JACKSON
I rgendetwas hat sich grundlegend geändert. Gestern, beim Verabschieden, schien alles noch in Ordnung zu sein, jetzt jedoch läuft Haven mit gesenktem Kopf neben mir und hat noch kein einziges Mal gelächelt. Ich zermartere mir das Hirn, was passiert sein könnte. Habe ich etwas falsch gemacht? Gerade eben beim Abholen versehentlich was Blödes gesagt?
«Was ist los? Dir geht’s mies, warum?», frage ich irgendwann.
Ohne stehen zu bleiben, wendet Haven sich mir zu und schiebt dabei beide Hände in die Jackentaschen. «Wie gefällt dir dein Leben in Edmonton?»
«Wie bitte?»
«Wohnst du schon immer dort?»
«Ich bin … nein. Nein, ich bin dort hingezogen, als ich mit dem Studium begonnen habe. Warum …?»
«Wo hast du denn vorher gelebt?»
«In Saskatoon.»
«Warum hast du nicht dort studiert?»
«Mir war nach etwas Neuem», erkläre ich nach kurzem Zögern. Es gibt keinen wirklichen Grund, jetzt die Geschichte mit Lynn hervorzukramen.
«Bereust du es?»
«Was?»
«Nach Edmonton gezogen zu sein.» Bevor ich antworten kann, redet Haven weiter. «Vergiss es. Wieso solltest du es bereuen, du bist ja nur von einer Stadt in eine andere gezogen.»
Mich beschleicht eine erste Ahnung, worüber wir hier eigentlich reden. «Du überlegst, nach Edmonton zu gehen?»
«Vielleicht. Nur für eine Weile.»
Was habe ich gestern Abend noch gedacht? Haven würde diesen Wald niemals verlassen? Nun, da habe ich mich wohl getäuscht. In einem Anflug von Größenwahn schießt mir der Gedanke durch den Kopf, dieser plötzliche Sinneswandel könne etwas mit mir zu tun haben.
«Ich denke schon länger darüber nach», fügt Haven hinzu.
Okay, sie hat sich das nicht erst letzte Nacht überlegt, und sie wird mir als Nächstes wohl auch nicht gleich erklären, dass sie ohne mich nicht mehr leben kann.
Schade eigentlich.
Ich konzentriere mich auf Havens Worte, statt weiterhin idiotisches Zeug zu denken.
«Ich will auch nicht für immer weg», erklärt sie. «Aber zumindest mal für eine Weile. Ich dachte, ich könnte vielleicht in Edmonton studieren. Eine Art Gastsemester oder so.»
«Ja, warum nicht? Gute Idee», erwidere ich so neutral, wie mir das möglich ist.
Haven mustert mich aufmerksam. «Du findest die Idee wirklich gut?»
Ach, egal. Kein Taktieren, habe ich mir vorgenommen. Kein Ich rufe dich vielleicht mal an und kein oberflächliches Wir sehen uns  – in dieser Sekunde fällt mir kein einziger Grund ein, warum ich Haven gegenüber so tun sollte, als sei sie nur eine Option unter vielen.
«Ich würde mich freuen», erwidere ich daher. «Es würde mir das Zurückfahren am Samstag erleichtern.»
Den letzten Teil des Satzes habe ich mit einem leicht ironischen Unterton ausgesprochen, wie mir in der Sekunde klarwird, in der ich die Zweifel in Havens Augen sehe. Jahrelange Gewohnheiten legt man nicht so einfach ab.
«Das meine ich ernst», füge ich hinzu. «Es wäre wirklich schön.»
Trotz meiner Worte verschwindet die Anspannung in Havens Gesicht nicht völlig. «Ich weiß gar nicht, wie und wo ich anfangen soll. Ich bräuchte ein Zimmer, ich müsste mich einschreiben, ich bräuchte einen Job …»
«Einen Job?»
«Na ja, von irgendwas muss ich das Zimmer ja bezahlen.»
