutige Finger auf Conors Handgelenk. Laura wappnete sich innerlich. Sie war sicher, dass er aufwachen und wieder von vorn anfangen würde.
In dem Moment bewegte sich Conor, und Leif und Laura sprangen zurück. Seine Beine hatten gezuckt wie bei einem elektrischen Schock.
Nervös blickte sie sich nach einer Waffe um, doch wieder fand sie nichts, was sich dazu eignete.
Aber Conor rührte sich nicht mehr, und nach einer Minute kehrte das Paar wieder an seine Seite zurück. Erneut griff Leif nach Conors Handgelenk und beugte sich lauschend über seine Brust.
»Er ist tot«, erklärte Leif schließlich, und sein norwegischer Akzent ließ es klingen wie ein ziemlich alltägliches Ereignis.
»Was?«, fragte Laura. Diese Neuigkeit schien für sie überhaupt keinen Sinn zu ergeben.
Aus Conors Mundwinkel rann etwas Blut, als Leif erneut sagte: »Er ist tot. Sein Herz ist stehen geblieben.«
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»Ich bin hysterisch geworden«, sagte Mum. »Eine Weile lang sind mir meine Nerven völlig durchgegangen.«
»Das stimmt«, bestätigte Leif. »Ich habe mich gefragt, ob ich dir eine kleben sollte.«
»Das ist kaum überraschend«, sagte ich. »Ich meine, es ist doch schrecklich. Und war er tot? War er tatsächlich tot?«
»Ja, er war tot«, sagte Mum. »Er hatte sich den Schädel an dem Felsbrocken eingeschlagen, denke ich. Das war sein Ende. Ich habe eine Weile gebraucht, um es wirklich zu begreifen, aber als ich das tat, habe ich am ganzen Körper gezittert. Meine Zähne haben geklappert und meine Hände gebebt. Ich konnte überhaupt nichts machen. Ich konnte nicht mal denken.«
»Wir haben uns eine Weile aneinander festgehalten. Leif machte sich Sorgen, dass mir kalt sei, aber ich glaube, es war einfach nur der Schock. Leif war körperlich in einem viel schlimmeren Zustand als ich. Er sah aus, als hätte er einen Autounfall gehabt. Aber er war ganz ruhig und gefasst. Ich war es, die geweint und gezittert hat. Schließlich sind wir zurück zu dem Motorrad gegangen, aber auf halbem Weg dorthin hatte ich diese schreckliche Idee.«
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Leif hatte es zuerst nicht tun wollen. Er wollte zur Polizei gehen.
Aber Laura hatte Angst. Sie hatte richtige Angst. Sie waren in Griechenland, erinnerte sie ihn, und wer wusste schon, wie die griechische Polizei sich verhalten würde?
Außerdem waren sie körperlich in einem fürchterlichen Zustand. Jeder Polizist würde nur einen Blick auf sie werfen und wissen, dass sie sich geprügelt hatten.
»Was ist, wenn sie glauben, dass wir ihn ermordet haben?«, weinte sie. »Was ist, wenn sie uns ins Gefängnis werfen?«
Schließlich überzeugte Laura ihn und er gab nach.
Aber als Laura so hysterisch wurde, breitete sich eine seltsame Ruhe und ein Gefühl der Verantwortung in Leif aus. Wenn sie es tun würden, dann mussten sie es perfekt machen, dachte er. Er hatte eine Menge schwedischer Thriller gelesen, und ein überzeugendes Szenario zu erschaffen, fiel ihm überraschend leicht.
Während Laura zitternd und weinend dasaß, lief Leif zurück, um das Motorrad zu holen, damit sie dessen Scheinwerfer nutzen konnten, um zu sehen, was sie taten.
Gemeinsam zerrten sie Conor zum Auto. Er war so schwer, dass Leif einen Moment lang bezweifelte, dass Lauras Plan überhaupt machbar war, doch gemeinsam gelang es ihnen schließlich, ihn auf den Fahrersitz zu befördern.
