KAPITEL
18
LAURA
Es stellte sich heraus, dass auch Leif einen Roller gemietet hatte, deswegen beschlossen wir, gemeinsam hinauszufahren. Er musste noch in sein Zimmer zurückkehren, um die Schlüssel zu holen, und dann trafen wir uns alle auf dem Parkplatz an der Straße.
Becky fuhr allein und ich um der alten Zeiten willen als Sozia hinter Leif. Ich hatte auf dem ganzen Weg dorthin einen dicken Kloß in der Kehle.
Wir parkten in der Nähe eines Ladens mit Klimaanlage, der irgendwie aus dem Nichts aufgetaucht war, und schlossen unsere Helme in die Topcases unserer Roller. Dann machten wir uns auf den Weg zu den Klippen.
Die schmale Straße, die vor all den Jahren ein staubiger Feldweg gewesen war, hatte man inzwischen glatt asphaltiert, und sie schimmerte in der Hitze. Aber obwohl es heiß war, fröstelte ich. Die beiden unfertigen Häuser hatten jetzt Fenster und es lebten Leute darin, obwohl selbst jetzt noch aus einem der beiden dicke Stahldrähte in den Himmel ragten, weil eines Tages dort noch ein weiteres Stockwerk entstehen sollte.
»An denen wurde schon damals noch gebaut«, erklärte ich Becky, als wir daran vorbeigingen. »Sie hatten noch nicht einmal Fenster.«
»Deine Mutter wollte, dass wir in einem von denen leben«, sagte Leif. »Erinnerst du dich noch, Laura?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das war keins von diesen. Es war eins direkt an der Klippe. Man konnte es nur sehen, wenn man direkt am Rand stand.«
Der Tag war heiß, aber eine leichte Brise wehte, eine Brise, die stärker wurde, je näher man dem Meer kam. Und der Himmel war tiefblau. Es mag zutreffen, wie Leifs Exfrau sagt, dass Santorin überall blau ist, blau jeden Tag. Aber der Ton des Blaus ändert sich. An manchen Tagen, besonders an heißen, windstillen Tagen, ist es ein diesiges Babyblau. Aber an windigen Tagen, wie an diesem, ist es ein tiefes Saphirblau, manchmal fast ein Klein’sches Blau. An diesem Tag erschien es mir wie ein trauriges, melancholisches Blau.
Es war ein langer Gang bis zum Rand der Klippen, sogar noch weiter, als ich es in Erinnerung hatte, und als wir auf halber Strecke dort waren, fragte Becky mich, warum wir nicht gefahren waren. Die Straße sei schließlich in perfektem Zustand.
»Ich laufe gern«, sagte Leif zu ihr. »Ich nutze die Zeit, um mich zu erinnern.«
Ich glaube, wir wussten alle, was er meinte.
Als wir den Rand der Klippe erreichten, bemerkte ich, dass man drei riesige Betonblöcke dort platziert hatte, um das Ende der Straße zu markieren.
»Und hier ist es also passiert?«, fragte Becky.
»Ja«, erwiderte ich und sah mich nach irgendwelchen Orientierungspunkten um. »Die Blöcke waren natürlich noch nicht da.«
»Nein«, sagte Leif. »Die haben sie hier kurz danach aufgestellt. Als ich einen Sommer später herkam, waren sie da.«
»Du bist gleich im nächsten Jahr wiedergekommen?«, fragte ich. »Hattest du keine Angst vor der Polizei?«
»Natürlich«, antwortete Leif. »Aber ich hatte mehr Angst davor, dich nicht wiederzusehen.«
Noch einmal ließ ich meinen Blick über den Horizont gleiten und deutete auf ein Haus in einiger Entfernung, das, wie durch Zauberei, am Fels klebte. »Das ist es«, sagte ich. »Das ist das Haus, in dem ich gern leben wollte.«
»Vielleicht können wir das immer noch«, meinte Leif. »Wenn es zu verkaufen ist.«
Bei diesen Worten brach ich fast in Tränen aus. Doch ich redete mir ein, dass er nur Scherze machte, und so schaffte ich es, meine Fassung zu wahren. Aber es gelang mir nur knapp.
