JACKSON
A
ls ich beim Haus von Havens Tante ankomme, wartet Haven bereits an der Straße. Neben ihr steht eine Frau mit langen dunklen Haaren, die ich noch nie gesehen habe und die interessiert in meinen Wagen schaut. Unmittelbar darauf nickt sie erst mir und dann Haven zu, und weil ich in diesem Moment die Autotür öffne, bekomme ich noch mit, wie sich die beiden voneinander verabschieden.
«Okay, bis nachher!», ruft Haven, und jetzt bin ich es, der neugierig guckt.
«Das war Rae.» Haven strahlt mich an. «Sie hat mir Schuhe ausgeliehen.»
«Sie hat dir Schuhe geliehen?» Ich gucke auf Havens Füße. Schmale, schwarze Schnürstiefel, etwas über knöchelhoch. Lässig. Das ganze Outfit ist ziemlich lässig. Havens helle Haut und die roten Haare werden durch die schwarze Kleidung auf eine Art betont – würden wir uns nicht bereits kennen, würde ich mich heute Abend mit Sicherheit schwer ins Zeug legen, um sie kennenzulernen. «Du siehst großartig aus.»
«Danke. Du auch.»
Grinsend ziehe ich sie an mich und versenke meine Nase in ihrem Haar, bevor sie aufsieht, um mich zu küssen.
In dieser Sekunde freue ich mich sogar auf den Abend. Warum sollte es nicht tatsächlich ganz okay werden? Dylan und Debbie werden da sein, wir suchen uns einfach eine ruhige Ecke, irgendwo draußen im Garten, und wenn ich es schaffen sollte, mich gelegentlich von Havens Anblick loszureißen, unterhalte ich mich vielleicht ein
bisschen.
«Ich bin ziemlich aufgeregt», flüstert Haven.
«Es wird bestimmt gut.» Ich küsse sie noch einmal, überzeugt, dass es nichts gibt, das zusammen mit Haven nicht gut werden könnte.
Während der gesamten Autofahrt über liegt Havens Hand auf meinem Bein, und hätte sie es nicht bereits gesagt, wäre mir spätestens durch ihre eiskalten Finger klar, dass Haven mehr als nur nervös ist.
Die Sonne ist schon untergegangen, als wir gegen halb neun ankommen. Sowohl im Vorgarten als auch auf der Veranda stehen Leute herum. Ist ja schon einiges los, dafür, dass die Party erst vor einer halben Stunde angefangen hat.
Ich werfe Haven einen schnellen Blick zu, die sich dicht neben mir hält, und drücke ihre noch immer kalte Hand, während wir die Stufen zur Veranda hochsteigen. «Wenn du keine Lust mehr hast, gehen wir wieder, okay?»
Haven nickt, doch bevor sie etwas antworten kann, lösen sich Diane und Kaylee aus einer kleinen Gruppe, die draußen neben der Haustür steht.
«Hi, da seid ihr ja endlich! Wir dachten schon, ihr kommt nicht mehr», ruft Diane und hakt sich bei Haven unter. «Ich bin Diane. Schön, dass ihr da seid.»
Kaylee fällt mir lachend um den Hals. «Jax! Dass du dich mal wieder blicken lässt!»
«Wir sehen uns dauernd in der Uni.» Ich will ihr den Gin in die Hand drücken, den ich mitgebracht habe.
«Tagsüber zählt nicht», erklärt Kaylee grinsend und schiebt die
Flasche zurück. «Stell sie einfach zu den anderen in die Küche. Und bring euch gleich etwas zu trinken mit, du siehst ja, was alles da ist. Mir könntest du übrigens auch einen neuen Drink besorgen.» Sie wendet sich Haven zu. «Hi! Wir kennen uns ja schon. Wie wär’s mit einer Tour durchs Haus?»
Haven sieht mich über Kaylees Kopf hinweg an, dann jedoch erwidert sie Kaylees Lächeln. «Okay.»
Ihre Hand löst sich aus meiner, und sie lässt sich von Diane und Kaylee durch die Tür schleifen, während ich mich hinter ihnen her auf den Weg zur Küche mache. Es ist wirklich verflucht voll hier.
«Jax!» Gerade habe ich mich bis zum Kühlschrank durchgeschlagen, da taucht Chase vor mir auf. «Mit dir habe ich ja überhaupt nicht gerechnet – bist du echt mal ohne dein Waldmädchen unterwegs?»
«Chase, halt die Klappe. Bist du etwa schon voll?»
