JACKSON
A ls ich mich dem Haus nähere, in dem Haven wohnt, ist es anders als gestern und gleichzeitig ähnlich. Anders, weil ich weiß, dass Haven auf mich wartet, und ähnlich, weil ich trotzdem geradezu lächerlich aufgeregt bin. Sie öffnet die Tür, noch bevor ich geklopft habe, und das Lächeln auf ihrem Gesicht zeigt deutlich, dass sie sich freut, mich zu sehen.
«Hi!» Sie trägt dieselbe Jacke wie gestern, dieselben Stiefel und vermutlich auch dieselben Jeans. Derselbe Rucksack, dieselben wilden Haare.
«Hey», erwidere ich.
Es ist ein seltsamer Moment, einer, in dem die Sekunden sich erst auszudehnen scheinen, um sich dann wieder zusammenzuziehen. Ich trete zu Seite, als Haven die Tür hinter sich schließt. Ganz kurz denke ich, sie werde als Nächstes nach meiner Hand greifen, doch nein, natürlich nicht.
«Ich dachte, wir könnten uns heute die Athabasca Falls ansehen, es ist kein langer Weg», sagt sie. «Wir brauchen keine zwei Stunden.»
«Klingt gut.»
Heute verlassen wir den Pfad nicht, um nach einer Wapitiherde zu suchen, und obwohl ich besser daran täte, auf Wurzeln und Äste zu achten, muss ich ständig Haven ansehen. Mehr als einmal begegne ich dabei ihrem Blick.
«Was machst du eigentlich, wenn du mich nicht gerade durch den National Park führst?», frage ich irgendwann und bin gespannt auf ihre Antwort. Sie lebt hier offenbar ganz allein, nur mit ihrem Vater. Was ist mit ihrer Mutter? Hat sie Geschwister? Freunde?
«Hauptsächlich unterstütze ich meinen Vater. Kontrolliere Wanderwege und so. Und ich studiere.»
«Was denn?»
«Ich will meinen Schwerpunkt auf Umweltwissenschaften legen.»
«Aber du bist nicht nur während der Semesterpausen hier, oder?»
«Nein, es ist ein Fernstudium», erwidert sie. «Wenn ich fertig bin, will ich mich ganz offiziell als Rangerin bewerben.»
«Im Jasper National Park?»
«Ja, sicher.»
«Hast du jemals woanders gelebt?»
«Nein. Oder doch», korrigiert sie sich unmittelbar. «Bis ich sieben war, habe ich in Edmonton gewohnt.»
«Und warum seid ihr hierhergezogen? Weil dein Vater den Ranger-Job bekommen hat?», hake ich nach.
«Meine Mutter hatte einen Unfall. Sie starb, und mein Vater hat sich hier im Park beworben und die Stelle gekriegt.»
«Das tut mir leid.»
«Es ist ziemlich lange her.»
Ohne Vorwarnung taucht sie nach rechts ins Unterholz ein, und erst als ich die Zweige auseinanderschiebe, die sich direkt hinter ihr wieder geschlossen haben, ist eine nahezu unsichtbare Schneise im Gestrüpp auszumachen.
«Und was machst du, wenn du nicht gerade über Bären stolperst?», fragt Haven über die Schulter hinweg. Während mir ständig Äste die Augen auszustechen drohen, scheinen sie ihr den Weg geradezu freiwillig freizugeben.
«Ich studiere auch. In Edmonton. Jura.»
«In Edmonton. Willst du Anwalt werden?»
«Vielleicht.»
«Vielleicht?»
«Ich bin noch nicht sicher, ich weiß noch nicht genau, in welche Richtung ich gehen will.»
«Welche Möglichkeiten gibt es denn?»
«Na ja, ich könnte Staatsanwalt werden oder Richter. Oder Steuerberater.»
«Spannend.»
Ich fange den Blick auf, mit dem sie mich für einen Moment mustert. Natürlich hat sie das nicht ironisch gemeint.