Mit einem Lappen, den Leif im Kofferraum gefunden hatte, wischte er ihre Fingerabdrücke vom Wagen ab, steckte den Schlüssel in die Zündung und ließ den Motor an.
Überall am Boden waren Blutflecken, genau wie an ihren Händen und Knien. Sie krochen durch den Staub, um sie abzureiben, während Lauras Tränen sich mit dem Blut und der trockenen Erde vermischten. Dann mussten sie den blutigen Felsbrocken ausgraben, auf den Conor gestürzt war, und ihn ebenfalls über die Klippe rollen.
Schließlich lösten sie die Handbremse, schlossen die Tür und schoben den Wagen ganz bis an den Rand. Erst im letzten Moment erinnerte sich Leif an Lauras Reisepass. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als Conors Tasche und auch das Auto noch ein letztes Mal zu durchforsten. Bei dieser grausigen Suche fanden sie schließlich Lauras Gürteltasche im Kofferraum.
Eine Weile versuchte Leif, den Wagen dazu zu bewegen, von allein über den Rand der Klippe zu rollen. Er dachte, dann würde es überzeugender wirken. Aber ohne Conors Fuß auf dem Gaspedal blieb er jedes Mal wieder stehen, und deswegen stemmten sie sich schließlich beide gegen den Kofferraum und drückten mit aller Kraft.
Sobald die Vorderräder den Bodenkontakt verloren hatten, setzte das Auto auf den Felsen auf, und einen panischen Moment lang glaubten sie, am Ende doch noch gescheitert zu sein. Doch dann kam Leif der Gedanke, den hinteren Teil des Autos anzuheben, anstatt dagegenzudrücken, und wie eine Wippe bekam der Wagen das Übergewicht und glitt geradezu gespenstisch und fast lautlos in die Dunkelheit.
Während sie innerlich auf die Explosion warteten, rannten sie zum Motorrad. Laura fürchtete, dass die ganze Stadt innerhalb von Sekunden auftauchen würde. Aber außer einem fernen Krachen geschah nichts. Autos explodierten offensichtlich nur im Film.
Während sie zurück in die Stadt fuhren, stritten sie darüber, was als Nächstes zu tun sei. Leif wollte bleiben, aber Laura redete unermüdlich auf ihn ein, dass er abfahren müsse. Er sah aus wie ein Wrack, erinnerte sie ihn. Er war der deutlichste Beweis dafür, dass Conors Unfall vielleicht nicht ganz so verlaufen war, wie es zunächst den Anschein haben sollte. Laura selbst hatte nur ein paar blaue Flecken, und es gab nichts, was sie nicht mit Make-up hätte überschminken können, aber Leif, beharrte sie vom Sozius aus, musste verschwinden, um sie beide zu retten.
fleuron
»Und dann bist du am nächsten Tag abgereist?«, fragte ich Leif.
»Nein. Ich bin sofort gefahren. Ich bin in mein Zimmer geschlichen. Olav, mein Freund, war dort. Er war so wütend, er wollte Conor umbringen. Deswegen musste ich ihm die Wahrheit sagen. Er ist der einzige Mensch, dem ich die ganze Sache je erzählt habe. Ich habe schnell geduscht. Dann hat er mich zum Hafen gefahren. Wir wollten nicht, dass irgendwelche Leute mich am Morgen sehen, deswegen hat Olav uns ausgecheckt und sich mit mir auf der Fähre getroffen. Er hat auch das Motorrad zurückgebracht.«
»Wo hast du geschlafen?«, wollte Mum wissen.
