JACKSON
D
er Wapiti Campground, von dem Haven gesprochen hat, liegt eine gute Stunde von Jasper entfernt, doch nachdem ich mir meine Schleichwege-App angesehen habe, beschließe ich, noch knappe drei Stunden weiterzulaufen, bis ich den Wabasso-Campingplatz erreiche, der nicht weit entfernt vom Horseshoe Lake liegt. Es ist fast sechs Uhr, als ich mein Zelt unter hohen Tannen auf einem Stellplatz in der Nähe des Flusses aufgeschlagen habe, trotzdem denke ich ernsthaft darüber nach, noch einen Abstecher zum See zu machen. Dieser Ort ist die einzige Verbindung, die ich zu Haven habe. Vielleicht ist sie ja häufiger dort?
Wäre ich von diesem Gedanken nur ein wenig überzeugter, würde ich wohl tatsächlich noch losmarschieren, obwohl die App mir erklärt, dass diese Aktion mit einer weiteren zweistündigen Wanderung verbunden wäre. Doch warum sollte Haven ausgerechnet heute Abend den Horseshoe Lake besuchen?
Nein, ich muss es gezielter angehen, wenn ich sie noch einmal treffen will, und das will ich ganz eindeutig.
Ihr Vater ist Ranger. Haven meinte, sie wohne in der Nähe. Vielleicht habe ich Glück, und der ältere Mann, der vorhin in dem blassgrünen Kassenhäuschen an der Einfahrt zum Campingplatz saß, kennt die beiden. Und mit noch etwas mehr Glück weiß er sogar, wie ich meine Wandertour morgen rein zufällig so legen kann, dass ich dabei an Havens Haus vorbeikomme.
Eine knappe Viertelstunde später starre ich missmutig das verlassene Kassenhaus an. Na ja. Ich habe keinen 24-Stunden-
Service erwartet. Davon abgesehen kann ich genauso gut morgen früh nachfragen. Trotzdem geht mir gerade alles nicht schnell genug.
Nur noch fünf Tage, dann muss ich zurück nach Edmonton. Ich kann den Urlaub nicht verlängern. Die Uni beginnt wieder, und es käme nicht gut, gleich am ersten Tag die Vorlesungen zu schwänzen. Das kann ich mir nicht leisten, im wahrsten Sinne des Wortes. Im Gegensatz zu Caydens Eltern knüpfen meine Bedingungen an ihre finanzielle Unterstützung. Solange ich mich auf den regelmäßig erscheinenden Bestenlisten der Fakultät für Rechtswissenschaften befinde, zahlen sie die Studiengebühren und die Miete für das Zimmer in dem Haus, in dem ich mit Cayden wohne. Meine Mutter ist der Ansicht, ein konzentriertes Arbeiten sei in einem überfüllten Wohnheim unmöglich. Außerdem mag sie Cayden, den netten, höflichen jungen Mann aus wohlhabender Familie. Nicht im Traum käme sie auf die Idee, dass dessen ausschweifende Partys meine Konzentration mitunter ebenfalls ziemlich beeinträchtigen.
«Stimmt was nicht mit dem Platz?»
Um ein Haar wäre ich zusammengezuckt. Hinter mir steht der ältere Mann, bei dem ich vorhin bezahlt habe, und ausgehend davon, dass er sich gerade den Gürtel an seiner Hose richtet, war er wohl während der letzten Minuten in dem Toilettenhäuschen, das ein Stück abseits im Gras steht.
«Nein, mit dem Platz ist alles okay.»
«Was wolltest du dann von mir?» Er streckt mir die Hand hin. «Aaron.»
Diese direkte Frage und die Tatsache, dass er mich mit seinem Auftauchen überrascht hat, sorgen dafür, dass ich meine sorgfältig zurechtgelegten Sätze vergesse.
«Hi, ich bin Jackson, ich habe … ich wollte morgen …» Kurz schließe ich genervt von mir selbst die Augen, dann setze ich neu an. «Heute hat mir ein Ranger in einer etwas brenzligen Situation am Horseshoe Lake geholfen, und ich wollte mich bei ihm bedanken. Ich dachte, Sie könnten mir vielleicht sagen, wo ich ihn finde.»
«Du bist einer der Kerle, die über den Bären gestolpert sind.»
«Genau.»
