EPILOG
BECKY
Wie geplant reisten wir am 4. September nach Hause.
Unsere Flüge umzubuchen, hatte sich nicht nur als Albtraum erwiesen, sondern war auch unglaublich teuer und entsprach dem Preis von drei Rückflügen, wie wir sie ursprünglich bezahlt hatten. Außerdem musste Mum sich sofort auf dem Amt melden, als wir nach Hause kamen, sonst wäre ihre Arbeitslosenunterstützung nicht weitergezahlt worden. Aber bevor wir abfuhren, hatte ich die Gelegenheit, zwei atemberaubende Nächte mit Baruch zu verbringen und einen ganzen Tag mit meinem Vater.
Am letzten Tag schlossen Mum und ich uns seiner Gruppe zu einer Wanderung durch die Hügel an, ein gemütlicher Spaziergang von Akrotiri bis zum Roten Strand, eine Route, von der ich mir ziemlich sicher bin, dass sie erleichtert worden war, um uns ungeübten Wanderern entgegenzukommen. Wir sechs fuhren auf unseren verschiedenen Rollern nach Akrotiri, was Spaß machte. Leifs Freunde schienen im Herzen noch wirklich jung zu sein und überholten einander unterwegs ständig.
Es war ein sonniger Tag mit einem riesigen blauen Himmel und einer sanften Brise, und am Anfang liefen Mum, Leif und ich zusammen an der Spitze. Doch ich kam bald mit einer Frau aus der Gruppe ins Gespräch und fiel allmählich zurück, während Mum und Leif voranmarschierten. Sie hieß Anita, und sie stellte mir all die üblichen Fragen – wie lange wir schon dort waren, was wir gesehen hatten …
Völlig unerwartet, denn ich hatte an diesem Tag noch Mühe, über solche banalen Dinge nachzudenken, fragte ich sie, wie er denn so sei.
»Wer?«, fragte sie. »Oh, du meinst Leif? Deinen Vater?«
Ich verzog das Gesicht. »Klingt wahrscheinlich komisch, nehme ich an«, sagte ich. »Dass ich eine völlig Fremde frage, wie mein Vater ist.«
»Das wäre es sicherlich«, antwortete Anita. »Aber nicht in deinem Fall. Dein Fall ist schon ziemlich besonders, nicht wahr?«
»Ja«, stimmte ich ihr zu. »Ja, ich bin ein ganz besonderer Fall. Und kennst du ihn gut, oder ist er nur ein Wanderkamerad?«
Anita lachte erneut. »Ich kenne Leif, seit er fünf ist«, erwiderte sie. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich … wie sagt man … neutral sein kann.«
»Objektiv?«, schlug ich vor.
»Ja, objektiv. Tut mir leid, mein Englisch ist nicht besonders gut.«
»Dein Englisch ist umwerfend!«, sagte ich. »Und neutral passt auch.«
»Vielen Dank. Aber nein, ich bin mir nicht sicher, ob ich objektiv bin. Ich glaube, ich liebe Leif mehr als fast jeden anderen Menschen in meinem Leben.«
Ich runzelte die Stirn. »Ihr seid doch nicht …?«, fragte ich und deutete mit einem Finger zwischen den beiden hin und her.
»Himmel, nein!«, erwiderte Anita. »Nein, ich bin lesbisch. Ich habe eine Frau. Sie ist in Oslo. Aber sie arbeitet, deswegen konnte sie dieses Jahr nicht mitkommen.«
»Oh, cool«, erwiderte ich.
»Nein, ich kenne Leif seit der Schule. Er ist ein wunderbarer Mensch.«
»Inwiefern?«, fragte ich. »Inwiefern ist er wunderbar?« Ich glaube, ganz tief in meinem Innern hoffte ich immer noch, unter seinen Wandershorts einen Supermannanzug zu entdecken.