»Im Unterholz, hinter dem Hafen. Ich war sehr müde. Als ich zurück nach Oslo kam, bin ich ins Krankenhaus gegangen. Alles hat sehr wehgetan. Ich hatte zwei gebrochene Rippen und dann natürlich die Nase. Und am nächsten Tag die Zähne. Aber das schlimmste war mein Herz.« Bei diesen Worten griff er nach Mums Hand. »Sie hat mir das Herz gebrochen«, sagte er. »Der Anruf, der niemals kommt, weißt du?«
»Weil du seine Adresse verloren hattest.«
Mum nickte. »Nun ja, eine der Fluggesellschaften hat sie verloren.«
»Und was ist dann passiert, Mum?«, fragte ich. »Was war mit der Polizei?«
»Ja, bitte erzähl uns das«, sagte Leif. »Ich weiß es auch nicht.«
fleuron
Um nicht zusammen gesehen zu werden, hatte er sie am Stadtrand abgesetzt. Doch sobald sie in den Lichtkegel einer Straßenlaterne trat, begriff sie, dass es ein Fehler gewesen war. Ihr T-Shirt war voller Blutflecken, und die fürchterliche Angst, dass irgendjemand es bemerken und sich an sie erinnern würde, ließen ihr beim Gehen die Beine zittern.
Als sie an der ersten Gruppe Touristen vorbei war, drückte sie sich in eine Nebenstraße und zog ihr T-Shirt verkehrt herum an, doch das brachte nur eine leichte Verbesserung. Die Flecken hatten den Stoff durchtränkt. Am Ende brauchte sie, weil sie immer wieder entgegenkommenden Touristen auswich, fast eine halbe Stunde, um zu ihrer Unterkunft zurückzugelangen.
Kaum im Zimmer, versperrte sie die Tür von innen und ging ins Badezimmer. Ihre Shorts waren mit Schlamm bedeckt, doch ihr T-Shirt sah am schlimmsten aus. Sie würde alles mit der Hand waschen müssen, und das schnell. Denn falls die Polizei auftauchen sollte, würde ihre Kleidung sie sofort verraten.
Erst als sie anfing, sich auszuziehen, erinnerte sie sich wieder an ihre Sachen, die noch in Leifs Zimmer lagen. Also zog sie ihre schmutzigen Sachen wieder über und lief zur Tür, eigentlich erleichtert, dass sie eine Entschuldigung hatte, Leifs Gesicht noch ein letztes Mal zu sehen, bevor er abfuhr. Doch als sie die Tür öffnete, schrak sie zurück. Denn direkt auf der Schwelle, die Faust erhoben, um zu klopfen, stand Olav.
»Dein Koffer«, sagte er.
»Olav! Ist er okay?«
»Ja. Er ist okay. Ich bringe ihn jetzt sofort zum Hafen«, sagte Olav leise und eindringlich. »Aber er hat mich gebeten, dir das hier zu geben.« Er hielt einen zusammengefalteten Zettel in der Hand.
Sie zog ihren Koffer ins Zimmer, nahm Olav den Zettel aus der Hand, bedankte sich, verabschiedete sich von ihm und versperrte erneut die Tür.
Einen Moment lang spielte sie an dem Zettel herum, doch dann erinnerte sie sich daran, dass sie keine Zeit verlieren durfte und ihre Sachen waschen musste. Deswegen legte sie ihn auf den Koffer und ging zurück ins Badezimmer, um sich auszuziehen.
Die Shorts bekam sie einigermaßen sauber, aber die Flecken auf dem T-Shirt waren nicht zu entfernen, egal, wie heftig sie an ihnen rieb. Zuerst versteckte sie das T-Shirt ganz unten im Mülleimer, doch dann überlegte sie es sich anders und schob es unter die Matratze, nur um es dann wieder herauszuziehen. Schließlich schnitt sie es mit einem Messer in schmale Streifen und spülte es Stück für Stück die Toilette hinunter. Es schien ewig zu dauern, bis der ganze Stoff verschwunden war.
