JACKSON
W ann auch immer ich in den letzten drei Jahren mit einer Frau händchenhaltend durch die Gegend gelaufen bin, war spätestens das der Moment, in dem aus unverbindlichem Dating etwas Festes geworden ist. Man hatte sich kennengelernt und fand sich sympathisch genug, um sich selbst und anderen zu demonstrieren: Wir sind zusammen.
Havens Hand zu halten ist anders. Ich glaube nicht, dass sie sich darüber Gedanken macht, ob wir irgendwie … ein Paar geworden sind oder wann der Zeitpunkt gekommen wäre, den nächsten Schritt zu gehen. Es fühlt sich auf eine verrückte Art freundschaftlich und gleichzeitig elektrisierend an. Das Lächeln auf ihren Lippen ist kaum wahrnehmbar, sie sieht ziemlich zufrieden aus, und ich habe keine Ahnung, was in ihrem Kopf vorgeht. Am liebsten würde ich sie fragen, aber wenn es eine Frage auf dieser Welt gibt, die ich wirklich hasse, dann ist es das klassische: «Woran denkst du gerade?»
Stella hat mich gefühlt zehnmal am Tag damit genervt, und die Tatsache, dass ich in den letzten Wochen unserer Beziehung in ihrem Beisein oft darüber nachgedacht habe, das Ganze zu beenden, hat mir diese Frage nicht sympathischer gemacht.
Haven zieht mich von dem breiten Weg hinunter, den wir uns noch immer mit Dutzenden Leuten teilen. Die Bäume stehen weit genug voneinander entfernt, um ihre Hand nicht loslassen zu müssen, und ich werde garantiert auch nicht der Erste von uns beiden sein, der das tut.
«Heute Nacht werde ich bestimmt von diesen Wasserfällen träumen», sage ich und grinse Haven an.
«Es ist ein heiliger Ort», entgegnet sie.
«Wie meinst du das?»
«Es ist …» Sie wirft mir einen beinahe prüfenden Blick zu. «Es ist ein Kraftort. Für die meisten Leute sind es nur beeindruckende Wasserfälle, aber für die Menschen, die schon früher hier gelebt haben, ist es viel mehr.»
Das klingt gut. Ein Kraftort. «Was bedeutet das?»
«So genau darf ich dir das nicht erzählen. Jeder Kraftort hat seine Geschichte, aber sie werden nicht an Außenstehende weitergegeben. Es gibt hier sehr viele.»
«Und woher weißt du davon?»
«Von Nate. Einem der Ranger hier. Er gehört zum Volk der Sioux.»
«Spannend.»
Innerhalb weniger Minuten ist das Geplapper der Menschen, die wir zurückgelassen haben, verstummt. Der Wald nimmt ihre Stimmen in sich auf, schirmt Gelächter, Rufen, ja selbst den brausenden Wasserfall vor uns ab. Zurück bleibt die Art von Stille, die ich in den letzten Tagen kennengelernt habe: das dumpfe Geräusch unserer Schritte auf dem federnden, mit braunen Tannennadeln bedeckten Erdboden und der allgegenwärtige Wind, der zwischen den Bäumen hindurchstreicht.
«Wohin gehen wir jetzt?»
Es gefällt mir, meine Stimme in dieser Umgebung zu hören. Meine Worte scheinen sich völlig ungehindert entfalten zu können. Es gibt einfach nichts, das sie überdecken würde.
«Wir folgen dem Fluss, und wenn wir Glück haben, treffen wir Gracie.»
«Gracie.»
«Gracie ist ein Elch.»
«Natürlich.»
Ich spüre Havens Blick auf mir, und als ich mich zu ihr umdrehe, liegt ein überraschter Ausdruck auf ihrem Gesicht.
«Ich wusste nicht, dass Gracie ein Elch ist», erkläre ich. «Es war nur so eine Bemerkung. So was wie ‹Ist ja klar, dass jemand wie Gracie nicht deine Freundin aus der Schule sein kann›.»
«Ah.» Haven scheint darüber nachzudenken. «Sagst du so etwas, damit ich darüber lache? Oder findest du es lustig, dass ich keine Freunde habe?»
Die Bestürzung, die mich jetzt überfällt, wird im nächsten Moment dadurch abgemildert, dass ich keine Verletztheit in Havens Augen erkennen kann. Ist sie es so gewohnt, dass andere Leute sie für seltsam halten?
«Ich glaube, weder noch», erwidere ich vorsichtig. «Es liegt überhaupt keine Absicht dahinter, und mit Sicherheit finde ich es nicht lustig, dass du keine Freunde hast … Du hast wirklich keine?»
«Na ja, definiere Freunde», erwidert Haven und wendet den Blick ab. «Natürlich gibt es Menschen, mit denen ich Zeit verbringe.»
«Okay.»
«Es ist jetzt nicht so, dass ich nur mit meinem Vater reden würde.»
«Okay.»
«Es gibt zum Beispiel Nate. Und ich unterhalte mich oft mit Mr. Adams – er arbeitet in Jaspers Bibliothek. Und es gibt all das hier», fügt sie mit einer Selbstverständlichkeit hinzu, die mich im ersten Moment verwirrt.
«Was meinst du mit all das hier ? Der Wald ist dein Freund?»