«Ich bin erst seit einer halben Stunde hier, aber ich arbeite daran.» Er nimmt mir den Gin aus der Hand. «Das schreit nach Gin Tonic. Willst du auch einen?»
«Ja, aber ich mach ihn mir selbst. Ich muss noch fahren.»
«Ich mix dir einen schwachen.»
«Vergiss es.»
«Okay, dann mach du mir einen mit, aber ich muss heute nicht mehr fahren, vergiss das nicht.»
Den Gin in der linken und eine Flasche Tonic Water aus dem Kühlschrank in der rechten Hand sehe ich mich suchend um, ohne Erfolg. Es dauert eine Weile, bis Chase und ich vier Gläser beisammenhaben, die zunächst einmal gespült werden müssen.
«Also, was treibt dich hierher?», will Chase wissen, während ich
das heiße Wasser am Spülbecken aufdrehe.
«Stella hat Haven eingeladen.»
«Ach, deine Freundin ist doch da? Wo ist sie denn?»
«Keine Ahnung. Kaylee und Diane wollten ihr das Haus zeigen. Siehst du hier irgendwo ein Handtuch?»
Ein paar Minuten später mixe ich Drinks, für Kaylee und Chase wie gewohnt, für Haven und mich mit nur der halben Menge an Gin.
«Okay, ich geh mal gucken, wo sie stecken», sage ich, nachdem ich Chase sein Glas in die Hand gedrückt und mit ihm angestoßen habe.
«Alles klar, wir sehen uns.»
Drei Gläser vor mir herbalancierend drängele ich mich zwischen den Leuten hindurch. Sobald ich mich aus der Küche herausgearbeitet habe, komme ich einigermaßen einfach durch die lange Diele, die zum riesigen Wohnzimmer führt, dort allerdings ist es so voll wie auf einem Konzert in den ersten Reihen. Wo kommen denn all diese Leute her? Die meisten von ihnen habe ich noch nie gesehen. Und wenn mir das schon zu eng ist, wie muss es dann Haven gehen? Plötzlich ist mir die Musik zu laut, und das Stimmengewirr beginnt mich zu nerven. Wo ist sie?
Noch immer mit den Gläsern in der Hand quetsche ich mich bis zur Terrassentür durch, ohne Haven, Kaylee oder Diane entdecken zu können.
«Suchst du jemanden?» Stella ist neben mir aufgetaucht. «Haven vielleicht? Kaylee und Diane zeigen ihr den ersten Stock.»
«Da sind doch nur eure Zimmer.»
«Und? Die gehören auch zu einer Hausführung. Ist das Gin Tonic? Darf ich?» Ohne auf meine Antwort zu warten, nimmt sie mir eines
der Gläser aus der Hand, und weil ich ohnehin keine Lust mehr habe, die Drinks durch die Gegend zu tragen, überlasse ich es ihr. Sie hat eins erwischt, in dem weniger Alkohol ist, doch ich überlege nur kurz, ob ich zurück in die Küche gehen und mir einen neuen Gin Tonic Light machen soll. Zunächst einmal will ich Haven finden. «Okay, ich geh dann mal nach oben.»
«Die kommen bestimmt gleich wieder runter. Wie geht’s dir so?»
«Jetzt fang du nicht auch noch an.»
«Womit denn?»
«So zu tun, als hätten wir uns seit drei Jahren nicht gesehen.»
«Na ja, in den letzten Wochen sind wir uns nur ein paarmal über den Weg gelaufen.»
«Aber da ging’s mir immer gut, oder?», entgegne ich grinsend. «Ich seh mal oben nach.»
«Meine Güte, Jax, spielst du etwa den Babysitter?» Auch Stella grinst, doch es wirkt bemüht. «Du bist noch sauer auf mich, oder?»
«Wieso sollte ich sauer auf dich sein?», frage ich ehrlich verblüfft.
«Weil ich dich auf Kaylees Geburtstag so dämlich angemacht habe.»
«Ach was.» Hätte ich nicht noch immer zwei Gläser in den Händen, würde ich jetzt abwehrend winken. «Vergiss es, Stella. Ich bin nicht sauer. Ich war auch nicht sauer. Ich …» Plötzlich fällt mir etwas ein. «Zumindest nicht deswegen. Aber wieso redest du Haven ein, es läge an ihr, dass ich in letzter Zeit seltener etwas mit euch unternommen habe?»