Sie räumte Conors Sachen ordentlich in den Schrank, wo man sie nicht sehen konnte – ihre Gegenwart allein belastete sie. Dann setzte sie sich, immer noch benommen, im Schneidersitz auf das Bett und faltete den Zettel auseinander. Nur vier Zeilen in Leifs spinnenartiger Handschrift standen darauf. Name, Adresse, Telefonnummer und sechs Worte, drei auf Norwegisch und drei auf Englisch. Sie vermutete, dass sie dasselbe bedeuteten. Jeg elsker deg. Ich liebe dich.
Sie fühlte sich wie betäubt, während sie auf die Worte starrte, denn plötzlich erschien ihr die ganze Situation so hoffnungslos. Selbst als die Polizei nicht auftauchte, um sie davonzuzerren, war sie ganz sicher, dass das, was sie mit Leif verbunden hatte, nun zerbrochen war. Die fürchterlichen Ereignisse des Tages und ihre gemeinsame Vertuschungsaktion ließen keinen Funken Hoffnung für ihre Liebe übrig, keine Luft zum Atmen.
Bei dem Gedanken an Conors Leiche im Innern des zerschmetterten Autos wurde ihr schwindelig, und sie lief zurück ins Badezimmer, weil sie glaubte, dass ihr übel werden würde. Doch nichts geschah. Ihr wurde nicht übel, sie konnte nicht einmal mehr weinen. Conor war tot. Leif war fort. Ihr war einfach nur kalt, und sie fühlte sich so einsam und allein wie immer.
fleuron
»In der Nacht ist nichts passiert und auch nicht am nächsten Morgen«, berichtete Mum. »Absolut nichts. Ich war mir sicher, dass sie den Wagen ziemlich schnell gefunden haben mussten, denn es waren überall Touristen. Aber vielleicht hat es eine Weile gedauert, um herauszufinden, wer er war oder wo er gewohnt hatte. Ich weiß es wirklich nicht.
Ich habe mir dann ganz genau überlegt, was ich als Nächstes tun muss. Die Leute im Hotel wussten, dass wir nicht besonders aneinander gehangen hatten, deswegen machte ich nicht sofort einen Aufstand. Aber am Abend richtete ich mich so hübsch her, wie es nur möglich war, und fragte beiläufig den Mann an der Rezeption, ob Conor einen Tisch fürs Abendessen reserviert habe. Als er das verneinte, fragte ich, ob er Conor gesehen habe.
Er erkundigte sich nach meinem Reisepass und ich sagte ihm, dass ich ihn gefunden hätte. Ich klimperte mit den Wimpern und entschuldigte mich für die Mühe, die ich ihm bereitet hätte. Er sei die ganze Zeit in meiner Handtasche gewesen, sagte ich. Jedenfalls irgendwas in der Art.
Die Polizei kam, als ich beim Essen saß. Ich konnte sie von meinem Platz aus sehen. Sie zeigten dem Mann an der Rezeption Conors Führerschein, und er deutete hinüber zu mir. Sie kamen durch das Restaurant auf mich zu. Absolut jeder hat mich angestarrt.«
»Du musst schreckliche Angst gehabt haben«, meinte ich.
Mum nickte. »Die hatte ich«, sagte sie. »Aber ich fühlte mich von dem Schock auch noch wie betäubt, schätze ich. Und dem Schlafmangel. Ich rechnete selbstverständlich damit, dass sie mir irgendetwas vorwerfen würden und mich abführen, und deswegen hatte ich Angst. Ich war wie gelähmt.
Einer der Polizisten, der jüngere, sprach mich mit Mrs O’Leary an. Deswegen sagte ich ihm, dass mein Name Ryan sei. Ich fragte ihn, ob mit Conor irgendetwas passiert sei, und war mir bewusst, dass ich darauf achten musste, es nicht zu übertreiben. Das war meine größte Angst, denn dann würde er vielleicht sofort die Lüge erkennen, so wie meine Großmutter mich immer durchschaut hatte, wenn ich versucht hatte, sie anzulügen.
