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HAVEN
J ackson wirkt, als wolle er noch etwas sagen, aber er tut es nicht, und ich fühle mich, als müsse ich etwas tun, doch ich weiß nicht, was.
«Man kann den Wasserfall schon hören», sage ich schließlich. Mit einer solchen Feststellung lässt sich nichts verkehrt machen.
Er lauscht, schüttelt dann aber den Kopf. «Ich hör nix.»
«Lass uns weitergehen, wir sind schon ganz in der Nähe.»
Dass er nicht mehr direkt vor mir steht, bringt das unwirkliche Gefühl, das mich gerade ergriffen hat, nicht völlig zum Verschwinden, aber es wirkt sich nicht mehr ganz so lähmend auf mein Denken aus. Ich wäre gern normal. In dieser Sekunde wäre ich so unendlich gern eine ganz normale junge Frau, eine, die weiß, wie man reagieren muss, wenn man plötzlich durch eine Berührung aus der Fassung gebracht wird. Fast hätte ich nach seiner Hand gegriffen, und was wäre dann geschehen?
Am Samstag wird er zurück nach Edmonton fahren, und vermutlich wird er mich schnell wieder vergessen.
Ich will aber nicht, dass er mich vergisst.
Wie fühlt sich ein Leben, wie Jackson es führt, wohl an? Wenn ich in Edmonton wohnen würde …
«Ich hab’s doch gehört», lässt Jackson sich vernehmen.
«Bitte?»
«Ich hab den Wasserfall doch gehört. Ich dachte, es sei der Wind.»
Zwischen den Baumstämmen taucht ein Weg auf, breit genug, damit die vielen Touristen, die die Athabasca Falls bestaunen wollen, sich nicht gegenseitig auf den Füßen herumtreten. Die überraschten Blicke, die uns zugeworfen werden, als wir aus dem Wald herauskommen, ignoriere ich. Dad würde es nicht gefallen, dass ich nicht auf einen der offiziellen Pfade eingeschwenkt bin, bevor wir auf den völlig überlaufenen Weg gestoßen sind. Seiner Ansicht nach sollte ich niemandem dumme Ideen in den Kopf setzen, indem ich mich nicht an die Wanderwege halte, und er hat ja recht. Ich drücke mich nur so ungern zwischen all diesen Leuten herum, wenn ich nicht muss.
Jackson sieht sich um. «Was ist denn hier los?»
«Na ja, die Wasserfälle gehören zu den beliebtesten Sehenswürdigkeiten des Nationalparks, und es ist Ende August – nachmittags ist es noch voller.»
Beinahe muss ich über seine Verwirrung lächeln, aber ich will ihn nicht auslachen. Hätten wir gleich zu Beginn die Route gewählt, die alle nehmen, um die Athabasca Falls zu erreichen, wäre ihm schnell klargeworden, dass wir hier nicht allein unterwegs sind. Der Gegensatz zu der Stille, die uns vor wenigen Minuten noch umgeben hat, und den vielen Leuten, die sich in Gruppen die Straße entlangschieben, hat ihn vermutlich ziemlich unvorbereitet getroffen.
«Wow», murmelt er. «Das ist ja eine richtige Völkerwanderung.»
Links von uns befindet sich, durch einen rostbraunen Maschendrahtzaun abgesperrt, der Fluss. Blaugrün leuchtet er vor den schwarzen Silhouetten der Tannen auf der anderen Seite. Er ist nicht so reißend wie im Frühjahr, wenn das Wasser grau ist von all dem Sand, der durch die Schneeschmelze hineingeschwemmt wird, doch immer noch beeindruckend genug, damit Jackson sein Smartphone hebt, um ein Bild zu machen. Nein, er filmt sogar. Langsam dreht er sich einmal um sich selbst. Der Sucher gleitet über Bäume, Felsen und ganz kurz über mich, dann schiebt er das Telefon in seine Jackentasche zurück.
In den nächsten Minuten versperren uns immer wieder meterhohe Tannen den Blick, und als wir die ersten Klippen erreichen, über die das mittlerweile weiß schäumende Wasser hinunterstürzt, zieht es Jackson zum Zaun zurück. Er vermag kaum den Blick von den wilden Stromschnellen abzuwenden, zu denen der vormals träge dahinfließende Fluss geworden ist.
Der Zaun weicht einer Mauer, die zusätzlich durch eine Brüstung gesichert wird, und Jackson sucht sich einen Platz zwischen all den Menschen, die dagegenlehnen, um hinunterzuschauen.