»Er ist einfach so nett«, sagte Anita. »Das klingt … das klingt so banal, schätze ich. Aber er ist ruhig und großzügig. Er ist sehr hilfsbereit. Ihn kannst du um Mitternacht anrufen, wenn du ihn brauchst. Weil du eine Panne hast oder ein Rohr geplatzt ist oder einfach weil deine Freundin dich verlassen hat und du eine Tasse heiße Schokolade brauchst und mal weinen möchtest. Weißt du, ich habe noch nie erlebt, dass Leif sagt, er habe zu viel zu tun, um jemandem zu helfen. Und nur ein einziges Mal habe ich gesehen, wie er wütend wurde, und das war jemandem gegenüber, der … einen seiner Freunde schlecht behandelt hat. Er ist einfach der beste, zuverlässigste Freund, den man sich vorstellen kann. Auf Leif kann man sich immer verlassen. Immer.«
»Klar«, sagte ich. »Das muss schön sein. So einen Freund zu haben.«
»Ja, das ist es«, sagte Anita. »So einen Freund zu haben, verändert das eigene Leben. Das tut es wirklich.«
»Er ist also nett«, sagte ich. »Er ist
überaus
nett.«
»Ich denke manchmal, dass man heute Nettigkeit nicht hoch genug bewertet«, erklärte Anita. »Weißt du, was ich meine? Wir wissen Klugheit zu schätzen und Intelligenz und Stärke. Geld auch. Aber nett zu sein, ist etwas unglaublich Besonderes. Und es ist gar nicht so leicht, sich immer nett zu verhalten. Manche Leute sind ausgesprochen schwierig. Es kann einen ganz schön Mühe kosten, sie zu verstehen und trotzdem nett zu bleiben.«
»Ja«, stimmte ich ihr zu. »Ja, ich weiß ganz genau, was du meinst.«
»Leif ist für mich etwas ganz Besonderes. Ich denke, du wirst ihn sehr mögen. Ich hoffe, du bekommst die Möglichkeit, ihn noch viel besser kennenzulernen.«
»Ich werde es ganz bestimmt versuchen«, sagte ich.
Ein Mann aus der Gruppe, Jens, gesellte sich zu uns, und nach ein paar Minuten begannen Anita und er sich auf Norwegisch zu unterhalten, deswegen ging ich schneller, bis ich Mum und Leif eingeholt hatte.
Wir gingen einen Küstenweg entlang, der in den Fels gehauen war. Zu unserer Linken glitzerte das Meer im Sonnenlicht wie eine Million winziger Edelsteine. Es sah umwerfend aus. Mum und Leif plauderten angeregt, und er brachte sie oft zum Lachen.
Dank Anita begann ich, über Leifs Nettigkeit nachzudenken. Denn es stimmte, dass er Gutmütigkeit buchstäblich zu verströmen schien. Er hatte etwas ungeheuer Offenes und Aufrichtiges an sich, das mir vom ersten Moment an aufgefallen war. Und ich fragte mich, ob diese Ausstrahlung von Glück und Hilfsbereitschaft und Nettigkeit vielleicht die Superkräfte meines Vaters waren. In jedem Fall war es ein schöner Gedanke, und ich würde daran festhalten.
Wir picknickten am Roten Strand – er war weit weniger bevölkert als bei unserem letzten Besuch, denn es war inzwischen September.
Mum und Leif planschten im flachen Wasser herum wie die Kinder. Ich hatte sie noch nie so ausgelassen und entspannt gesehen, und ich war fast ein bisschen traurig, als ich mir vorstellte, wie anders meine Kindheit wahrscheinlich verlaufen wäre, wenn die beiden nur hätten zusammen sein können.
Auf dem Heimflug am nächsten Tag fing Mum wieder an, sich zu verschließen. Ich spürte, wie es begann, als wir abhoben. Und als wir in Gatwick, wo es regnete, das Flugzeug verließen, war sie wieder die alte freundliche, effiziente, aber leicht spröde Mutter, wie ich sie mein ganzes Leben lang gekannt hatte.