Er hat mich gefragt, ob Conor mein Freund gewesen sei, glaube ich. Und ich habe ausweichend geantwortet. Ich habe gesagt ›in gewisser Weise‹ oder irgendetwas in der Art. Ich habe ihnen erzählt, es sei eine Urlaubsliebe gewesen. Und ich habe gefragt, warum sie das wissen wollten. Ob irgendetwas passiert sei.
›Er hatte einen Unfall‹, sagte der jüngere Polizist. ›Es tut mir sehr leid, aber er ist tot.‹ Ich glaube, sein Englisch war einfach nicht gut genug, um es schonender auszudrücken. Ich fing an zu weinen, was natürlich perfekt war. Ich musste mich nicht einmal dazu zwingen. Ich habe aus Erleichterung geweint, dass sie mich in keiner Weise in Verdacht hatten, und ich habe auch um Conor geweint. Durch die Worte des Polizisten erschien mir plötzlich alles so echt. Es ist meine Schuld , habe ich immer wieder gedacht. Wenn ich ihn nicht gestoßen hätte … Und so saß ich mitten in einem voll besetzten Restaurant, während mir die Tränen über das Gesicht liefen.«
»Es ist schon seltsam, dass sie es in der Öffentlichkeit gemacht haben«, meinte ich. »Dir eine solche Nachricht zu überbringen.«
»Ja«, sagte Mum. »Ja, ich weiß. Danach sind sie mit mir ins Zimmer gegangen, und ich habe mich innerlich auf ein paar schwierige Fragen eingestellt. Aber es kamen keine. Sie haben Conors Sachen in seinen Koffer gepackt, was sich irgendwie komisch anfühlte. Sie waren so höflich und haben mir jedes einzelne Teil gezeigt und gefragt, ob sie alles mitnehmen könnten. Sie haben mich auch gefragt, ob ich seine Leiche sehen wolle, und ich fing bei dem Gedanken, wie er nach dem Sturz aussehen musste, wieder an zu weinen. Ich glaube, meine Tränen waren ihnen peinlich, denn nach einem kurzen Gespräch auf Griechisch sagte mir einer der beiden, dass das nicht nötig sei.
Sie erkundigten sich, ob ich mich um die Details kümmern wollte oder irgendwas in der Art, und zuerst wusste ich nicht, was sie meinten. Ich bin mir nicht ganz sicher, welche Worte sie benutzten. Ihr Englisch war nicht sehr gut und ich habe viel geweint. Es ist alles ein bisschen verschwommen. Aber schließlich begriff ich, dass sie die Leiche meinten, die Überführung, all diese Dinge. Sie sagten, dass sie bereits zu seinem Bruder Kontakt aufgenommen hätten – ich hatte schon vergessen, dass er überhaupt einen hatte –, und der Gedanke an seinen armen Bruder trieb mir nur neue Tränen in die Augen. Ich fragte, ob ich am nächsten Tag abreisen könne – ich hatte ja einen Flug gebucht –, und sie sagten, dass ich das natürlich könne, was für mich völlig überraschend kam. Sie fragten nur, ob das Hotel meine Heimatadresse habe, damit sie mit mir in Kontakt treten könnten, und ich log und sagte, ich hätte sie hinterlegt. Es erschien mir kein völlig unwahrscheinlicher Fehler zu sein unter diesen Umständen. Und dann sind sie gegangen.«
»Einfach so?«, fragte ich. »Keine Aussage? Keine Fingerabdrücke? Nichts?«
»Ich glaube nicht, dass sie wirklich gute Polizisten waren«, meinte Mum und rümpfte die Nase. »Jedenfalls waren sie nicht besonders misstrauisch. Wahrscheinlich war aus ihrer Sicht einfach ein bekannter Trunkenbold mit seinem Auto von der Klippe gestürzt. Vielleicht passiert das öfter.«
»Und du bist am nächsten Tag nach Hause geflogen?«
Mum nickte. »Ich bin nach Hause geflogen.«
»Und sie haben dich nie wieder kontaktiert?«, fragte Leif.
