JACKSON
E s ist still und doch nicht still.
Der Mond strahlt so hell, dass es selbst im Zelt nicht völlig dunkel ist. Schwach kann ich Caydens Umrisse erkennen, der eingerollt in seinem Schlafsack nur etwa einen Meter von mir entfernt liegt. Vorhin ist er innerhalb von Sekunden eingeschlafen. Dass ich das Feuer gelöscht und die schmutzigen Teller notdürftig mit Taschentüchern gereinigt habe, hat er nicht mal mehr mitgekriegt.
Insektengeräusche. Ab und an ein Knistern oder Rascheln von Tieren, die sich unsichtbar im Wald bewegen. Den ganzen Tag über ist mir nicht einmal ein Kaninchen über den Weg gelaufen. Cayden, der meist ein gutes Stück hinter mir hergetrödelt ist, behauptet, er habe einmal ein Elchgeweih zwischen den Bäumen gesehen, aber wahrscheinlich waren es nur ein paar Äste. Ein Bild von dem Tier hat er jedenfalls nicht zustande gebracht.
Wir haben uns keine besondere Mühe gegeben, leise zu sein, weil wir gelesen haben, dass größere Tiere nicht darauf stehen, in ihren Revieren überrascht zu werden. Ich wiederum stehe nicht darauf, plötzlich über einen Grizzly zu stolpern. Also nehme ich in Kauf, bisher nur von nervigen Mücken begleitet zu werden. Und natürlich von Cayden, der phasenweise fast genauso nervig war. Als wir den Trip geplant haben, war er noch Feuer und Flamme, doch irgendwann im Laufe des Tages ist sein ursprünglicher Enthusiasmus verpufft, und ihm war anzusehen, dass er sich für die Umgebung bei weitem nicht so begeistern kann wie ich.
Die Luft im Zelt ist schwül und stickig. Am liebsten würde ich meinen Schlafsack nehmen und mich nach draußen legen. Eigentlich soll man abseits der Campingplätze nicht zelten, der Ranger sagte, sie sähen das nicht gern. Cayden und ich leiteten kein striktes Verbot daraus ab, auch wenn der Ranger noch hinzufügte, es sei zu unserer eigenen Sicherheit. Was soll schon groß passieren? Soweit ich das beurteilen kann, besteht das größte Risiko darin, von den Scheißmücken gefressen zu werden.
Cayden beginnt zu schnarchen, und ich richte mich auf.
Ein paar Minuten später liege ich mit gebührendem Abstand zur Steilkante auf dem harten Stein, über mir schwarze Baumwipfel, die sich gegen den nachtgrauen Himmel abheben. Wenn man lange genug zu den wenigen Sternen hinaufstarrt, die dem Mondlicht trotzen, scheint es einen förmlich ins All zu saugen. Moskitos gibt es keine mehr, vielleicht ist es ihnen zu kalt geworden. Der Gedanke, vor einigen Stunden noch von den Klippen gesprungen zu sein, kommt mir unwirklich vor. Wie es wohl wäre, jetzt in den See zu tauchen? Ins schwarze, silbrig glitzernde Wasser, das über meinem Kopf zusammenschlagen würde, kälter noch als die Nachtluft?
Einen Moment lang bin ich ernsthaft in Versuchung, bis mir einfällt, dass ich über die Felsen wieder hinaufsteigen müsste. Auch wenn der Mond alles mit einem hellen Schimmer überzieht, ist es für eine Kletterpartie eindeutig zu dunkel.
Ich stütze den Kopf in die Hand, um über den See blicken zu können, auf die hohen Felsen auf der gegenüberliegenden Seite und die riesigen Bäume, die sich fast bis zur Steilkante hindrängen. Ein Gemälde in Silber- und Grautönen.
Caydens Schnarchen, das noch immer durch die Zeltwand hindurch zu hören ist, tritt in den Hintergrund, der harte Boden wird unwichtig. Alles, was mich normalerweise beschäftigt, verblasst langsam, während die Sterne irgendwann zu verschwimmen beginnen, vielleicht, weil ich zu lange nicht geblinzelt habe.
Unwirklich. Unwirklich schön. Am liebsten möchte ich diesen Augenblick festhalten, mich darin auflösen und eins werden mit der Nacht …
Ich werde wach, weil ich friere, weil sich die Feuchtigkeit des Morgengrauens auf mein Gesicht gelegt hat und weil ein verfickter Bär nur ein paar Meter von mir entfernt mit der Schnauze die Plastikteller zum Klappern bringt, die ich letzte Nacht stehengelassen habe.
Mein erster Impuls, ausgelöst durch einen fast schon schmerzhaften Adrenalinstoß, ist, mich aus dem Schlafsack zu winden und über die Klippen zu springen, aber Cayden … Cay liegt noch in dem Zelt, dessen Eingang von diesem riesigen Vieh jetzt beschnüffelt wird.
Heilige Scheiße.