Wir hatten kein Wort über Leif gesprochen, wahrscheinlich, weil wir beide, was das anging, emotional ein bisschen überfordert waren. Aber ich begann es zu bereuen, dass ich mit ihr nicht über die Zukunft gesprochen hatte, als sie noch entspannter und offener Stimmung war. Denn ich fühlte, wie sie die Wände um sich herum neu hochzog.
Auf dem ganzen Heimweg dachte ich darüber nach, und auch noch als wir wieder in Mums Wohnung in Margate waren – bis in die frühen Morgenstunden, während der Regen auf das Dach trommelte.
Beim Frühstück endlich beschloss ich, dass eine von uns beiden sich bemühen musste, das Gespräch in Gang zu halten, und diejenige würde ich sein.
»Mum«, sagte ich. Sie nippte an ihrem Tee. »Wir müssen reden.«
»Müssen wir das?«, fragte sie. »Worüber?«
»Über Leif«, sagte ich. »Über Leif und dich und was jetzt passiert.«
»Okay, Schatz«, sagte sie in ihrem typisch aufgesetzten Ton. »Was möchtest du mir gerne sagen?«
Das alles klang so falsch in meinen Ohren – als wäre sie eine schlechte Schauspielerin in einem Theaterstück. Und doch kam mir diese Version von ihr so völlig vertraut vor, und mir wurde klar, dass sie mir die meiste Zeit meiner Kindheit praktisch etwas vorgespielt hatte. Sie hatte eine Rolle gespielt – die Rolle einer Frau, die, obwohl sie die Liebe ihres Lebens verloren hatte, obwohl sie alle Hoffnung aufgegeben hatte, immer noch dafür sorgte, dass das Leben lief.
»Mum«, sagte ich. »Komm zurück zu mir.« Verwirrt blickte sie mich an, deswegen bohrte ich nach. »Das bist nicht
du
, Mum. Du versteckst dich wieder in einer Hülle.«
Sie bewegte ihren Mund einen Augenblick, dann schwand der verwirrte Ausdruck aus ihrem Gesicht. Ich erkannte, dass sie wusste, wovon ich sprach. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie ballte eine Faust und presste sie an die Lippen. Sie sah mich nicht mehr an, und ihre glänzenden Augen glitten zur Decke und dann in eine Ecke des Raums.
»Du liebst ihn«, sagte ich. »Er liebt dich. Also was willst du unternehmen?«
»Ich weiß es nicht«, flüsterte sie und vermied immer noch irgendeinen Blickkontakt mit mir. »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
»Du wirst dir eine Woche nehmen, um deine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen, dann buchst du einen Flug zu ihm zurück. Er erwartet sowieso nichts anderes von dir.«
»Aber es ist jetzt alles so fern«, sagte Mum mit bebender Stimme. »Es ist wie ein Traum, der nicht Wirklichkeit werden kann. Und was ist mit meinem Leben hier? Was mache ich damit?«
»Welches Leben hier?«, fragte ich. »Diese Wohnung? Das Arbeitsamt? Die vernagelten Geschäfte in der Hauptstraße von Margate?«
»Du bist auch noch da«, erwiderte Mum. »
Du
bist hier.«
»Ich?« Ich lachte. »Mir geht es gut. Ich bin erwachsen, Mum. Ich muss mir irgendwo einen Job suchen. Und dann muss ich mein eigenes Leben leben. Und mir ist es egal, wo du lebst, solange du glücklich bist. Du warst so
glücklich
da unten, Mum. Ich habe dich noch nie so glücklich gesehen.«
Nun fing sie an, richtig zu weinen, deswegen ging ich zu ihr und hockte mich an ihre Seite, damit ich sie in die Arme
nehmen konnte. »Ich habe Angst, denke ich«, schluchzte sie. »Es ist albern, aber ich habe Angst, wieder dieser Mensch zu sein.«
»Welcher Mensch, Mum? Wovor fürchtest du dich?«
Sie zuckte die Achseln. »Der Mensch, der an all das glaubt, schätze ich«, sagte sie unter Tränen. »Der Mensch, der zu hoffen wagt. Weil es einfach so wehtut, wenn einem das genommen wird. Ich glaube, ich könnte es nicht noch einmal ertragen.«
Nachdem ich sie noch ein paar Mal gedrängt und Leif von der anderen Seite gezogen hatte, flog Mum Ende Oktober wieder hinunter nach Santorin.