«Du findest das spannend?»
«Ja. Du etwa nicht? Ich meine, du studierst das immerhin. Okay, Steuerberater klingt nicht wirklich aufregend, aber Staatsanwalt oder Richter? Da hast du doch eine Menge Verantwortung.»
«Ja, vermutlich», erwidere ich.
Eine Weile laufen wir wortlos hintereinanderher. Würde Haven jetzt plötzlich verschwinden, würde ich ohne meine App niemals wieder hier rausfinden. Meinte ich vorhin noch einen Weg zu erkennen, scheint es mittlerweile so, als schlügen wir uns einfach planlos durchs Unterholz.
«Du hast dich nicht selbst für dieses Studium entschieden, oder?», durchbricht Haven das Schweigen, und ich beiße kurz die Zähne zusammen.
«Nein.»
«Warum studierst du es dann?»
«Mein Vater ist Anwalt.»
«Aha.»
«Und sein Vater. Und dessen Vater. Es ist … eine Familientradition. Würdest du Rangerin werden wollen, wenn dein Vater hier nicht arbeiten würde?»
«Ja.»
«Du hast nie darüber nachgedacht, vielleicht etwas anderes zu tun?»
«Nein, nie. Jedenfalls nicht ernsthaft.»
«Was bedeutet ‹nicht ernsthaft›? Als Gedankenspielerei aber schon?»
Einmal mehr dreht Haven sich zu mir um. Ein Zweig federt zurück, und es gelingt mir gerade noch rechtzeitig, ihm auszuweichen.
«Du blutest», sagt sie.
«Was?»
«Du blutest.» Sie ist stehen geblieben, und als ich näher trete, tippt sie behutsam mit dem Finger an meine Wange. «Hier.»
Ein Kribbeln durchfährt mich. Ich muss mich zwingen, nicht nach ihrer Hand zu greifen.
«Es ist nur ein Kratzer. Er tut nicht weh, oder?», fragt sie und sieht dabei fast schuldbewusst aus.
«Ich hab’s nicht mal bemerkt.»
So dicht vor ihr zu stehen und den Blick ihrer grauen Augen auf mir zu spüren lässt ein seltsam sehnsüchtiges Gefühl in mir aufkommen. Um uns herum gibt es nur Bäume und Sträucher und Blätter und Gras, nichts ist zu hören, abgesehen von Vogelgezwitscher, den Wind zwischen den Tannenzweigen und gelegentlich einem zarten Rascheln im Unterholz. Noch immer meine ich ihre Berührung auf meiner Wange spüren zu können, und würde ich sie jetzt an mich ziehen …
«Am besten, wir laufen etwas langsamer. Wir haben es ja nicht eilig.»
Als sie sich abwendet, um weiterzugehen, presse ich für einen Moment die Lippen zusammen. Was genau passiert hier? Sie sieht gut aus, keine Frage, und sie hat etwas an sich, das mich fasziniert. Diese vollkommene Sicherheit, die sie umgibt, wenn sie Haven, das Mädchen aus dem Wald, ist. Und die Unsicherheit in ihrem Gesicht, sobald sie es mit etwas zu tun bekommt, das nicht dazugehört. Mit der Frage zum Beispiel, welches Leben sie sich außerhalb dieses Waldes vorstellen könnte. Aber ist das schon Erklärung genug dafür, dass ich sie gerade am liebsten geküsst hätte?
«Wir sind fast da.» Sie dreht sich zu mir um und schenkt mir ein Lächeln. Als ich die Klette in ihrem Haar entdecke, denke ich nicht weiter darüber nach, sondern beuge mich vor und zupfe das Ding mit einer langsamen Bewegung heraus. Die Strähne fühlt sich weich an.
Haven ist stehen geblieben. Sie betrachtet die Klette zwischen meinen Fingern, dann sieht sie mich an. Und die Fragen, die ich in ihren Augen lese, kommen mir verdammt bekannt vor.