JACKSON
D as Zelt liegt bereits abgebaut und fest zusammengerollt zu meinen Füßen. Gerade bin ich dabei, den ganzen Kleinkram im Rucksack zu verstauen, was mir wesentlich leichter fällt als vor der Abreise, weil ein guter Teil der mitgebrachten Nahrungsmittel keinen Platz mehr beansprucht.
Die Vorstellung, heute Abend nicht mehr hier am Fluss zu sitzen, sondern auf Kaylees Geburtstagsfeier abzuhängen, löst nicht gerade Glücksgefühle in mir aus. Am liebsten würde ich nicht nur einen Tag länger bleiben, sondern gleich eine ganze Woche. Noch besser einen Monat. Vielleicht wäre ich dann so weit, wieder zurückzufahren.
Es ist schon verrückt. Haven kann es anscheinend gar nicht schnell genug gehen, und ich würde alles gern hinauszögern. Allerdings gibt es auch wenig, auf das ich mich freue. Auf die ersten Seminare und Vorlesungen am Montag könnte ich verzichten.
Ein Signalton lässt mich zum Smartphone greifen.
Bist du schon unterwegs?
Cayden. Macht sich offenbar Sorgen, ich könne es mir noch einmal anders überlegen.
Hab gerade gepackt.
Sehr gut, bis nachher!
Zwanzig Minuten später habe ich alles zusammengeschnürt, mich erst vom Fluss und dann von Aaron verabschiedet und befinde mich zum letzten Mal auf dem Weg zu Haven. Viel Zeit bleibt uns heute nicht. Obwohl wir vereinbart haben, dass sie mich nach Jasper fährt, muss ich von dort aus gegen zwei los, um pünktlich auf Kaylees Party aufzuschlagen. Ich bin früh aufgestanden, trotzdem ist es bereits kurz vor zehn, als ich endlich an die Tür der Rangerhütte klopfe. Schritte sind zu hören, schwerere Schritte als gewöhnlich, und in der Sekunde, in der mir das auffällt, erscheint Havens Vater im Türrahmen.
«Hallo», begrüße ich ihn automatisch, und mir fällt ein, dass ich vor einigen Tagen Haven gegenüber behauptet habe, ich sei nur vorbeigekommen, um mich bei ihm zu bedanken. Das habe ich nie getan, denn ich habe ihn seitdem nicht mehr gesehen. Jetzt jedoch steht er vor mir und hat meine Begrüßung bisher lediglich mit einem knappen Nicken erwidert.
«Bis nachher, Dad.» Haven drängelt sich an ihm vorbei zur Tür hinaus. Sie fasst nicht nach meiner Hand, selbst dann nicht, als wir die Lichtung überquert haben und der Wald uns vor den Blicken ihres Vaters verbirgt. Müsste ich einen Tipp abgeben, würde ich annehmen, Havens Vater habe mir gerade stillschweigend zu verstehen gegeben, dass ich die Finger von seiner Tochter lassen soll.
«Ich dachte mir, wir könnten noch einmal zum Silent Lake gehen, wenn du magst?», fragt Haven.
Der stille See. Dort, wo alles angefangen hat. Nein, eigentlich ist das nicht richtig. Zumindest für mich hat irgendetwas bereits begonnen, als ich Haven zum ersten Mal gesehen habe.
«Jackson?»
«Mh?»
«Hast du Lust? Noch mal zum Silent Lake zu gehen? Es ist nicht weit, von der Zeit her würde es reichen.»
«Klar.»
«Du könntest deinen Rucksack einfach hierlassen. Oder ist etwas drin, das du am See brauchst?»
«Gute Idee.» Ich lasse den schweren Rucksack vom Rücken gleiten. Ohne wandert es sich definitiv entspannter.
«Vielleicht brauchst du eine Badehose?»
Überrascht werfe ich Haven einen Blick zu. «Ich weiß nicht – brauche ich?»
Sie zuckt mit den Schultern. «Ich trage einen Badeanzug drunter», erwidert sie und lächelt.
Kurz darauf habe ich meine Badehose und ein Handtuch in Havens kleinen Rucksack gestopft. Als wir weitergehen, greife ich nach ihrer Hand, statt weiter darauf zu warten, dass sie das tut, und genieße das Gefühl ihrer Finger, die sich mit meinen verschränken.
