20
HAVEN
«S
ie ist langweilig. Und peinlich. Du müsstest sie mal sehen. Wie sie sich bei meiner Mutter einschleimt. Genau die Traumtochter, die Mum sich immer gewünscht hat.»
Lucys Zimmer liegt meinem gegenüber, und trotz der geschlossenen Tür kann ich jedes Wort verstehen. Gerade habe ich unten in der Garderobe meine Jacke auf einen überladenen Haken gehängt und bin, in Gedanken noch immer bei meinem letzten Seminar, die Treppe hinaufgestiegen, als die Worte meiner Cousine mich unmittelbar vor meiner eigenen Zimmertür erstarren lassen.
«Ach, es geht einfach die ganze Zeit nur so ‹Ja, Caroline› und ‹Aber sicher, Caroline› und ‹Wie hättest du es denn gern, Caroline?› – bei ihr kann Mum einen auf tolle Psychologin machen, die dem armen Mädchen aus dem Wald bei der Eingewöhnung hilft. Wenn ich das schon höre, Eingewöhnung. Das letzte Mal, als ich eine Eingewöhnungszeit hatte, kam ich in den Kindergarten.»
Lucy lacht. Meine Hand, mit der ich den Türgriff nach unten drücken wollte, sinkt herab. Ich sollte nicht weiter zuhören. Erstens ist es nicht okay, jemanden zu belauschen, und zweitens … und zweitens …
«Ja, sie hat ihr ganzes Leben in einem Wald gewohnt, ganz allein, stell dir das mal vor. Wahrscheinlich ist sie da nackt rumgelaufen
oder hat sich ein Fell umgehängt.»
Und zweitens tut es wirklich weh.
Die nächsten Sätze bringt Lucy vor lauter Lachen kaum verständlich hervor.
«Ihre Klamotten – oh scheiße, wenn du die sehen könntest! Die läuft rum … ey, das würde ich nicht mal nachts auf dem Weg zum Klo anziehen! Und die Schuhe! Das ganze Zeug sieht aus, als hätte sie es aus irgendeiner Tonne gezogen. Und zwar vor zwanzig Jahren. Aber meine Mutter meint, wir sollen die arme Haven nicht verunsichern, sie würde schon von selbst irgendwann merken, dass sie scheiße aussieht … nein, genau so hat sie es natürlich nicht gesagt.»
Mehr geht nicht. Mehr will ich nicht wissen. Meine Finger rutschen vom Türgriff ab, erst beim zweiten Versuch gelingt es mir, die Tür einen Spalt weit zu öffnen und sie dann hinter mir lautlos wieder zu schließen. Ein paar Sekunden lang stehe ich da und starre auf meine zitternden Hände, bevor ich mich an der Tür nach unten rutschen lasse.
Ich wollte wissen, was Lucy gegen mich hat – nun, jetzt weiß ich es. Und es trifft mich mit einer Wucht … die ganze Zeit hat es mich verunsichert, dass Lucy mich so offensichtlich nicht mochte, aber zu hören, dass sie mich peinlich findet und dass sie denkt, ich biedere mich bei Caroline an, und … und …
Mühsam stemme ich mich in die Höhe und öffne die Tür des Kleiderschranks. In einer der hohen Türen ist ein Spiegel in das dunkle Holz eingelassen, und zum allerersten Mal in meinem Leben stelle ich mich davor, um herauszufinden, was mit mir denn nicht stimmt. Meine Kleider. Was ist mit meinen Kleidern? Sie sind … normal, oder? Einfach nur Jeans und ein T-Shirt. Okay, die Jeans ist kaputt, aber ist das schlimm? Ist es
das, was Lucy stört? In der Uni habe ich jede Menge Leute mit kaputten Jeans gesehen, wo ist denn da der Unterschied? Und das T-Shirt … es ist weiß, vielleicht ist es über die Jahre auch ein wenig grau geworden, aber es ist sauber und … meine Schuhe …
Es sind dunkelgraue Wanderstiefel, an der Seite haben sie türkisfarbene Verzierungen, so Schnörkel oder keine Ahnung, wie ich das nennen soll. Die sind doch einfach nur … normal. Oder? Oder warum sind sie es nicht?
Fast möchte ich rüber in Lucys Zimmer laufen und sie fragen, warum sie meine Kleidung nicht mag. Was um alles in der Welt daran falsch ist. Und warum es überhaupt eine Rolle spielt, das T-Shirt von jemandem nicht zu mögen. Es ist doch nur Stoff, wieso ist das offenbar so wichtig?