Der Weg ist mittlerweile asphaltiert, wird aber immer wieder von Felsen durchbrochen, und ich versuche mir vorzustellen, ich wäre hier allein, unter mir der Athabasca River, das Gesicht feucht von der aufsteigenden Gischt. Besonders gut gelingt es mir nicht, und das liegt nicht an den vielen Menschen, sondern nur an einer bestimmten Person, die in dieser Sekunde wie ein kleiner Junge über der Mauer hängt, und das in die Tiefe rauschende Wasser filmt.
«Ist dein Telefon wasserdicht?»
«Mh?»
«Dein Telefon – ist es wasserdicht?»
Jackson mustert das Handy, wischt es dann nachlässig an seinem Shirt trocken und strahlt mich an. «Das muss es jetzt abkönnen.»
Seine Haare fallen ihm feucht in die Stirn, und er sieht so glücklich aus, dass ich lachen muss. «Es ist toll, oder?»
«Wahnsinn!»
Langsam geht er weiter die Mauer entlang, noch immer mit dem Smartphone in der Hand. Bei jeder Lücke zwischen den Leuten lehnt er sich weit über die Brüstung. Hoffentlich rutscht ihm das Handy nicht irgendwann aus den nassen Fingern.
«Es ist verrückt! Sieh dir das doch mal an!»
Das Wasser, das an dieser Stelle über mehrere Felsvorsprünge in das mit der Zeit ausgehöhlte Becken hinabschießt, schäumt meterhoch, es sieht aus, als würde es kochen. Der hauchzarte Sprühnebel legt sich über alles, viele Leute haben sich trotz der warmen Sonnenstrahlen in Plasikcapes gehüllt.
Ergriffenheit liegt auf Jacksons Gesicht, und endlich mal weiß ich ganz genau, was in ihm vorgeht. Nahezu willenlos lässt er sich von mir zu der Brücke ziehen, die den Fluss über den Wasserfällen überspannt, und dort steht er so lang, dass sogar ich mich durch die Wirbel unter uns hypnotisiert fühle.
«Stell dir vor, du rast hier mit dem Kajak runter», ruft Jackson.
«Das überlebst du nicht», erwidere ich freundlich.
Er lacht. «Stell dir vor, du sitzt in einem Kajak, mitten rein in diese Wasserhölle, und du überlebst es!»
Lange Sekunden würde man nichts anderes spüren als den irrwitzigen Sog, Felsspitzen würden vorbeischnellen, und man könnte aufgrund des brodelnden Wassers kaum atmen, selbst wenn man nicht kentern würde – und dann gäbe es diesen Moment des freien Falls, umgeben von weißem Schaum und Gischt und Nebel, und nehmen wir nur einmal an, wie durch ein Wunder würde man nicht an den scharfkantigen Steinwänden zerschmettert werden, sondern eintauchen, an der tiefsten Stelle des Beckens eintauchen, und das herabschießende Wasser würde dich immer weiter nach unten drücken, bis du spürst, wie es dich endlich wieder freigibt und du auftauchst und über dir die schwarzen Klippen, der blaue Himmel und die Sonne, während du in der engen Schlucht davongetragen wirst, pfeilschnell wie ein Fisch …
Ich wende den Blick von dem wütenden Wasser ab und stelle fest, dass Jackson mich ansieht, sein Gesicht so nah an meinem, dass wir nicht rufen müssen, um das Brausen zu übertönen.
«Es wäre unglaublich», sagt er, und ich nicke.
In den Sekunden, die jetzt verstreichen, gibt es nur ihn und mich und das Tosen des Wassers. Die Menschen links und rechts werden zu Schatten, nur Jackson ist real. Sein Gesicht, über das feine Tropfen rinnen, die nassen Strähnen, die ihm bis fast über die Augen hängen, und das leichte Lächeln, mit dem er mich mustert.
Es ist ein besonderer Moment … und er wird mal wieder dadurch zerstört, dass ich keine Ahnung habe, wie ich mich verhalten soll. Was denkt er? Was fühlt er? Was sieht er, wenn er mich anguckt? Wird er in Gedanken noch immer von den Stromschnellen mitgerissen? Fällt er in die Tiefe, spürt er die Kälte und die Wucht, und wie lebendig man sich in einem solchen Moment fühlt? Wie verletzlich?
Oder sieht er gerade nur mich?
Zaghaft greife ich nach einer seiner Hände, die locker über der Mauerbrüstung hängen. Das ist okay, oder? Oder ist das zu persönlich? «Lass uns weitergehen. Vielleicht haben wir Glück, und du kannst noch irgendein Tier für deine Sammlung fotografieren.»
Jackson richtet sich auf. Mit der freien Hand streicht er sich die nassen Haare aus der Stirn, seine Finger umschließen meine. Würde ich jetzt lockerlassen, er würde mich halten.
«Okay», sagt er.