Den restlichen Weg über erlaube ich keinem störenden Gedanken den Weg in meinen Kopf. Da sind nur noch der satte Geruch von Erde, Tannen und modrigem Holz, das Wispern von Blättern, wenn wir uns einen Weg durch das mitunter dichte Unterholz bahnen, und gelegentlich ein hektisches Rascheln, irgendein unsichtbares Tier, das aufgeschreckt das Weite sucht.
Und natürlich Havens warme Hand in meiner.
Der plötzliche Anblick des Sees, der sich vor uns auftut, löst die gleiche Ehrfurcht in mir aus wie beim letzten Mal. Seine Oberfläche ist wie Glas, ein Bergkristall, in dem die Bäume und der Himmel eingeschlossen wurden. Heute spiegeln sich darin keine Wolken, die Tannenwipfel ragen schwarz und majestätisch vor einem azurblauen Hintergrund empor.
Haven tippt mir auf die Schulter, und die Tatsache, dass der Anblick des Sees schlagartig unwichtig wird, sagt vermutlich einiges aus. Ihre Jeans, die Stiefel und das Shirt liegen achtlos übereinandergeworfen hinter ihr, und ihr schwarzer Badeanzug ist mit absoluter Sicherheit das Gegenteil von jedem sexy Bikini, den ich jemals gesehen habe, aber – verflucht noch mal!
«Wollen wir?»
Auffordernd nickt sie zum Wasser hin, und ich weiß noch genau, dass es nicht nur lichtklar, sondern auch schockierend kalt war, trotzdem zerre ich mir das Shirt über den Kopf. Haven dreht sich um, während ich meine Badehose aus ihrem Rucksack krame – die helle Boxershorts, die ich heute Morgen angezogen habe, ist eindeutig nichts für einen gemeinsamen Sprung in einen See.
«Okay», sage ich kurz darauf.
Wir stehen nur wenige Schritte vom Ufer entfernt, und Haven rennt einfach los. Ich habe gerade noch Zeit, ihren eleganten Kopfsprung zu bewundern, bevor ich mich selbst in Bewegung setze.
Diesmal bin ich vorbereitet – dachte ich. Doch der Schock beim Eintauchen macht unmittelbar deutlich, dass ich wohl verdrängt habe, wie verflucht kalt dieses Wasser ist. Ein Wunder, dass ich noch Arme und Beine bewegen kann, statt der Temperatur angemessen in einem Eisblock eingefroren zu sein.
Dann öffne ich die Augen, auf der Suche nach Haven, und sie schwebt direkt vor mir, das rote Haar eine Wolke, die um ihren Körper herumwirbelt. Ganz kurz vermischen sich in meinem Kopf Traum und Wirklichkeit. Auch sie hat die Augen geöffnet, das feine Lächeln auf ihrem Gesicht lässt mich wünschen, ich könnte dieses Bild für die Ewigkeit in mir einbrennen, und vielleicht geschieht das tatsächlich in diesem Augenblick.
Sie schwimmt auf mich zu und zieht mich mit sich, und als wir auftauchen, schlingt sie ihre Arme um meinen Hals. Ihre Lippen berühren meine, und als ich sie leicht öffne, tut Haven es mir nach. Ich spüre ihre Zungenspitze an meiner Oberlippe, zaghaft, vorsichtig. Es ist kein leidenschaftlicher Kuss, kein Kuss, der auf mehr abzielt, es ist ein unbeholfener, ein ungeschickter Kuss, bei dem unsere Nasen im Weg sind und unsere Zähne irgendwann gegeneinanderstoßen, und er setzt mich völlig und absolut und zutiefst in Brand.
Nichts hasse ich in diesem Moment mehr als die Tatsache, dass mein verweichlichtes Hirn erklärt, es werde bei gefühlten minus zwanzig Grad demnächst jede körperliche Aktivität einstellen.
Haven schlägt die Augen auf, als ich mich zurückziehe, und ihr Lächeln kehrt zurück, während sie einen Finger auf meine Lippen legt.
«Du siehst ziemlich blau aus», sagt sie.