JACKSON
«I st das dein Ernst? Hör mal, am Samstagabend ist Kaylees Geburtstag, und du hast gesagt, du bist dabei.»
Die späte Nachmittagssonne lässt Schatten auf der Straße tanzen, nur das dumpfe Geräusch meiner Schritte auf Asphalt ist zu hören. Seit geraumer Zeit wandere ich auf der verblassten gelben Mittellinie entlang, Autos sind mir bisher keine begegnet, und alles könnte so friedlich sein, wenn ich Cayden nicht gerade angekündigt hätte, erst am Sonntag zurückfahren zu wollen.
«Weiß ich. Aber …»
«Jax, was zum Teufel willst du denn noch einen Tag länger in der Wildnis? Wo sollen wir denn so schnell einen Ersatz für dich hernehmen? Es war schließlich auch deine Idee.»
Cayden hört sich genauso angefressen an wie immer, wenn etwas nicht so läuft, wie er sich das vorgestellt hat, und in diesem Fall übertreibt er nicht einmal. Wir haben gemeinsam überlegt, womit wir Kaylee an ihrem Geburtstag überraschen könnten, und letztlich war das Geburtstagslied tatsächlich mein Vorschlag. Völlig bescheuert, aber abgemacht ist abgemacht.
«Vergiss es einfach wieder», sage ich. «Ich komme.»
«Was soll denn überhaupt diese plötzliche Naturverbundenheit?» Cayden ist noch nicht besänftigt. «Erst beschließt du, mit der Tour ohne mich weiterzumachen, und jetzt erklärst du mir, du kommst nicht zu Kaylees Party.»
«Ich hab doch gesagt, ich werde da sein.»
Cayden schnaubt. «Komm schon – du läufst doch nicht einfach nur den ganzen Tag im Wald rum, oder? Hat dich die Kleine etwa immer noch nicht rangelassen?»
Ich unterdrücke ein Seufzen. Cayden hat ein geradezu unheimliches Gespür für die Schwingungen zwischen zwei Leuten, nur leider ist er eben auch ein unsensibler Arsch. Natürlich ist ihm aufgefallen, wie ich Haven auf dem Parkplatz beim Horseshoe Lake angestarrt habe, und ganz egal, wie oft ich es abstreite, er würde mir nicht glauben.
«Wann soll ich da sein?», übergehe ich seine Frage.
«Chase und Dylan kommen gegen sieben. Wir nehmen Dylans Wagen, er ist dran mit Fahren.»
«Alles klar.»
«Bring das Waldmädchen doch mit. Wird bestimmt lustig. Die hat garantiert noch nie Alkohol getrunken.»
«Sie heißt Haven», erwidere ich steif, weil es mich zu nerven beginnt, dass Cayden so hartnäckig an diesem Thema festhält. «Und lass es jetzt einfach gut sein, ja?»
«Stella würde sich bestimmt freuen, sie kennenzulernen», stichelt Cayden jedoch fröhlich weiter. «Nun sag schon: Wie weit bist du bei ihr gekommen? Wetten, die ist nirgendwo rasiert?»
«Cayden, halt endlich dein blödes Maul!»
Am anderen Ende höre ich ihn lachen. «Jax …»
«Ich mein’s ernst, Cay. Hör einfach auf.»
«Hey, entspann dich. War doch nur ein Spruch», lenkt Cayden ein. «Du bist doch sonst nicht so schnell angepisst. Also dann, wir sehen uns Samstag.»
«Ja, bis Samstag», erwidere ich, nicht wirklich versöhnt.
«Stella freut sich übrigens auf dich. Sie hat zu Kaylee gesagt, sie wünschte, sie hätte nicht mit diesem Typen rumgemacht … wie hieß der noch gleich?»
«Ist doch völlig egal. Das mit Stella und mir lief schon vorher nicht besonders, und das weißt du auch.»
«Sieht sie anders. Überleg’s dir doch noch mal. Sie ist echt in Ordnung. Außerdem wüsste ich nicht, wer zur Zeit heißer wäre als sie. Abgesehen von Kaylee natürlich», fügt er hinzu.
«Hat Kaylee gesagt, du sollst mit mir reden?», frage ich plötzlich misstrauisch.