Mum schüttelte den Kopf. »Nie. Ich meine, vielleicht haben sie es versucht, aber nein. Der Einzige, der noch mal Kontakt zu mir aufgenommen hat, war Conors Bruder. Er hat ungefähr eine Woche, nachdem ich zurück war, angerufen. Er hatte meine Telefonnummer von Conors Telefonrechnung. Er wollte, dass ich zur Beerdigung komme. Also er wollte mich zumindest einladen. Ich weiß nicht, ob es ihm wirklich wichtig war, dass ich komme.«
»Und bist du hingefahren?«
Mum schüttelte den Kopf. »Nein. Ehrlich, ich habe mich schrecklich gefühlt – mir war ganz schlecht bei dem Gedanken. Und ich hatte viel zu viel Angst, mich doch noch in irgendwas zu verstricken. Irgendwas erklären zu müssen. Mir schien es am sichersten, einfach nur den Kopf einzuziehen. Er hat auch nicht nach meiner Adresse gefragt. Und er hat nie wieder angerufen. Und damit war die Sache eigentlich beendet.«
»Das muss schon schwierig genug gewesen sein«, sagte ich. »Sein armer Bruder. Er muss sehr bestürzt gewesen sein.«
»Ich denke, es hat ihm hauptsächlich jede Menge Umstände gemacht. Weißt du, die Leiche zu überführen und all diese Dinge. Aber ehrlich gesagt hatte ich das Gefühl, dass sie sich nicht besonders nahegestanden haben. Und er schien auch nicht überrascht. Er hat mich gefragt, ob Conor tatsächlich getrunken hat. Und als ich Ja sagte, erklärte er mir, dass er meinte, ob er immer getrunken habe und nicht nur in der Nacht des Unfalls. Deswegen habe ich ihm die Wahrheit gesagt, dass er fast die ganze Zeit betrunken gewesen sei. Und er sagte etwas Komisches. Er sagte, das käme von seinem Zuhause. Irgendwas in der Art jedenfalls.«
»Von seinem Zuhause?«
»Ja. Ich habe ihn dann gefragt, was er damit meint, und er sagte: ›Ach nichts. Nur einfach schlimme Dinge, die ihm als Kind passiert sind.‹ Das ist der eine Satz, an den ich mich klar und deutlich erinnere. Schlimme Dinge, die ihm passiert sind, als er ein Kind war. Ich weiß auch noch, dass Conor erzählt hat, er sei in einer Pflegefamilie aufgewachsen, und von dem Wenigen, was sein Bruder erzählt hat, klang es so, als ob die Zeit für ihn dort nicht besonders schön gewesen ist.«
»Vielleicht ist er missbraucht worden«, sagte ich.
»Vielleicht«, sagte Mum. »Ich kann nicht behaupten, dass mir das nicht durch den Kopf gegangen ist.«
»Und der Brief?«, hakte Leif nach. »Meine Adresse?«
»Mit der ist es so, wie ich schon gesagt habe«, erklärte Mum. »Ich habe sie in das Futter meines Koffers gesteckt. Es erschien mir ein bisschen … belastend , sagt man wohl.«
»Wie das?«, wollte ich wissen.
»Nun ja, die Adresse verband mich mit Leif, oder nicht? Und sie zeigte, dass ich nicht in Conor verliebt gewesen war. Sie bewies ein Motiv, wie man sagt, für eine Auseinandersetzung. Jedenfalls habe ich es damals so gesehen. Deswegen habe ich den Zettel ins Futter gesteckt. Da war ein Schlitz auf der Innenseite im Satin, und da habe ich ihn versteckt. Sonst hätten sie meinen Koffer wahrscheinlich zu Leif nach Norwegen geschickt. Schließlich war es seine Adresse.«
»Natürlich«, meinte ich. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht.«
»Und du warst schwanger«, fügte Leif hinzu. »Wann hast du es erfahren?«
»Also ich hatte ein paar … Sagt mir, dass ich aufhören soll, wenn es alles zu viel wird, okay? Ich hatte ein paar Schmierblutungen. Ziemlich regelmäßig sogar.«
»Schmierblutungen?«, wiederholte Leif.