Bevor ich nachfragen kann, woher er das weiß, redet Aaron schon weiter. «Nate war hier, um mich darüber zu informieren, dass ein Bär abseits seines Reviers herumläuft. War es Nate?»
«Bitte?»
«Hieß der Ranger, den du heute Morgen getroffen hast, Nate?»
«Ähm … keine Ahnung. Seine Tochter war dabei, Haven.»
«Haven. Dann war es nicht Nate, sondern Wyatt. Moment.» Er schlurft an mir vorbei und schließt umständlich das Kassenhäuschen auf. Drinnen beginnt er in einer Schublade zu wühlen, zieht schließlich einen etwas lädiert wirkenden Faltplan heraus und winkt mich zu sich. «Wyatts Hütte steht hier.» Mit schwieligem Finger tippt er auf einen kleinen roten Punkt, gar nicht weit vom Campingplatz entfernt.
«Darf ich?» Ich halte das Smartphone in die Höhe, und der ältere Mann tritt einen Schritt zur Seite. Erst fotografiere ich nur die Karte ab, dann öffne ich meine Schleichwege-App.
Neugierig sieht Aaron auf das Display. «Ich kenne die Jungs, die das entwickelt haben», sagt er. «Wusste nicht, dass mittlerweile auch Urlauber darauf Zugriff haben.»
«Man kann es einfach im App-Store kaufen.»
«Na so was», erwidert er bedächtig. «Wer hätte das gedacht.
Wyatts Haus steht hier.» Er tippt auf das Handy. «Wie merkst du dir das?»
«Ich kann es als Zielort eintragen.»
«Na so was», murmelt er wieder, während er fasziniert dabei zusieht, wie mein Weg zu Haven auf dem Display auftaucht. Nicht mal eine Stunde.
«Es zeigt dir ja sogar, wo du über den Fluss kommst.» Aaron pfeift durch die Zähne. «Im Frühjahr könntest du das allerdings vergessen.»
«Zum Glück ist ja August.»
«Ja, zum Glück.» Umständlich faltet er die Karte zusammen und verlässt hinter mir das Kassenhaus. «Grüß Haven morgen von mir.» Mit einem Zwinkern wendet er sich ab und steuert einen schmutzigen, weißen Range Rover an. Ganz offenbar geht er nicht davon aus, dass es mir in erster Linie wichtig wäre, Havens Vater zu danken.
Die Hände in den Hosentaschen, schlendere ich zu meinem Zeltplatz zurück. Haven geht mir tatsächlich nicht mehr aus dem Kopf. Ich wüsste gern, was sie in dem Moment gedacht hat, als sie meine ausgestreckte Hand ergriff und mich dabei schweigend musterte.
Es riecht nach Lagerfeuer. Auf vielen der besetzten Stellplätze flackert es fröhlich vor sich hin, und als ich an einem Unterstand mit Feuerholz vorbeikomme, nehme ich mir ein paar Holzscheite und schichte sie in der Feuerstelle auf, die in der Nähe meines eigenen Zelts liegt. Eine Dose Bohnen könnte ich mir warm machen, aber eigentlich habe ich trotz der langen Wanderung noch keinen Hunger.
Havens ernster Blick ist verwirrend. Mit Ausnahme von Professor
Mitchell, meiner Dozentin in Methodenlehre, lächeln mich Frauen meistens an. Gerade, wenn man sich das erste Mal trifft. Aber Haven hat mich angesehen, als überlege sie, ob sich ein Gespräch überhaupt lohne. Wichtig schien ihr nur Cayden zu sein, genau genommen seine Verletzung. Umso mehr hat ihr Lächeln am Ende unseres kurzen Gesprächs bei mir ausgelöst. Hätte sie nicht gelächelt, würde ich vermutlich nicht hier sitzen. Oder zumindest nicht planen, morgen bei ihr aufzukreuzen.
Es war ein echtes Lächeln. Ein ‹Das wäre schön›-Lächeln.
Und auch wenn sie es eilig hatte zu verschwinden, lässt mich dieses Lächeln glauben, dass sie sich vielleicht tatsächlich freuen würde, mich wiederzusehen.
Ich jedenfalls freue mich.
Scheiße, nein – ich freue mich überhaupt nicht: Ich bin verflucht aufgeregt, und ich habe keine Ahnung, warum eine fremde rothaarige Frau unter Tannen so etwas in mir auslöst.
Aber ich werde es herausfinden.