«Nein, natürlich nicht. Oder doch, aber nicht so, wie du es dir vielleicht vorstellst. Es ist nur …» Haven gerät ins Stocken, eine schwache Röte breitet sich auf ihren Wangen aus. «Es ist nicht so, dass ich mit Bäumen reden würde, falls du das denkst, aber ich fühle mich hier einfach selten allein. Wenn ich unterwegs bin, ist alles um mich herum lebendig und – für dich hört sich das bestimmt seltsam an.»
«Tut es nicht.» Das ist nicht ganz die Wahrheit. Ein wenig seltsam klingt es schon.
«Nicht? Dann wärst du der Erste. Ich fühle mich hier …»
Sie sucht so angestrengt nach einem geeigneten Begriff, dass ich ihr gern helfen würde, aber ich habe absolut keinen Schimmer, welches Wort angemessen wäre.
«… ich gehöre einfach dazu», beendet sie den Satz und lächelt entschuldigend. «Wenn du zurück nach Edmonton fährst, warten da sicher Menschen auf dich. Und hier wartet man auf mich.»
«Wer? Die Bäume?»
Ich will es wirklich verstehen, und vielleicht, weil diesmal nicht ein Hauch von Ironie in meinen Worten liegt, lacht Haven auf. «Nein, wohl eher nicht. Obwohl – wer weiß das schon. Immerhin sind Bäume Lebewesen, auch wenn ich denke, dass sie nicht sehr viel von uns wahrnehmen, weil wir einfach zu schnell für sie sind. Nein, ich rede von den Tieren, die hier leben.»
«Du hast Tierfreunde.» Ich muss an kitschige Disneyprinzessinnen denken, die ständig mit Kaninchen und Fischen und Vögeln reden.
«Das trifft es nicht ganz, aber … irgendwie schon, ja.»
«Gracie?»
«Gracie ist gern allein. Aber sie freut sich, wenn sie mich sieht.»
«Woran merkst du das?»
«Woran merkst du, dass dein Freund Cay sich freut, dich zu sehen?»
«Er … ich weiß nicht. Er lächelt oder so. Keine Ahnung.»
«Siehst du.» Sie grinst mich an, als habe ich ihr mit meiner Antwort recht gegeben. «An Gracies Körpersprache kann ich das genauso sehen.»
Ich öffne gerade den Mund, um zu fragen, wie ein Elch lächelt, da packt Haven meine Hand fester. «Schau, da vorn.»
Mein Mund wird trocken, als ich ihrem Blick folge. Scheiße. Was ist das? Ein Puma? Ist das ein Puma? Die sind gefährlich, oder nicht? Und er ist nicht gerade klein.
«Was tun wir jetzt?» Meine Stimme ist so leise, dass ich nicht sicher bin, ob Haven mich überhaupt gehört hat, aber ich will das Tier nicht versehentlich reizen. Haven lässt meine Hand los. Was hat sie vor? Sollen wir rennen? Uns etwas zu unserer Verteidigung suchen?
Sie geht in die Knie, und vorsichtig tue ich es ihr nach, auch wenn mir ganz und gar nicht gefällt, dass die Raubkatze vor uns dadurch noch größer wirkt. Vielleicht signalisieren wir so, dass wir keine Gefahr darstellen. Guck, Puma, wir sind ganz harmlos. Hau ab. Stattdessen schleicht er langsam auf uns zu – ich frage mich, ob Havens Taktik wirklich die richtige ist.
«Sollten wir nicht wegrennen?», quetsche ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Als Haven mir einen überraschten Blick zuwirft und mich im nächsten Moment angrinst, beginne ich ernsthaft an ihrer Ranger-Berufung zu zweifeln. Sie hält sich doch für eine verdammte Disney-Prinzessin.
«Keine Sorge, das ist nur Snoops.»
«Was?»
«Der Puma. Er heißt …»
In diesem Moment hat das Vieh uns erreicht. Mich ignoriert es völlig, senkt nur den Kopf und legt die Schnauze zwischen Havens Kinn und ihre Schulter. Vorsichtig gleiten ihre Hände in das kurze, glänzende Fell, eine zarte Berührung, ohne das Tier dabei festzuhalten, und dann ist der Augenblick auch schon wieder vorüber. So dicht wie die Katzen meiner Grandma, die sich immer an meinen Beinen reiben, streift der Puma an Haven vorbei und verschwindet so lautlos zwischen den Bäumen, wie er zuvor aufgetaucht ist.
Haven richtet sich wieder auf. «Er heißt Snoops», beendet sie ihren Satz. Glücklich strahlt sie mich an, bevor sie hinzufügt: «Und du solltest niemals einfach wegrennen, wenn eine Situation brenzlig wird. Das war so ungefähr das Erste, was mein Vater mir beigebracht hat.»
«Snoops», wiederhole ich. «Der Puma heißt Snoops. Und er ist dein Freund.»
«Na ja.» Sie reicht mir eine Hand, weil ich nach wie vor zwischen den Büschen kauere. Langsam ergreife ich sie und lasse mich in die Höhe ziehen. Dass mein Herzschlag sich kaum wieder einkriegt, hat diesmal ausnahmsweise nichts mit ihr zu tun. «Er kommt jedenfalls dicht an einen Freund ran.»