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HAVEN
I ch habe Jackson bei seinem Wagen abgesetzt und war einen Moment lang glücklich, «Bis bald» zu ihm sagen zu dürfen. Weder ihm noch mir waren die vorübergehenden Leute wichtig, während wir uns zum Abschied küssten. Der weiche Stoff seines Shirts unter meinen Händen und das Kratzen seiner Bartstoppeln auf meiner Haut … Jackson überließ mir das Tempo, seine Umarmung war nachgiebig und behutsam.
Auf der Heimfahrt frage ich mich plötzlich, ob er es nicht aufregender finden würde, eine Frau zu küssen, die mehr Erfahrung hat. Eine, die weiß, wo sie ihre Hände hinlegen soll, und die … ich weiß nicht … irgendwie wilder ist, sodass er seine Zurückhaltung aufgeben dürfte. Würde ich mich ihm stärker entgegendrängen, ihn heftiger küssen …
Ich bin so weit vom Gas heruntergegangen, dass ich beinahe Schritttempo fahre. Vermutlich eine gesunde Reaktion – die Geschwindigkeit meinem Herzschlag anzupassen wäre jedenfalls unklug.
Entschlossen lenke ich meine Gedanken auf etwas anderes. Eine Woche. Mir bleibt noch eine knappe Woche, um mich von allem zu verabschieden. Von Snoops, von Gracie, von meiner Wapitiherde, vom Garten. Vom Wald. Von Nate. Von Dad.
Ach, Dad.
Ich tippe das Gaspedal an.
Dass mein Vater jemals der Grund dafür sein könnte, gehen zu wollen. Ausgerechnet der Mensch, bei dem ich mich immer geborgen gefühlt habe. Und jetzt?
Abrupt bremse ich den Wagen erneut ab und halte am Straßenrand.
Ich muss mit ihm darüber reden, aber ich habe Angst davor. Ich will einfach nicht hören, dass er … egoistisch genug war, mich von meinem früheren Leben abzuschneiden. Das kann er nicht wiedergutmachen. Ich kann es ihm nur irgendwann verzeihen. Hoffentlich.
Mir ist plötzlich danach, den Wald um mich herum zu spüren, und ich reiße die Wagentür auf. Minuten später sind nur noch Bäume um mich herum, und ich gehe weiter, ohne genau zu wissen, wo ich überhaupt bin. Erst nach und nach beginne ich, mich zurechtzufinden. Viele sagen, der Wald sehe überall gleich aus, weshalb es auch so einfach sei, sich darin zu verirren. Doch das stimmt nicht, natürlich nicht. In diesem Teil des Waldes umwuchern Büsche und Sträucher die mächtigen Stämme nicht so dicht wie anderswo, und es gibt unzählige winzige Lichtungen, auf denen nur weiches Moos wächst. Wenn man sich inmitten einer dieser Lichtungen auf den Rücken legt, scheint der Himmel am Ende eines grün schimmernden Tunnels zu leuchten. Ich bilde mir oft ein, ich könne einfach ins Blau hineinlaufen. Als ich mich heute hinlege und in den Himmel sehe, gelingt es mir jedoch nicht. Zu viel hält mich gerade auf dem Erdboden fest, und irgendwann schließe ich die Augen.
Das Flattern in mir, sobald ich an Jackson denke, vermischt sich mit der aufsteigenden Unruhe bei dem Gedanken, den Wald zurückzulassen; das dumpfe Gefühl von Verlust und Trauer mit der Aufregung, in Edmonton auf einen Teil meiner Familie zu treffen. Ob Caroline meiner Mutter wohl ähnlich ist? Vielleicht entdecke ich etwas von Mum in ihr wieder.
Unter mir die zarten Moospflänzchen, die dicht aneinandergekuschelt einen nachgiebigen Teppich bilden, und darunter die tiefschwarze Erde, durchdrungen von unendlichem Wurzelgeflecht, ein Netz, durch das ich niemals hindurchfallen könnte und das alles an seinem Platz hält. Die Bäume, das Buschwerk, zarte Halme und mich. So viel Stärke in allem um mich herum.
Mein Herzschlag wird ruhiger, die Anspannung lässt nach, und ich spüre sogar endlich so etwas wie Vorfreude, eine andere Art von Aufregung. Neugier und Abenteuer und die Lust, etwas Neues zu erleben.
Das alles hier wird auf mich warten, wann auch immer ich zurückkehren werde. Ich habe mich im Wald nie ängstlich gefühlt, selbst wenn ich mal nicht mehr wusste, wo ich war, weil ich mich zu weit in noch unbekannte Bereiche vorgewagt hatte. Immer gab es da diese tiefe Gewissheit, in Sicherheit zu sein, und dieses Gefühl breitet sich auch jetzt in mir aus, zumindest für eine kleine Weile, in der das Wirrwarr in meinem Kopf langsam zur Ruhe kommt.
Übrig bleibt – Jackson.
Jedes Mal, wenn wir uns küssen, liegt vorher ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen, kaum wahrnehmbar, fast nur eine Ahnung. Dieses Lächeln gibt mir immer das Gefühl, dass Jackson mich gern ansieht, dass er sich danach sehnt, mir noch etwas näherzukommen. Er schließt erst im letzten Moment die Augen, als wolle er noch möglichst viel mit allen Sinnen aufnehmen, und wenn sein Gesicht so nah vor meinem ist, dass ich seinen Atem spüre, ist das vergleichbar mit dem Gefühl, vom Wald getragen zu werden. Es ist vergleichbar in seiner Kraft und doch völlig anders, es ist … es ist …
Ich öffne die Augen, und der Himmel scheint mir entgegenzufallen.