»Also erzählt mir noch mal den Ablauf«, bat Becky und blickte sich um. »Natürlich nur, wenn euch das nicht zu schwerfällt.«
»Nein«, sagte ich. »Nein, das ist schon in Ordnung. Das meiste weißt du ja sowieso. Und es ist so lange her. Es fühlt sich heute eher ein bisschen an wie ein Film, den ich gesehen habe, oder eine Geschichte, die mir jemand erzählt hat.«
»Das Gefühl kenne ich auch«, meinte Leif. »Aber das war es nicht, oder?«
»Nein«, stimmte ich ihm zu. »Nein, es ist alles wirklich passiert.«
Becky sah mich erwartungsvoll an, deswegen riss ich mich zusammen und fuhr fort. »Also wir waren hier und haben den Sonnenuntergang beobachtet. Wir sind geblieben, bis es dunkel war.«
»Und haben uns geküsst«, fügte Leif hinzu. »Hier geschehen also auch gute Dinge.«
»Ich bin mir sicher, dass Becky von den Küssen nichts hören will«, sagte ich.
»Möchte ich schon«, widersprach Becky. »Denn dadurch bin ich entstanden. Also zumindest nach den Küssen.«
»Nein, du bist vor den Küssen entstanden«, erklärte ich ihr. »Bevor wir hierhergefahren sind. Es hat nichts zu tun mit diesem schrecklichen Ort. Jedenfalls … wir haben uns geküsst. Und dann hat Leif mir erzählt, dass seine Fähre am nächsten Tag ausläuft. Ich war deswegen sehr aufgewühlt.«
»Dein Flug ging nur einen Tag später«, meinte Leif.
»Das stimmt. Meiner ging in zwei Tagen. Eigentlich genau wie jetzt.«
»Ihr fliegt übermorgen?«, fragte Leif.
Ich nickte. »Ich fürchte ja. Jedenfalls hatten wir gerade verabredet, in Verbindung zu bleiben. Ich wollte nach Norwegen fahren.«
»Ich wollte ihr die Fjorde zeigen«, erklärte Leif.
»Er wollte, dass ich mit ihm an einem Fjord lebe, aber ich sagte, da sei es mir zu kalt und regnerisch. Ich wollte lieber hier in der Sonne leben.«
»An den Fjorden von Santorin«, meinte Leif.
»Ja. Ja, daran erinnere ich mich …«, sagte ich wehmütig. »Und ich wiederum wollte ihm London zeigen. Du hast gesagt, du wolltest nach London kommen, oder? Und in dem Moment tauchte Conor auf und alles nahm diese schreckliche Wendung.«
»Der Feldweg war voller Schlaglöcher«, erzählte Leif. »Und es war sehr dunkel. Wir haben uns Sorgen gemacht, dass er von der Klippe stürzt. Aber er hat genau hier gehalten. Wo die Blöcke stehen.«
Becky ging um die Blöcke herum, um hinunter ins Meer zu sehen. Weil ich Sorge hatte, dass sie vielleicht ausrutschen könnte, bat ich sie zurückzukommen. Als sie mich, wie immer, ignorierte, ging ich zu ihr und ergriff ihre Hand. Leif kam ebenfalls zu uns und nahm ihre andere Hand, und mit dem Wind, der uns um die Ohren pfiff und mein Haar peitschen ließ, blickten wir drei hinunter ins Meer, wo es donnernd gegen die Felsen krachte.
»Ich frage mich, was mit dem Auto passiert ist«, sagte Becky. »Ich meine, ich frage mich, wie sie es losgeworden sind.«
»Mit einem Kran, denke ich«, sagte Leif. »Anders kann ich es mir nicht vorstellen.«
»Oder es ist einfach vor sich hingerostet und irgendwann zerfallen«, entgegnete ich und ein Schauder überlief mich, als sich ein Bild des toten Conor, wie er im Auto lag, in meine Gedanken drängte.
»Nein«, entgegnete Leif. »Nein, im nächsten Sommer war es verschwunden.«
Wir gingen zurück zu den Betonblöcken und setzten uns schweigend darauf.
Leif zog seine Brieftasche aus seinen Wandershorts und zauberte einen zerfledderten Schnappschuss in Farbe daraus hervor. Es war ein Foto von Leif und mir genau an dieser Stelle, das ich mir immer auf unserem Kaminsims vorgestellt hatte. Wir lachten in die Linse, während der Selbstauslöser seine Arbeit tat, und hinter uns ging die Sonne in ungewöhnlicher Farbenpracht unter.
»Himmel, du hast es behalten«, sagte ich.
