JACKSON
D
as schwache Licht, das mein Zimmer durchs Fenster erhellt, lässt darauf schließen, dass der Mond am Himmel steht, sehen kann ich ihn nicht. Noch immer voll bekleidet, sitze ich auf meinem Bett, den Rücken gegen das Kopfteil gelehnt, die Hände im Nacken verschränkt, und starre auf die nächtliche Fassade des Nachbarhaues. Neben mir stapeln sich Bücher und Unterlagen zum Thema der Vorlesung, die ich heute versäumt und in denen ich gelesen habe, bis meine Gedanken endgültig abgeglitten sind.
Ich habe Haven heute noch vor dem Springbrunnen beim Parlamentsgebäude fotografiert, und es hat eine Weile gedauert, bis wir beide der Meinung waren, Winkel und Position seien perfekt getroffen. Das kleine Mädchen, das Haven mal war, steht auf dem alten Foto lachend genau vor der in der Mitte des Bassins hervorsprudelnden Fontäne, einen Arm zur Seite gestreckt, als würde es uns das Schauspiel präsentieren. Am Anfang hat Haven sich noch nach den Leuten umgesehen, von denen manche uns dabei beobachtet haben, wie wir versuchten, das perfekte Bild nachzustellen. Aber irgendwann waren sie ihr genauso egal wie mir. Es sind ja nur Leute. Also – für mich sind es nur Leute. Für Haven spielen sie eine Rolle.
Genau wie ich in Jasper versucht sie, alles in sich aufzunehmen, nichts zu verpassen, doch mir gab der Wald Ruhe. Das Gefühl, zu mir selbst zu finden.
Das ist bei Haven anders. Einerseits ist sie ebenfalls dabei, sich selbst zu finden. Andererseits präsentiert eine Stadt wie Edmonton –
obwohl es wirklich nicht die schnellste Stadt dieser Erde ist – jemandem wie ihr eben doch im Sekundentakt neue Eindrücke. Und dazu noch solche Situationen wie die mit Stella heute Morgen. Oder ihre Cousine … ich glaube nicht, dass Haven sich jemals zuvor so oft gefragt hat, wie sie auf andere wirkt.
Wir haben nicht mehr über Stella gesprochen. Keiner von uns hat daran gedacht, dass Haven eigentlich mehr über sie und die anderen erfahren wollte. Aber was gäbe es da schon großartig zu erzählen? Viel wichtiger scheint mir die Frage, was das Bild von ihr und ihrer Mutter auf der Wiese in ihr ausgelöst hat. Es war offensichtlich – sie schlug das Buch so heftig zu, dass mehrere Leute an den Nachbartischen sich zu uns umdrehten, und das ist ihr nicht mal aufgefallen. Irgendetwas muss vor oder nach dieser friedlichen Momentaufnahme passiert sein, doch Haven hat ganz und gar nicht so gewirkt, als wolle sie dieser Erinnerung nachgehen.
Und warum sollte sie auch? Wer hängt schon gern traurigen Ereignissen nach oder Situationen, in denen man sich geärgert hat? Oder zerfasert sich in Zweifeln, weil klarsichtige Mitbewohner einen darauf stoßen, dass Haven ihre Wahl hier in der Stadt noch einmal neu überdenken könnte?
Mit der Frage, ob ich der Richtige für einen anderen Menschen bin, habe ich mich noch nie auseinandergesetzt. Wenn sich zeigt, dass eine Beziehung doch nicht so gut passt, trennt man sich eben wieder, ganz einfach. Manchmal schmerzt es eine Weile, und manchmal fühlt man sich danach ziemlich bescheuert, aber es ist kein Drama. Doch allein der Gedanke daran, Haven könne sich gegen mich entscheiden, besitzt bereits eine Wucht, die mir klarmacht, dass es verflucht weh tun würde. Lange. Es wäre vergleichbar mit der Zeit nach Lynn, wenn
auch auf einer völlig anderen Ebene.
Um Lynn habe ich nicht gekämpft, und das bereue ich mittlerweile. Genau genommen habe ich nicht darum gekämpft, das beschädigte Vertrauen zwischen uns wiederherzustellen, und ich bin sogar noch einen Schritt weitergegangen und habe Lynns Versuche, unsere Freundschaft zu retten, abgewehrt. Sie hat genauso gelitten wie ich, vermutlich sogar mehr, denn in den Augen aller war sie diejenige, die unsere Beziehung zerstört hat. Dabei hat es unsere Beziehung, so wie alle sie sehen wollten, nie gegeben.
Ich stehe auf, und eines der Bücher rutscht von der Matratze. Mit einem dumpfen Poltern landet es auf dem Boden, und dort lasse ich es liegen, gehe achtlos daran vorbei ins Badezimmer.
Die Neonröhren links und rechts vom Spiegel erhellen schwarze Fliesen, einen weißen Duschvorhang und mein Gesicht. Das Gesicht eines Mannes, der sich mal wieder rasieren müsste und zwischen dessen Augenbrauen eine steile Falte zu sehen ist. Mit beiden Händen schiebe ich mir die Haare aus der Stirn und starre mich an, dann umfasse ich den Rand des Waschbeckens und senke den Blick.
Es ist nicht nur die Tatsache, dass Haven sich gegen mich und für jemand anderen entscheiden könnte, die mich beunruhigt, es ist mehr. Doch worin dieses Mehr besteht … keine Ahnung. Vielleicht will ich das auch gar nicht wissen, so wie Haven ihren Blick nicht zurück zu einem sonnigen Tag auf einer Blumenwiese lenken will.
Ich habe das Gefühl, wüsste ich es, würden sich viele Dinge plötzlich verändern. Verändern müssen.
Was vielleicht nicht mal das Schlimmste wäre. Nicht so schlimm wie die Tatsache jedenfalls, dass mir mit Sicherheit nicht gefallen würde, was es über mich aussagt.