JACKSON
D
er Mond steht mittlerweile hoch am Himmel, sein Licht zeichnet schimmernde Reflexe in den Fluss. Ruhig fließt er dahin – kaum vorstellbar, dass er sich nur wenige Meilen weiter in einen reißenden Strom verwandeln wird.
In der Feuerstelle glimmt es noch, das leise Knacken vermischt sich mit dem sanften Rauschen des fließenden Wassers. Ich lege den Kopf in den Nacken und versuche Sterne auszumachen, die dem weißen Mondlicht trotzen.
Dieser Moment bei den Wasserfällen – als wir uns ansahen und Haven nach meiner Hand griff –, das war wie der vorläufige Höhepunkt von etwas, auf das ich gewartet habe, seit sie am Horseshoe Lake aus dem Auto stieg.
Ich könnte behaupten, es sei wie jedes Mal, wenn man auf eine Frau trifft, die man extrem gutaussehend findet und die sich dann obendrein auch noch als interessant erweist. Wenn so etwas auf Gegenseitigkeit beruht, liegt es doch nahe, sich besser kennenzulernen, um herauszufinden, was alles drin sein könnte – meinetwegen etwas Kurzes, aber Intensives, vielleicht sogar etwas, das in eine längere Sache übergeht. Nach Lynn hatte ich einige Dates, und warum auch nicht? Wir waren fast drei Jahre zusammen, bevor sich gezeigt hat, dass wir doch nicht unbedingt das Traumpaar waren, für das uns alle hielten. Längere Beziehungen hatte ich allerdings nicht mehr, abgesehen von Stella. Sie ist auch die Einzige, bei der ich es im Nachhinein bereue, mich auf etwas eingelassen zu haben, aber es war wie bei Lynn: Jeder schien der Meinung zu sein, dass wir
perfekt zusammenpassen. Hätte Stella nicht auf dieser Party mit einem anderen rumgemacht, wäre ich vielleicht immer noch mit ihr zusammen.
Und jetzt Haven.
Der letzte Funke in der Glut erlischt, und im selben Moment wird mir bewusst, dass es sich falsch anfühlt, Haven in eine Reihe mit meinen bisherigen Beziehungen zu stellen. Alles, was passiert ist, seit ich gestern Morgen bei ihr an die Haustür geklopft habe, hat überhaupt nichts mit dem zu tun, wie Frauengeschichten sich bei mir sonst entwickeln.
Es ist nicht mal vergleichbar mit Lynn.
Nicht ansatzweise vergleichbar.
Es ist …
Beim Klingeln des Telefons fahre ich so heftig zusammen, dass ich mir fast den Nacken verrenke. Es übertönt den Fluss, es übertönt die Nachtgeräusche des Waldes, und ich kann es gar nicht hastig genug wieder zum Schweigen bringen.
Cayden. Wer sonst sollte es auch um kurz vor zwölf sein?
«Jax! Hör dir das an!»
«Was …?»
Stimmenfetzen und Musik und dann: «Jackson! Wir vermissen dich! Komm wieder nach Hause!»
Dem aufgekratzten Gelächter, das diese Sätze begleitet, folgt erneut Caydens Stimme, der offenbar bemüht ist, sein Handy wieder an sich zu bringen. «Okay, Finger weg … wenn du mit Jax reden willst, ruf ihn selbst an.» Kurz klingt es, als schabe das Smartphone eine Mauer entlang, dann ist er wieder in der Leitung. «Wir lieben dich, Mann, komm nach Hause!»
«Cay, was …»
«Wir liiiieben dich.» Wenn Cayden voll ist, lacht er immer viel zu laut, und ich halte das Handy ein Stück vom Ohr weg. «Was machst du gerade? Hab ich dich gestört?»
«Es ist mitten in der Nacht.»
«Aber du hast noch nicht geschlafen, oder? Jedenfalls nicht allein – oder doch? Bist du gerade einsam, Jax? Stella würde dich gern trösten.»