»Ich habe sie alle behalten«, erwiderte Leif. »Die anderen sind zu Hause. In Norwegen.«
»Ihr seht so jung aus«, bemerkte Becky verträumt. »Und so glücklich.«
Mir fehlten die Worte, um etwas zu sagen. Meine Kehle hatte sich zugeschnürt, und mir standen Tränen in den Augen. Denn ich erinnerte mich genau daran, wie glücklich ich an jenem Tag gewesen war – wie voller Hoffnung mir die Welt damals erschienen war. Und wie mir ein grauenhafter Moment an diesem schrecklichen Ort all das wieder genommen hatte.
In dem Moment legte Leif einen Arm um meine Schultern, und ich begann richtig zu weinen. Salzige Tränen rannen über mein Gesicht. Ich denke, Becky und Leif dürften selbst ein paar Tränen vergossen haben.
»Ich wünschte nur …«, brachte ich schließlich hervor, als die Tränen nachließen. »Ich wünschte nur, alles wäre anders gekommen. Es ist so eine Verschwendung.«
»Es kann immer noch anders kommen«, sagte Leif und drückte meine Schulter. »Es ist nie zu spät.«
In mir kochte Wut hoch, darüber, wie übel uns das Schicksal mitgespielt hatte. »Leider kann es das nicht«, sagte ich bitter. »Es ist alles vorbei, oder nicht? Becky ist erwachsen und du warst nicht da. Du hast das alles verpasst. Und wir können es nicht zurückholen, egal, wie sehr wir uns bemühen. Conor … er hat unsere Zukunft gestohlen.«
»Nein«, widersprach Leif. »Nein, wir haben immer noch eine Zukunft.«
»Wir haben eine
Zukunft
?«, wiederholte ich abweisend, und Leif zog genau die Miene, die man bei einer solchen gemeinen Erwiderung auch erwartet hätte. Er wirkte verletzt.
Ich kann nicht wirklich erklären, warum ich in diesem Moment so grausam zu ihm war, außer dass ich wütend war, nicht auf Leif, aber auf das Leben. Der arme Leif war nur zufällig der Mensch, der in diesem Moment neben mir saß.
Er nahm seinen Arm von meinen Schultern und ging zu einem Fleck voller Wildblumen. Unzählige Bienen summten um sie herum.
»Pflück sie nicht«, sagte Becky, als er genau das tat. »Was ist mit den armen Bienen?«
»Ich nehme nur eine«, erwiderte Leif und kam zurück an den Rand der Klippe. »Für Conor. Die Bienen haben noch genug andere Blumen.«
Becky folgte ihm bis an den Rand des Felsens. »Tut mir leid«, sagte sie. »Daran habe ich nicht gedacht.«
Ich stand auf und ging zu ihnen. »Für
Conor
?«, fragte ich. »Willst du mich auf den Arm nehmen?«
»Ohne Conor«, entgegnete Leif, »hätten wir uns nie kennengelernt.«
Und in diesem Augenblick veränderte sich meine gesamte Sichtweise auf die Dinge, und ich begriff, dass Leif recht hatte. Denn ja, ohne Conor wäre ich wahrscheinlich nie nach Santorin gekommen. Und ich hätte ganz sicher niemals Leif kennengelernt. Selbst Becky, meine geliebte Tochter, war das unmittelbare Ergebnis meiner kurzen, aber wilden und unberechenbaren Zeit mit Conor. Dieser Augenblick, auf der Klippe – wir alle drei zusammen. Selbst dazu wäre es ohne Conor niemals gekommen.
»Manchmal entsteht aus dem Schlimmsten das Beste«, sagte Leif.
»Ja«, stimmte ich ihm zu. »Ja, ich schätze, du hast recht. Manchmal ist das so.«
Leif ließ die Blume los, und während sie hinab zum Meer segelte, sagte Leif: »Auf Conor.«
»Auf Conor«, wiederholte ich. Und dann drehten wir uns wie eine Familie um und machten uns gemessenen Schrittes auf den Weg zurück zur Hauptstraße.
Wir hatten die Hälfte der Strecke zurückgelegt, bevor jemand wieder etwas sagte. »Eure Flüge«, fragte Leif. »Sie gehen übermorgen, ja?«
»Ja«, antwortete ich. »Ja, es tut mir leid. Und deiner?«
»Ich habe keinen«, sagte Leif.