Sie könnte vielleicht bei Cayden und mir … das Haus wäre groß genug. Ich sehe Cayden grinsen und verwerfe diesen Gedanken wieder. Keine gute Idee. «Bei der Jobsuche könnte ich dir helfen», sage ich stattdessen. «Und ich kann dir auch erklären, wie man ein Zimmer im Studentenwohnheim beantragt.»
«Wohnst du dort?»
«Nein, ich wohne zusammen mit Cayden in der Nähe.»
Haven nickt. «Denkst du, es wäre möglich, sich so kurzfristig einzuschreiben?»
«Für dieses Semester? Das kannst du wohl eher vergessen. Aber du könntest dich fürs Sommersemester einschreiben und dich jetzt schon um alles kümmern.»
Haven in Edmonton – habe ich letzte Nacht versehentlich eine Sternschnuppe erwischt? Würde sie das tatsächlich durchziehen, hätten wir auf einmal Zeit, viel mehr Zeit, als ich bisher angenommen habe. Ich könnte ihr alles zeigen, ihr bei der Eingewöhnung helfen, wir würden uns besser kennenlernen und so weiter und so weiter.
Über und so weiter und so weiter denke ich noch nach, als Haven die Stille zwischen uns unterbricht. «Diesen See hier kennt fast niemand.»
In der letzten halben Stunde habe ich kaum auf unsere Umgebung geachtet. Überwiegend ging es sanft bergauf, und dass wir plötzlich aus dem Grün des Waldes heraustreten, überrascht mich fast so sehr wie der Anblick, der sich vor uns auftut. Der See ist nicht groß, und er wird auch nicht wie der Horseshoe Lake von beeindruckenden Klippen gesäumt, doch die Tannen stehen links und rechts bis dicht an das grasbewachsene Ufer, und das Wasser ruht so still, dass sich ihre Wipfel und auch die Wolken am kristallblauen Himmel darin spiegeln, weiß, blau, dunkelgrün. Mich ergreift das unwirkliche Gefühl, träte ich einen Schritt auf die glatte Wasseroberfläche, würde die Welt sich einmal kopfüber drehen, und ich befände mich in einem märchenhaften Spiegeluniversum.
«Er ist zu klein, um in den Reiseführern aufzutauchen, und zum Glück hat er sich auch noch nicht als Geheimtipp rumgesprochen. Er hat nicht mal einen Namen. Ich nenne ihn Silent Lake
«Wunderschön», murmele ich. Warum will Haven überhaupt nach Edmonton? Es gibt dort nichts, was einen solchen Anblick aufwiegen könnte.
Mein Verstand schaltet sich wieder ein. Haven will nach Edmonton, weil ihr der Kontakt zu anderen Menschen fehlt. Wir haben bisher nur kurz darüber geredet, aber wenn man als einen der engeren Freunde nur einen Puma angeben kann …
Ich trete einen Schritt näher an den See heran. Die Uferkanten fallen steil ab, und man kann bis auf den Grund hinabsehen. Mir wird schwindelig, und Haven, der das offenbar auffällt, greift nach meinem Arm. Es ist, als stünde ich am Rande einer Schlucht. Tief unter mir wiegen sich Pflanzen in einer Strömung, die die Oberfläche nicht erreicht. Mich packt der unwiderstehliche Drang, diese ganze Welt noch stärker in Bewegung zu bringen, und ohne weiter darüber nachzudenken, lasse ich den Rucksack von den Schultern gleiten. Haven lässt den Arm sinken, doch erst, als dem Rucksack meine Jacke folgt, beginnt sie zu ahnen, was ich vorhabe.
«Du willst da doch nicht reinspringen, oder?»
«Doch.»
«Das Wasser ist eiskalt. Kälter noch als der Horseshoe Lake!»
«Es gibt Leute, die springen in Eislöcher.»
«Das wäre durchaus vergleichbar.»
«Dann hab ich das zumindest auch mal gemacht.»