»Das ist, wenn man nur ein bisschen blutet«, erklärte ich, weil Mum plötzlich etwas verlegen wirkte. »Wie zu Beginn der Periode, nur weniger.«
»Deswegen dachte ich, alles sei okay, verstehst du?«, fuhr Mum fort. »Ich dachte, meine Periode sei einfach etwas durcheinandergeraten, was unter den gegebenen Umständen kaum überraschend gewesen wäre. Aber ich dachte, alles sei in Ordnung.«
»Du wolltest mich nicht?«, fragte ich ehrlich verletzt.
»Nein, das war es nicht, Schätzchen«, sagte Mum. »Aber wäre ich schwanger gewesen, was ich war und nur nicht wusste – Himmel, ich erkläre das nicht richtig, oder?«
»Ich bin mir nicht sicher«, meinte ich. »Erzähl weiter.«
»Also wenn ich gleich erkannt hätte, dass ich schwanger war … oder wenn ich geglaubt hätte, keinen Beweis zu haben, dass ich es nicht bin, dann hätte ich ganz bestimmt eine Pille genommen, um … du weißt schon …«
»Mich abzutreiben«, sagte ich brutal und direkt.
»Aber das warst ja noch nicht du, oder?«, entgegnete Mum. »Es waren erst die Anfänge eines Babys. Die ersten Zellen eines Babys. Möglicherweise Conors Baby. Und das hätte ich ganz sicher nicht gewollt.«
»Aber du hattest Schmierblutungen«, sagte ich. »Deswegen wusstest du es nicht. Dem Himmel sei Dank.«
Mum seufzte. »Schätzchen«, sagte sie sanft. »Versuch bitte, das zu verstehen.«
»Ich versuche es ja«, antwortete ich. »Ich versuche es wirklich. Red weiter.«
»Als ich es dann erkannte – weil ich ein paar dicht aufeinanderfolgende Schmierblutungen ein paar Wochen später hatte, war ich schon in der achten Woche. Und fast in derselben Sekunde, als ich es erkannt habe, hat es auch Gran begriffen. Ich war schon ein bisschen komisch gewesen, seit ich nach Hause zurückgekommen war. Meine Laune war wegen all dem, was passiert war, ein einziges Auf und Ab. Ich war fürchterlich deprimiert, denke ich. Und ich bin ständig in Tränen ausgebrochen. Aber dann bekam ich Morgenübelkeit, und plötzlich ergab alles einen Sinn.«
»Ich erinnere mich noch daran, wie du geweint hast, als ich noch klein war«, sagte ich. »War das wegen allem, was passiert ist?«
»Zum Teil ja. Häufiger aber, weil ich Leif nicht erreichen konnte. Ich meine, da wusste ich schon, dass er dein Vater ist. Deswegen war ich verzweifelt. Wegen uns beiden. Er war das einzig Gute, was mir je im Leben widerfahren war, und ich konnte ihn nicht erreichen. Ich war deswegen ganz krank. Aber manchmal habe ich auch um Conor geweint. Manchmal waren es die Schrecken dieser Nacht. Ich hatte oft Albträume deswegen. Von dem Kampf und wegen dieses verdammten Stück Papiers.«
»Und was war mit Gran?«, wollte ich wissen. »Sie muss ja fuchsteufelswild geworden sein.«
»Fuchsteufelswild?«, fragte Leif.