»Du hast keinen?«
»Nein. Ich bin in Pension. Deswegen denke ich, ich werde eine Weile hierbleiben. Ich wollte schon immer mal Santorin im Winter sehen, weißt du? Um mal zu erleben, wie das ist.«
»Du bist pensioniert?«, rief ich. »Mit fünfzig?«
»Das liegt am Ölgeschäft«, erwiderte Leif. »Es ist harte Arbeit. Bringt aber gutes Geld. Und ich habe nie viel ausgegeben, daher …«
»Wow«, sagte ich. »Wie schön für dich. Das muss ein wunderbares Gefühl sein.«
»Das könnte es«, sagte Leif. »Es könnte wundervoll sein. Wenn du bleibst.«
Verlegen warf ich Becky einen Blick zu, aber sie war stehen geblieben, um mit ihrem Smartphone einen Schmetterling zu fotografieren, und deswegen außer Hörweite.
»Musst du schon so bald zurück nach Hause?«, fragte Leif und ergriff meine Hand.
»Ich weiß nicht«, sagte ich.
»Wenn ich hierherkam, habe ich immer gehofft, ich würde dich sehen«, gestand Leif mir. »Jedes Jahr habe ich gehofft. Und ich hatte immer den Traum, dass wir hierbleiben würden, zusammen. Dass wir das Haus mieten, das du haben wolltest. Oder ein anderes, ganz egal. Dass wir das Leben leben, das wir uns gewünscht haben. Findest du das verrückt?«
Ich lächelte, denn neben mir stand genau der Mann, den ich vor vierundzwanzig Jahren kennengelernt hatte. In den ich mich bis über beide Ohren verliebt hatte, weil er so sanft war und mir so viel Hoffnung gab.
»Nein«, sagte ich und hatte Mühe zu sprechen. »Nein, ich finde das überhaupt nicht verrückt.«
»Aber dein Leben«, gab Leif zu bedenken. »Du musst sicher nach Hause.«
»Nein«, erwiderte ich, nachdem ich einen Moment nachgedacht hatte. »Nein, nicht wirklich. Jedenfalls nicht sofort. Ich arbeite im Moment nicht, habe gerade meinen Job verloren. Ich muss ein paar Rechnungen bezahlen, mich beim Arbeitsamt melden und all das Zeug. Aber nein. Es gibt keinen Grund, warum ich nicht noch ein bisschen bleiben könnte.«
»Eine bisschen?«, hakte Leif nach. »Könntest du auch eine Weile bleiben?«
»Ja«, sagte ich. »Ja, das könnte ich.«
»Gut«, meinte Leif. »Denn eine Weile ist länger als ein bisschen, oder?«
»Ja«, stimmte ich ihm zu und mich durchflutete ein ganz seltsames Déjà-vu. »Ja, ich nehme an, das ist es.«
Als wir zurück nach Oia kamen, tauchte Baruch sofort aus seinem Laden auf, um Becky zu begrüßen. »Das ist dein Vater?«, fragte er, und als Becky feierlich nickte, strich er ihr über den Arm und fragte: »Möchtest du, dass ich den Laden für eine Stunde zumache? Möchtest du in Ruhe reden?«
»Ja«, sagte Becky und klang den Tränen nah. »Ja. Das wäre wirklich schön.«
»Und wir?«, fragte Leif. »Wollen wir etwas essen gehen? Ich habe wirklich Hunger.«
»Ich auch«, stimmte ich zu und wandte mich an Becky. »Wir treffen uns später bei uns, okay? Habt eine schöne Zeit, ihr zwei. Aber vergiss nicht, was wir besprochen haben.«
»Keine Sorge, Mum«, erwiderte sie. »Meine Lippen sind versiegelt.« Und dann verschwand sie in das schattige Innere des kleinen Ladens und schloss die Tür hinter sich. Eine Hand erschien und drehte das Schild hinter der Scheibe um, sodass dort jetzt stand:
Geschlossen
.
Ich fragte mich, ob Becky und Baruch einen Weg finden würden, ihre Beziehung fortzuführen. Ich hoffte es, denn ich erkannte daran, wie Baruch Beckys Stimmung bemerkt hatte und wie er sich um sie gesorgt hatte, dass die beiden durchaus eine Zukunft hatten, wenn sie sich genug Zeit ließen. Und wenn das Schicksal sie über ihren Lebensweg selbst entscheiden ließ.
»Hier hinauf?«, schlug Leif vor, nahm meine Hand und führte mich sanft in Richtung des Stadtzentrums.