Was Stella dazu zu sagen hat, ist trotz der Musik und des Stimmengewirrs deutlich zu verstehen – «Cay! Du Idiot!» –, und wenn ich das richtig mitbekomme, scheint Cayden Mühe zu haben, sie davon abzuhalten, ihm das Telefon zu entreißen. Sein Gelächter beginnt mir auf die Nerven zu gehen. Ausgerechnet Stella. Cayden weiß ganz genau, dass es am Schluss echt mies zwischen uns gelaufen ist, und trotz dieser Geschichte auf der Party habe ich noch immer ein schlechtes Gewissen. Sie behauptet, sie habe mit dem Typen rumgemacht, weil ich sie seit Wochen nicht mehr beachtet hätte, und damit hat sie leider recht. Einfach nur bescheuert, sie in diese alberne Aktion reinzuziehen.
«Also, alles gut bei dir? War’s schön heute? Bäume und so? Mehr Bäume? Schick mal Fotos von Bäumen!»
«Cay, halt die Klappe. Ich leg jetzt auf, wir sehen uns am Samstag.»
«Du rennst da jetzt seit zwei Tagen rum, hast du nicht schon genug Bäume gesehen? Oder gibt’s auch Ameisen?»
«Mach’s gut, Cay.»
«Hey, schick mir doch keine Fotos von Bäumen, ja? Schick mir eins von dieser Rothaarigen! Liegt die gerade neben dir?»
Cayden, du Arsch. Bevor ich die Verbindung unterbrechen und damit auch sein Lachen beenden kann, bringt er noch einen halben Satz unter: «Die nimmt bestimmt die Pille nicht, du musst –»
Sicherheitshalber schalte ich das Smartphone gleich ganz aus.
Blickt man versehentlich in die Sonne, hat man eine ganze Weile Farbreflexe vor Augen, und genauso lang scheint es jetzt zu dauern, bis der Nachhall dieses dämlichen Telefongesprächs endlich wieder verfliegt.
Cayden ist schwer zu ertragen, wenn er betrunken ist, das war schon immer so. Er ist intelligent und witzig, aber wenn er was getrunken hat, haut es ihm irgendwann die Sicherungen raus, und seine Sprüche werden einfach nur mies. Und gnadenlos. In dieser Sekunde möchte ich am liebsten die Zeit zurückdrehen. Mit Sicherheit würde ich Caydens Anruf dann einfach wegdrücken.
Ich stochere die verkohlten Holzscheite auseinander, um ausschließen zu können, dass doch noch etwas glimmt, und mache mich dann auf den Weg zum Zelt. Es ist Caydens Schuld, dass ich mir dabei kurz vorstelle, wie Haven wohl aussähe, würde sie dort auf mich warten.
Verfluchter Cay.
Erst als ich in meinem Schlafsack liege und das gleichmäßige Rauschen des Flusses mich wieder beruhigt, gestehe ich mir ein, dass mich Caydens Bemerkungen vor allem deshalb ärgern, weil ich selbst bereits darüber nachgedacht habe, wie es wäre, Haven so nahe zu kommen.
Würde sie in diesem Moment neben mir liegen, den Kopf auf meiner Brust, sodass ich ihren Atem auf meiner Haut spüren könnte …
Nein, Caydens blöde Kommentare und das, was ich mir in diesem Zusammenhang vorstelle, haben kaum etwas miteinander zu tun. Trotzdem sollte ich aufhören, darüber nachzudenken.
Haven lebt hier, ich nicht.
Sie würde diesen Wald niemals verlassen, das hat sie mehr als deutlich gemacht, diesen Wald mit seinen … Kraftorten. Und ich wüsste nicht, was ich in einem Nationalpark Sinnvolles tun könnte, abgesehen von Urlaub.
Und aus diesem Grund wird zwischen ihr und mir nicht mehr passieren, als dass unsere Hände sich berühren … Dieses Gefühl, ihre Hand in meiner, werde ich mitnehmen, wenn ich am Samstag zurück nach Edmonton fahre. Alles, was darüber hinausginge, jede Berührung mehr, wäre einfach nur eine erbärmliche Aktion von mir.
Direkt neben dem Zelt zirpt ein Insekt, ein feiner, summender Ton, so beruhigend wie das Schnurren einer Katze. Meine Gedanken beginnen zu zerfließen.
Aber was spräche dagegen, hin und wieder hierherzufahren? Vielleicht an den Wochenenden? Ein angehender Anwalt mitten im Wald – es gibt bestimmt Verrückteres auf dieser Welt.