«Das hat sie gesagt?» Stella erwidert überrascht meinen Blick. «So habe ich das ganz bestimmt nicht gemeint. Ich habe nur erwähnt, dass man dich in den letzten Wochen außerhalb der Uni kaum noch
zu Gesicht bekommt. Und das ist ja wohl die Wahrheit, es sollte kein Vorwurf sein. Sorry, wenn Haven das anders aufgefasst hat.» Als sie nun schief grinst, hat es mit ihrem steifen Lächeln von eben nichts mehr gemein. «Jetzt streiten wir schon wieder – das gibt’s doch gar nicht. Dabei freue ich mich wirklich, dich zu sehen. Darf ich?» Sie nimmt mir die beiden Gläser aus der Hand und stellt sie zusammen mit ihrem eigenen auf einem Regal ab. Dann schlingt sie mir die Arme um den Hals, küsst meine Wange und flüstert: «Jackson Levy, das muss ja wohl auch anders gehen, oder?»
«Ähm … Stella …»
«Hey, Jax, was läuft denn hier?»
Ich fahre herum und blicke Diane in die Augen, die mit hochgezogenen Brauen den Kopf schüttelt. Neben ihr stehen Kaylee und Haven, und was mir als Erstes auffällt, abgesehen von Havens irritiertem Gesichtsausdruck, ist, dass alle drei mit Getränken versorgt sind.
«Da lässt man dich einmal aus den Augen», fügt Diane jetzt lachend hinzu.
«Diane, erzähl keinen Mist», sage ich eine Spur zu scharf. Meine Güte, dachte ich echt, das hier könne ein netter, unkomplizierter Abend werden?
«Ja, echt, Diane, was soll denn das?» Überrascht sehe ich Stella an, die einen genervten Bick auf Diane abschießt. «Sorry, Jax», fügt sie hinzu, legt mir eine Hand auf den Arm und verschwindet.
«Hey, das war nur ein Witz!» Diane wendet sich hilfesuchend an Kaylee, die nur eine Grimasse zieht und mit den Schultern zuckt.
«Lieber Himmel», murrt Diane. «Entschuldigt mich, ich kläre das besser gleich.» Sie schiebt sich an ein paar Leuten vorbei, um hinter
Stella herzugehen.
«Also.» Kaylee sieht von mir zu Haven. «Ich geh mal gucken, wo Cayden ist.» Sekunden später hat sie sich ebenfalls verzogen.
Betreten sehe ich zu Haven, nicht ganz sicher, wie sie den Anblick von Stella und mir aufgefasst hat. Als sie nichts sagt, räuspere ich mich schließlich. «Und? Wie gefällt dir deine erste Party bisher?»
«Eigentlich ganz gut. Es ist ein bisschen voll.»
Ich muss lachen. «Ein bisschen voll? Das Haus explodiert gleich.»
«Es ist ein schönes Haus. Und mir gefällt Kaylees Zimmer. Hast du es mal gesehen?»
«Irgendwann bestimmt mal.»
«Es ist so … so … ich weiß auch nicht. Hübsch.»
«Aha. Was trinkst du da eigentlich?»
Haven mustert ihr Glas, als würde sie es zum ersten Mal sehen. «Keine Ahnung. Es ist süß. Willst du mal probieren?»
Ich schnuppere an der milchigen Flüssigkeit, die sie mir hinhält. Irgendwas mit Kokos. «Nein, danke. Ist das dein erster Drink?»
«Ich glaube schon.»
«Okay. Wollen wir gehen?»
«Was? Wieso denn?»
«Reicht es dir nicht?»
«Wir sind doch noch gar nicht so lange hier.»
Das stimmt allerdings. Gerade mal eine halbe Stunde, stelle ich nach einem Blick auf die Uhr fest.
«Also, wenn du wirklich willst, können wir natürlich gehen, aber …»
«… du würdest gern noch bleiben», beende ich ihren Satz.
«Ja, wieso auch nicht? Es ist doch gar nicht so schlecht, oder?»
Ich persönlich würde tatsächlich lieber wieder abhauen, auch wenn Haven es nicht weiter erwähnenswert zu finden scheint, dass mir Stella eben am Hals hing. Aber wenn sie noch bleiben möchte …
«Okay», willige ich ein. Ich bin weder Havens Babysitter noch ihr Beschützer. Es ist nur eine Party, sie hat Spaß, also … «Besorgen wir uns was zu essen.» Angesichts des Drinks in ihrer Hand scheint mir das eine gute Idee zu sein.
Herrgott, ich tue es schon wieder.
Seit Haven hier ist, kommt sie mit allem weit besser zurecht, als ich mir das vorgestellt hatte – der Einzige, der ständig ein Problem zu haben scheint, bin ich, und ich schwöre mir selbst, ab sofort damit aufzuhören.