»Nein«, erwiderte ich und zog ihn in die andere Richtung. »Nein, lass uns unten an den gefürchteten Stufen essen.«
»Wie bitte?«
»An dem kleinen Hafen. Wo du das erste Mal geschwommen bist.«
»Oh«, erwiderte Leif. »Ja, natürlich. Okay.«
Während wir uns auf den Weg in Richtung der Treppe machten, spürte ich, wie meine Schultern sich entspannten. Eine Anspannung, die sich dort seit Jahren festgesetzt hatte, eigentlich so lange, wie ich zurückdenken kann, löste sich langsam auf.
Was geschehen war, hatte mich gebrochen – ich hatte es immer gewusst, auch wenn ich so getan hatte, als wäre das nicht der Fall. Meine Hoffnungen, mein Glaube an die Hoffnung sogar, war ausgelöscht worden, und ich hatte so lange gekämpft, um überhaupt weitermachen zu können. Leif war eine kleine Insel der Hoffnung inmitten einer unendlichen, erschreckenden See gewesen, und als sie hinter mir lag, konnte ich nirgendwo am Horizont auch nur das kleinste Ziel erkennen. Ich denke, hätte ich nicht eine Tochter gehabt, um die ich mich hatte kümmern müssen, hätte ich wahrscheinlich bei mehr als nur einer Gelegenheit meinem Leben ein Ende gesetzt.
Aber plötzlich fühlte ich mich stärker, als würden die Dinge wieder in der Spur laufen, als habe jemand die Fesseln
der letzten vierundzwanzig Jahre gelöst und das frühere Urteil sei aufgehoben. Konnte es wirklich so einfach sein? Hatte die fröhliche, hoffnungsvolle Laura von vor vierundzwanzig Jahren sich einfach nur in einer Ecke versteckt und darauf gewartet, dass das richtige Leben wieder beginnt?
Als wir an Zimmer dreiundzwanzig vorbeikamen, hielt Leif inne. »Können wir nur eine Minute hineingehen?«, fragte er.
»In dein Zimmer?«, fragte ich. »Warum, brauchst du irgendwas?«
»Ja, ich brauche etwas«, bestätigte Leif. »Ich muss dich küssen.«
Ich lachte verlegen, aber Leif beharrte darauf. »Ja?«, fragte er. »Ist das okay? Es ist doch dein Geburtstag. Ohne einen Kuss ist das doch kein richtiger Geburtstag.«
»Okay.« Ich lachte. »Warum nicht? Aber nur einen Kuss. Und dann essen wir etwas, denn für alles andere habe ich viel zu großen Hunger.«
Ich beobachtete ihn, als er den Schlüssel in die Tür schob, und spürte, wie mich eine Woge des Glücks ergriff. Wie aus dem Nichts fühlte sich alles auf der Welt plötzlich so richtig an. Becky hatte ihren Vater kennengelernt, sie hatte vielleicht sogar einen Freund. Ich war auf Santorin und der Himmel und das Meer waren von tiefstem Blau. Die Sonne schien, aber dank der sanften Brise war es nicht unerträglich heiß. Und dort stand Leif und lächelte mich an. Und vielleicht bedeutete es, dass es tatsächlich noch eine Zukunft für uns gab. Vielleicht gab es eine Zukunft für mich, in der das Alter nicht von Kälte, Nieselregen und Einsamkeit beherrscht wurde, wie ich es mir zunehmend ausgemalt hatte, sondern eine voller Liebe, lachen und blauem Himmel. Ich hatte das gleiche Gefühl wie vor all diesen Jahren. Ein Gefühl, das ich bis jetzt vergessen hatte. Ganz sicher deshalb, weil es mir unerträglich erschienen wäre, mich daran zu erinnern, aber ohne es leben zu müssen. Doch jetzt war es
wieder da: dieses Gefühl von Zugehörigkeit. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit hatte ich mich zur richtigen Zeit am richtigen Ort befunden und noch einmal den richtigen Menschen getroffen.
Leif hatte die Tür geöffnet und verbeugte sich theatralisch, während er mir den Weg hinein wies. »Ihr Palast, Madame«, sagte er und grinste so breit, dass sich sein Gesicht fast in zwei Hälften zu teilen schien.
Als ich das Zimmer betrat – genau dasselbe Zimmer –, rechnete ich fast damit, Olav dort vorzufinden, wie er einen Joint rauchte.
Aber da waren nur wir beide. Wir waren endlich zusammen allein.