Lucys Freundinnen haben über mich gelacht. Und heute in der Uni haben sich immer wieder Leute nach mir umgedreht … ich dachte, das sei, weil ich eben neu bin, und jetzt erst wird mir klar, wie bodenlos naiv dieser Gedanke ist. Dreißigtausend Studenten – kein Mensch dort ahnt auch nur, dass ich heute zum ersten Mal das Universitätsgelände betreten habe. Sie haben mich gemustert, weil meine Kleider … alt sind. Schäbig. Unmodern. Weil ich aussehe, als hätte ich die Sachen … wie sagte Lucy das gerade? … aus einer Mülltonne gezogen.
Am liebsten möchte ich auf der Stelle alles, was ich anhabe, tatsächlich in den Abfall befördern. Und den kompletten Inhalt meines Kleiderschranks direkt hinterher.
Ich wünschte, Caroline hätte
etwas gesagt, statt darauf zu hoffen, dass ich es schon selbst irgendwann mitbekomme.
Und warum hat nicht wenigstens Jackson das getan? Weil er es nicht für wichtig hält? Oder findet er auch, dass ich furchtbar aussehe? Peinlich?
In etwa zwei Stunden ist er da. Ich könnte ihn fragen, aber alles in mir sträubt sich dagegen. Ich weiß selbst nicht so genau, warum. Es ist nicht so, dass ich erst einmal in Ruhe darüber würde nachdenken wollen. Im Gegenteil, ich habe das Gefühl, seine Meinung zu brauchen – und trotzdem. Ich kann und werde ihn nicht fragen, ob er auch findet, dass ich … scheiße aussehe.
Mich erschüttert vielleicht am meisten, dass ich am liebsten heulen würde, nur weil Lucy mein Äußeres nicht mag. Sie kennt mich gar nicht, sie weiß nicht, wer ich bin, aber sie mag mich trotzdem nicht, weil ihr meine Kleider nicht passen. Das hakt doch. Dieser ganze Gedanke hakt doch.
Ich schlage die Tür des Kleiderschranks zu und greife nach meinem Rucksack.
Egal. Egal, ob das hakt oder ob ich es nur nicht verstehe – ganz bestimmt werde ich mich nicht Tag für Tag von allen anglotzen und auslachen lassen. Ich gehe einkaufen. Sofort.
Ein paar Klicks später weiß ich, wie ich zur Southgate Mall komme, und ich fühle mich wieder ansatzweise souverän, als es mir tatsächlich gelingt, an der richtigen Haltestelle auszusteigen. Leider hält dieser Zustand nicht sehr lange an.
Das Einkaufscenter ist größer als das, wo ich mit Jackson essen war, doch eigentlich spielt das überhaupt keine Rolle, versuche ich mich zu beruhigen. Ich habe ja nicht vor, es komplett zu besichtigen. Ich brauche nur einen Laden, in dem ich ein paar neue Kleider kriege.
Trotzdem bin ich aufgeregt, als ich mich ins Innere des riesigen Gebäudekomplexes wage. Vorgestern bin ich einfach Jackson nachgelaufen, und hätte ich ihn verloren, wäre ich ziemlich lange damit beschäftigt gewesen, wieder zurück zum Haus von Caroline zu finden.
Aber ich hätte
zurückgefunden. Mit Sicherheit.
Ich strecke den Rücken durch und marschiere los, an Säulen, Rolltreppen und hell erleuchteten Schaufenstern vorbei. In hohen Glasvitrinen mitten in den Gängen stehen Schaufensterpuppen, die so seltsame Kleider tragen, dass ich mich frage, wer um alles in der Welt das anziehen würde, und erst als ich an einer Vitrine vorbeikomme, in der man die Puppen in Kleider aus echten Blumen, Blättern und Papierrosen gehüllt hat, wird mir klar, dass es sich dabei wohl um Kunst handeln soll. Allerdings scheint außer mir niemand darauf zu achten. Es gibt hier so unglaublich viele Leute. Die Gänge sind voll, auf grauen Ledersofas sitzen Frauen, unterhalten sich oder halten Smartphones in den Händen. Neben sich haben sie so viele Tüten abgestellt, dass ich mich frage, ob sie gerade ihren jährlichen Großeinkauf erledigt haben.
Ich wünschte, Jackson wäre bei mir. Auch wenn ich es ihm immer noch übelnehme, dass er mir nicht gesagt hat, wie ich in meinen Klamotten auf andere wirke. Zumindest hier in Edmonton. In Jasper hat das nie jemanden gestört. Glaube ich.
Inmitten all dieser Menschen, die mit eiligen Schritten an mir vorüberhasten, fühle ich mich seltsam allein. Nein, nicht allein – einsam. Denn ich bin ja gerade alles, aber mit Sicherheit nicht allein. Zu Hause im Wald war ich meistens allein, doch das war in Ordnung. Wenn niemand da ist, ist das eben so. Muss man allerdings ständig
Leuten ausweichen, und gefühlt jeder Zweite wirft einem abfällige Blicke zu … aber vermutlich stimmt das gar nicht.