Leif hatte für sie beide ein Haus an der Küste irgendwo im Norden von Oia gemietet, und er hatte zwei- oder dreimal am Tag Fotos auf Mums Telefon geschickt. Sie wurden immer vom gleichen Satz begleitet. »Komm!«, stand da jedes Mal. »Ich warte auf dich.«
Jetzt ist es Ende November, und es schüttet immer noch sintflutartig.
Mum und ich telefonieren jede Woche. Inzwischen klingt sie wieder normal. Also ich meine das neue Normal. Das entspannte, witzige, aufrichtige Normal, das ich meine ganze Kindheit lang so vermisst hatte.
Sie klingt völlig verliebt in Leif und auch verliebt in Santorin. Sie versucht sogar Griechisch zu lernen. Kann man sich das vorstellen?
Und was mich angeht, ich habe einen Teilzeitjob in einer Muffin-Bäckerei in dem neuen hippen Zentrum von Margate. Ich verdiene nicht genug, um davon leben zu können, und ich muss mir etwas von dem Geld nehmen, das Gran mir vererbt
hat, aber für den Augenblick ist das doch schon mal was, finde ich.
Ich habe ein paar alte Schulfreunde gesucht und gefunden und auch ein paar neue Leute kennengelernt, deswegen verbringe ich meine Abende und Wochenenden auf ziemlich angenehme Weise.
Ich weiß noch nicht, wo mein Platz im Leben ist, aber für mich ist das in Ordnung. Wie man mir gezeigt hat, kann das eine ganze Weile dauern.
Es war ein sehr emotionaler Sommer, und ich gebe mir etwas Zeit, damit sich der aufgewirbelte Staub wieder senken kann, bevor ich weitere Entscheidungen treffe, denke ich. Jedenfalls ist das im Moment mein Gefühl.
Gelegentlich bekomme ich WhatsApp-Nachrichten von Baruch, und wir treffen uns im Dezember in Athen, wenn ich über Weihnachten nach Santorin fliege. Also wer weiß? Unter Umständen ist er ja
mein
Schicksal. Vielleicht wird sich das noch erweisen.
Und was »Dad« angeht? Also das Wort fühlt sich für mich immer noch fremd an, aber ich vermute, das wird sich allmählich ändern. Und in der Zwischenzeit scheint es, als würde sich der Boden unter meinen Füßen weniger instabil anfühlen. Nachdem ich meine Kindheit damit verbracht habe zu lernen, absolut perfekt auf einem Fuß zu balancieren, darf ich plötzlich vielleicht auf beiden Schultern meiner Eltern stehen.
Es ist wirklich schwer zu erklären, aber ich fühle mich ein bisschen mehr gefestigt – ich weiß jetzt genauer, wer ich bin. Und das eröffnet mir auch neue Möglichkeiten, wie ich mich selbst sehe.
Vielleicht muss ich doch nicht zu der spröden, nervösen Mutter werden, mit der ich selbst aufgewachsen bin. Vielleicht kann ich einfach ganz entspannt und offen sein, so wie Mum jetzt ist. Wenn ich mich bewusst darum bemühe, finde ich
vielleicht sogar heraus, dass ich die Superkräfte meines Vaters geerbt habe, anderen gegenüber immer nett und ruhig und hilfsbereit zu sein, und am Ende werde ich noch für alle meine Freunde, die ich auf meinem Weg noch kennenlernen werde, zu einem Menschen, der ihr Leben verbessert.
Ich denke, das wäre ein ziemlich gutes Erbe, oder nicht?