Sie lacht, und ich ziehe mir das Shirt über den Kopf. Ein kühler Lufthauch streift meinen Oberkörper. Während ich die Schnürsenkel öffne, um die Stiefel mitsamt den Socken auszuziehen, und gleich darauf die Jeans herunterstreife, gehe ich kurz durch, ob sich alles in meinem Rucksack befindet, was ich nach meinem Tauchgang gern vorfinden würde. Handtuch. Badehose. Mehr ist gar nicht nötig.
Ich verzichte darauf, die schwarzen Boxershorts, die ich trage, gegen die Badehose zu tauschen. Jetzt will ich einfach nur mit einem Kopfsprung die Grenze zwischen zwei Welten durchbrechen. Mit einem möglichst beeindruckenden Kopfsprung.
Haven steht ein paar Meter neben mir und sieht mir belustigt dabei zu, wie ich einige Schritte zurücktrete, um Anlauf zu nehmen. Sekunden später befinde ich mich in der Luft und – eine Milliarde Nadelstiche bringen mich um ein Haar dazu, unter Wasser heftig einzuatmen. Gottverdammt, es ist wirklich kalt! Warum liegt keine zentnerschwere Eisdecke auf dem See? Meine Hände und Füße werden taub, und ich zwinge meinen Körper, sich zu bewegen, bevor ich wie ein Stein untergehe. Dann reiße ich die Augen auf und erstarre erneut.
Verfluchte Scheiße.
Das ist … Fliegen. Ich fliege. Über ein grasbewachsenes Tal, tief, tief unter mir. Silbrige Pfeile zischen davon, aufgeschreckt durch den unerwarteten Eindringling in ihrem Reich. Mit ausgebreiteten Armen treibe ich zwischen Himmel und Erde, und erst als meine Lungen immer deutlicher zu protestieren beginnen, bequemt mein Hirn sich zu der Feststellung, dass ich mich mittlerweile ein gutes Stück unter der Wasseroberfläche befinde und außerdem Arme und Beine kaum mehr spüre.
Hastig arbeite ich mich zurück nach oben und scheine dafür sämtliche Energie zu verbrauchen. So gern ich noch länger dieses Gefühl genießen würde, vogelgleich über allem zu schweben – es ist einfach verdammt noch mal viel zu kalt dafür.
Auf Havens Gesicht entdecke ich einen Anflug von Sorge, während ich zum Ufer schwimme, und dankbar ergreife ich die Hand, die sie mir reicht, um mir beim Herausklettern zu helfen. Obwohl es außerhalb des Wassers um einiges wärmer ist, haben die wenigen Minuten gereicht, mich derart auszukühlen, dass mir die Zähne gegeneinanderschlagen. Handtuch. Zitternd mache ich mich an meinem Rucksack zu schaffen.
«Ich hab kurz gedacht, du hättest einen Schock oder so was», höre ich Haven hinter mir.
Das Handtuch um die Schultern gewickelt, drehe ich mich zu ihr um.
«Es sah aus … du hast dich plötzlich überhaupt nicht mehr bewegt.»
«Nein, alles in Ordnung», erwidere ich. «Es war nur … unfassbar. Unglaublich.»
In ihren Augen schimmert Verständnis. Ob sie auch schon mal in diesen See gesprungen ist? Sofort sehe ich Haven nixengleich im Wasser schweben, das rote Haar umweht sie wie ein Schleier.
Sie tritt einen Schritt auf mich zu, ich weiß nicht, warum. Will sie sich vergewissern, dass mit mir alles in Ordnung ist? Ist es noch immer Sorge, die dazu führt, dass ihre Fingerspitzen jetzt zart meine Hand berühren, mit der ich das Handtuch festhalte? Dass sie noch einen Schritt näher kommt, bis ich beinahe die Wärme ihres Körpers spüren kann?
Das hier ist einer der Momente, in denen ich aus ihrem Gesicht nicht herauslesen kann, was sie gerade denkt, doch als ihr Blick sich hebt und das Tannengrün sich in ihren grauen Augen wiederzufinden scheint, senke ich langsam den Kopf.