»Es bedeutet ärgerlich. Wütend. Meine Großmutter war gläubig.«
»Ja, sie war sehr religiös«, bestätigte Mum. »Und auch ein bisschen verrückt. Und ja, sie ist außer sich gewesen vor Wut. Sie hat mir immer wieder ins Gesicht geschlagen. Und sie hat mich zwei Tage in meinem Zimmer eingesperrt. Ich musste in eine Vase pinkeln. Dann hat sie mich zur Beichte geschleppt. Ich habe mir einfach irgendetwas ausgedacht. Denen habe ich ganz bestimmt nicht erzählt, was passiert ist.«
»Wollte sie, dass du abtreibst?«
»Nein!«, erwiderte Mum und lachte, weil dieser Gedanke so absurd war. »Nein, du machst wohl Witze. Das wäre die größte Sünde von allen gewesen. Nein, sie wollte mich an irgendeinen schrecklichen Ort in Irland schicken, wo ich das Baby bekommen sollte. Wie in den Fünfzigerjahren. Sie wollte, dass ich das Baby zur Adoption freigebe, sobald es geboren war. Ich habe gehört, wie sie es mit dem Priester unserer Gemeinde besprochen hat. Deswegen bin ich fortgelaufen.«
»Nach Margate.«
»Ja, nach Margate. Deine Tante Abby war dort zu ihrem Freund Winston gezogen. Sie lebten in dieser verschimmelten Wohnung, von der aus man das Fernsprechamt sehen konnte. Und dort haben sie mich eine Weile beherbergt. Ich bin ein paar Monate geblieben, glaube ich. Und dann habe ich mich langsam selbst organisiert.«
»Hast du je über eine Adoption nachgedacht?«, wollte ich wissen. »Hast du sie je in Betracht gezogen?« Der Gedanke, dass ich, hätte meine Großmutter ihren Willen durchgesetzt, vielleicht in irgendeiner Familie aufgewachsen wäre, erschien mir erschreckend.
»Hör mal«, sagte Mum, »ich werde dich nicht anlügen. Nicht jetzt. Nicht jetzt, da du auch alles andere weißt. Deswegen werde ich absolut ehrlich sein. Ich muss gestehen, dass ich, wenn ich gewusst hätte, dass ich schwanger bin und es vielleicht Conors gewesen wäre, ganz sicher eine Pille genommen hätte. Und um bei der Wahrheit zu bleiben, habe ich die Sache mit der Adoption durchaus im Hinterkopf behalten, als letzten Ausweg. Ich war mir nicht sicher, ob ich damit fertigwerden würde, weißt du? Weder finanziell noch in jeder anderen Hinsicht. Ich war immer noch sehr unreif. Aber als du geboren warst, hast du so sehr ausgesehen wie Leif. Und in dem Moment stand es sofort nicht mehr zur Debatte. Ich hatte immer noch gehofft, ihn irgendwie zu finden, und ich konnte mir einfach nicht vorstellen, ihm zu sagen, dass ich sein Kind bekommen und es dann weggegeben hatte. Und ich wollte dich auch . Ich habe dich geliebt, praktisch sofort. Ich habe dich geliebt, wie ich nie zuvor jemanden geliebt hatte, Schätzchen. Das weißt du.«
»Und jetzt hast du mich gefunden«, stellte Leif fest. »Und du hast eine gute Entscheidung getroffen, denn ich wäre sehr ärgerlich gewesen, hättest du mir gesagt, dass ich die entzückende Becky nicht kennenlernen kann.«
»Ja«, sagte Mum und ihr Mund lächelte, während in ihren Augen noch die Trauer stand. »Ja, besser spät als nie, sagt man da wohl.«
Ich fragte dann, ob wir dort hinausfahren könnten. Ich fragte, ob sie mir zeigen würden, wo es passiert war. »Oder wäre das zu grausig?«
Mum zuckte die Achseln. »Ich kann nicht sagen, dass ich besonders begierig darauf wäre«, meinte sie. »Aber ich denke, wenn du es wirklich möchtest … Was denkst du, Leif?«
Leif schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts dagegen«, sagte er. »Ich fahre jedes Mal hin. Ich weiß nicht genau, wieso. Wegen der Erinnerung, denke ich. Wegen der schlechten und der guten. Und auch wegen Conor. Um zumindest seiner zu gedenken.«