Ich bilde mir das ein. All diese Menschen interessieren sich überhaupt nicht für mich. Sie wollen hier nur einkaufen, und wenn ich aus vereinzelten Gesichtern doch Spott herauszulesen meine, bin ich ja in diesem Augenblick dabei, den Grund dafür zu eliminieren.
Vielleicht hätte ich auf Caroline warten und ihr Angebot, gemeinsam einzukaufen, annehmen sollen.
Nein.
Verdammt noch mal, nein! Ich bin mein ganzes Leben lang sehr gut ohne Hilfe zurechtgekommen, da werde ich es doch wohl schaffen, mir selbständig eine neue Hose und zwei, drei Shirts zu kaufen.
Mehr trotzig als wirklich entschlossen, betrete ich den erstbesten Laden, der nicht ganz so überfüllt zu sein scheint.
Wie funktioniert das jetzt hier? Langsam streife ich an Regalwänden und Kleiderstangen vorbei und beobachte dabei heimlich die anderen Kunden. Darf man die ordentlich gefalteten Sachen aus den Fächern ziehen? Wie finde ich heraus, ob mir etwas passt? Darf man alles anprobieren? Bestimmt darf man das, nur wo?
Es dauert nicht lange, bis ich all diese Fragen für mich beantwortet habe. Sehr viel schwieriger gestaltet es sich, etwas zu finden, das mir gefällt.
Will ich ein lila Shirt anziehen, auf dem in fetten Buchstaben ‹QUEEN
› zu lesen steht? Oder diese Hose – das ist meine Größe, aber die ist viel zu kurz. Ich meine, noch ist es ziemlich warm, doch in einigen Wochen werde ich ganz sicher nicht mehr knöchelfrei herumlaufen wollen. Na ja, genau genommen will ich das bereits jetzt
nicht. Ich kaufe mir doch nicht von vornherein eine zu kurze Hose. Außerdem ist der Stoff viel zu dünn. Damit bleibe ich einmal irgendwo hängen, dann war’s das. Das ganze Zeug ist obendrein echt teuer.
Ich zögere, als ich an einer Regalwand vorbeikomme, die mit Jeans vollgestopft ist. Es spricht ja nichts gegen Jeans. Lucy trägt auch Jeans. Es müssen nur eben die richtigen sein.
Die erste Hose, die ich aus dem Regal ziehe, lässt mich kurz die Augen zusammenkneifen. Das Ding ist doch Müll. Meine eigene Hose hat einen klaffenden Riss über dem Knie, okay, aber die hier … die ist doch überall verschlissen. Und sie kostet über zweihundert Dollar! Was ich dafür an überteuerten Gnocchi kaufen könnte. Ich falte das Ding wieder zusammen und greife nach einer anderen. Zerfetzt. Diese hier hat sogar Löcher, und zwar Löcher, die so aussehen, als habe man sie sorgfältig in den Stoff gestanzt. Das ist doch albern, oder? Ich meine – warum zahlt jemand Geld für kaputte Hosen?
«Kann ich Ihnen helfen?»
Eine Frau ist herangetreten, und obwohl sie lächelt, wirkt sie nicht besonders freundlich.
«Ja, ich … ich suche eine neue Jeans», erwidere ich und frage mich, warum um alles in der Welt meine Stimme so verschüchtert klingt. Vermutlich, weil ich es bin.
Die Frau lässt ihren Blick an mir heruntergleiten, und jetzt macht sie eindeutig dieses Gesicht, das ich seit meiner Ankunft in Edmonton schon häufiger zu sehen bekommen habe.
«Unsere Waren sind eher für eine anspruchsvolle Klientel», sagt sie, und diesen Satz kann sogar ich Naivchen aus dem Wald übersetzen.
«Okay.» Ich drehe mich um und laufe zum Ausgang des Ladens zurück.
Ich kann das nicht. Muss ich mich ernsthaft so von oben herab behandeln lassen, nur weil ich eine Hose kaufen will?
«He! He, warte mal!»
Ich bleibe erst stehen, als sich mir eine junge Frau in den Weg stellt. Soll ich vielleicht noch meinen Rucksack ausleeren?
Doch sie schüttelt sich nur die langen Haare aus dem Gesicht und sagt: «Entschuldige, ich hab das gerade mitgekriegt – so eine dumme Kuh. Das hier ist eh ein mieser Laden. Wenn du willst, kann ich dir einen zeigen, wo die Klamotten nicht ganz so teuer, dafür aber wesentlich cooler sind.»
Die letzten Worte hat sie extralaut gesagt, und die Verkäuferin, die tatsächlich einige Schritte hinter mir hergegangen ist, verzieht die Nase und wendet sich angesäuert ab.
«Ich bin Rae», fügt die junge Frau hinzu und grinst so breit, dass ich unwillkürlich zurückgrinsen muss.
«Das wäre total nett von dir», sage ich.