«Nein! Also, nicht direkt. Sie meinte nur, Stella würde sich ständig bei ihr ausheulen, und ich solle zusehen, dass ich dich wieder auf Spur bringe.»
Typisch Kaylee. Sie selbst würde sich nie auf eine ernsthafte Beziehung einlassen – und passt damit perfekt zu Cayden –, aber was die Beziehungen anderer betrifft, mischt sie nur zu gern mit. «Cayden …»
«Hab ich hiermit getan, alles Weitere überlasse ich dir. Was hast du morgen vor?»
«Mal sehen», rudere ich Caydens plötzlichem Themenwechsel hinterher. «Wir haben noch nichts Genaues geplant.»
«Wir?»
Ergeben schließe ich in Erwartung einer neuen, anzüglichen Bemerkung die Augen, doch Cayden lacht nur, und es klingt nicht einmal sonderlich gehässig. «Dann viel Spaß noch.»
«Danke.»
«Benutz auf jeden Fall ein Gummi.»
Er beendet die Verbindung, bevor ich auf diese Bemerkung reagieren kann. Während ich das Telefon zurück in die Jackentasche schiebe, atme ich einmal tief durch. Sollte ich es verhindern können, wird Haven niemals bei einer von Caydens Partys auftauchen. Und es ist ja nicht nur Cayden – nehmen wir nur Stella. Beide Eltern Designer, die Mutter Mode, der Vater Innenarchitektur. Stellas Stil ist lässig, ihrer Mutter zum Trotz, deren Schwerpunkt auf Haute Couture liegt, aber diese Lässigkeit ist nicht im Entferntesten vergleichbar mit den Klamotten, die Haven trägt. Ich sehe Stellas spöttischen Blick bereits vor mir.
Rechts am Straßenrand taucht das Schild auf, das auf den Wabasso-Campingplatz hinweist, und wenige Minuten später erreiche ich die Abzweigung. Das Kassenhäuschen ist nicht mehr besetzt, Aaron hat offenbar heute früher Feierabend gemacht.
Die Sonne steht bereits tief, als ich bei meinem Zelt ankomme. Als Erstes krame ich eine Packung Spagetti aus dem Rucksack und setze einen Topf Wasser über dem Campingkocher auf. Heute dauert es eine Weile, bis ich ein Feuer in Gang bringe, doch als ich endlich mit zu weichen Nudeln an der Feuerstelle sitze, schiebe ich Cayden, Stella und alle damit verbundenen Bedenken zur Seite.
Haven wird in Edmonton ja nicht allein sein – ich bin auch noch da. Abgesehen davon vergeht noch ein Dreivierteljahr bis zum nächsten Sommersemester. Mit Stella werde ich die Situation bis dahin hoffentlich geklärt haben, und was Cayden betrifft: Wir kennen uns, seit ich ihn in meinen ersten Wochen am Rutherford kennengelernt habe und er mir das freie Zimmer in seinem Apartment angeboten hat. Das ist über drei Jahre her, mittlerweile würde ich ihn zu meinen engeren Freunden zählen. Auch wenn es ihm schwerfällt – es wird ihm sicher gelingen, einfach mal seine Klappe zu halten.
Mir wird plötzlich bewusst, dass ich mir Gedanken über ein Szenario mache, das noch ein halbes Jahr in der Zukunft liegt, obwohl ich Haven vor nicht einmal einer Woche erst kennengelernt habe. Aber nach dem Tag heute am Silent Lake … in den nächsten Monaten werde ich an so vielen Wochenenden wie möglich in den Jasper National Park kommen, nehme ich mir vor.
Ich strecke mich neben dem gemütlich flackernden Feuer lang im Gras aus und blicke in den mittlerweile nachtblauen Himmel.
Früher hat mir meine Nanny oft aus einem Kinderbuch vorgelesen. Es ging um einen Jungen, der von zu Hause fortlief, um Seeräuber zu werden. Als er das erste Mal draußen schläft, leuchtet ein Stern nach dem anderen am Himmel auf.
Hier dagegen ist es, als habe jemand eine Million Sterne quer übers Firmament gekippt – hundert Nächte würden nicht reichen, um einen Stern nach dem anderen aufleuchten zu lassen.
Ich wünschte, Haven wäre hier. Genau jetzt, neben mir, und ihre Hand läge in meiner.