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HAVEN
M
ir ist überhaupt nicht nach Essen. Das würde nur den Geschmack dieses wirklich leckeren Drinks überlagern. Am liebsten möchte ich mich einfach weiter umsehen, der Musik zuhören und dabei Leute anlächeln, die an diesem Abend irgendwie alle zurücklächeln. Kaylee und Diane waren nett, und ihre Zimmer sind so schön, ganz anders als meins. Es gibt dort Kerzen und Lichterketten und jede Menge Fotos an den Wänden, auf denen sie mit Freunden zu sehen sind. Mein Zimmer kommt mir dagegen lieblos und karg vor. Das muss ich dringend ändern. Und Diane meinte, ich hätte tolle Haare, und sie kennt einen Friseur, der würde daraus richtig etwas machen. Wir haben zusammen gelacht, als Kaylee sich eine meiner Haarsträhnen vor die Stirn hielt und wissen wollte, ob ihr diese Farbe stehen würde.
Ich hatte recht. Nach diesem Abend wird sich bestimmt etwas ändern.
Jackson hat eine Hand auf meine Hüfte gelegt und schiebt mich vor sich her zur weit geöffneten Terrassentür. Der Garten ist größer als der, der zu Carolines Haus gehört, Fackeln flackern entlang der Rasenkanten, und Lampions hängen in den vereinzelten Bäumen. Es gibt sogar einen beleuchteten Pool. Alles hier sieht toll aus, gemütlich und einladend, und zum ersten Mal, seit ich in Edmonton
bin, fühle ich mich durch die vielen Menschen nicht eingeschüchtert. Was vermutlich auch an dem Kokoszeug liegt, dass sich gerade noch in meinem Glas befand, aber egal.
«Was möchtest du?»
Im ersten Moment verstehe ich Jacksons Frage nicht, bis ich feststelle, dass sich hinter den Leuten, die sich vor uns drängen, ein langer Tisch mit Salaten, Sandwiches und jeder Menge Cupcakes befindet. Und die Sachen sind auch alle noch so hübsch dekoriert.
«Wow, da haben sich Kaylee, Diane und Stella aber ganz schön viel Arbeit gemacht.»
Jackson grinst. «Du kannst davon ausgehen, dass sie das haben liefern lassen – da vorn steht ein Obstsalat, wäre das was für dich?»
«Im Moment nicht, später vielleicht. Eigentlich hätte ich lieber noch etwas zu trinken.»
«Wasser?»
«Nein.»
«Sondern?»
«Wenn du vielleicht rauskriegen könntest, was da drin war?» Ich halte Jackson mein leeres Glas vor die Nase.
Kurz scheint er zu zögern, dann nimmt er es mir aus der Hand. «Kann ich machen.»
«Ich warte hier auf dich.»
Wieder scheint Jackson nachzudenken, und diesmal meine ich zu ahnen, was in seinem Kopf vorgeht. «Du kannst mich ruhig mal zehn Minuten allein lassen – ich krieg das hin», versichere ich ihm. Ich habe vor, es genau so zu machen, wie Rae es mir geraten hat: einfach auf jemandem zugehen und hallo sagen. Hallo, ich bin Haven.
«Okay, wenn du meinst. Du bleibst hier beim Buffet?»
«Na ja, in der Nähe. Auf jeden Fall bleibe ich im Garten.»
«Dann bis gleich.»
Jackson dreht sich um und verschwindet Sekunden später zwischen den Leuten, und er ist kaum weg, da wünschte ich, ich hätte ihn nicht fortgeschickt. Ohne Glas in der Hand und ohne Jackson und ohne Kaylee oder Diane oder Stella fühle ich mich plötzlich überfordert. Alle um mich herum scheinen einander zu kennen, jeder unterhält sich, nur ich stehe da und weiß nicht, was ich tun soll.
Was hat Rae noch gleich gesagt? Ich sehe mich um. Die beiden Frauen, die sich am Ende des Tischs unterhalten, sehen doch nett aus, oder? Na los. Einfach hingehen. Hoffentlich merkt man mir die Anspannung nicht an, während ich mich ihnen langsam nähere.
«Hi … ich bin Haven.»
Vielleicht hätte ich sie nicht mitten im Gespräch unterbrechen sollen. Beide mustern mich erstaunt, dann grinst die Größere der beiden ihre Freundin an, bevor sie sich an mich wendet. «Okay, schön zu wissen. Hi, Haven.»
Müsste sie mir jetzt nicht ihren Namen verraten? Sie tut nichts dergleichen, schaut mich nur an und nippt an ihrem Drink. Ich wünschte, ich hätte auch einen.
«Also …» Ich befehle mir selbst, mir nicht die feuchten Handflächen an der Hose abzuwischen. «Das ist eine schöne Party, oder?»
Beide grinsen jetzt noch breiter. «Ja», sagt diejenige, die mir eben schon geantwortet hat. «Eine sehr schöne Party.»
Rae
, denke ich, es funktioniert nicht
.
«Was studiert ihr denn?», frage ich trotzdem, weil ich in diesem Moment nicht einmal weiß, wie ich aus dieser Situation wieder
rauskommen soll. Ich kann mich ja schlecht umdrehen und weglaufen.
«Medienmanagement.»
Sie sagt das ganz ernsthaft, ihre Freundin allerdings scheint sich nur schwer das Lachen verkneifen zu können. Irgendetwas mache ich gerade furchtbar falsch.
«Das klingt spannend», sage ich schwach. «Also … ich studiere Umweltwissenschaften.»
«Das erklärt einiges», sagt die Frau, die mit ihrem Lachanfall kämpft, und jetzt prusten beide los. Was ist so witzig? Was habe ich Blödes gesagt?
«Okay, Haven, war schön, mit dir zu sprechen. Wir holen uns mal was zu trinken.» Einen Moment lang frage ich mich, ob ich mich ihnen anschließen sollte, doch bevor ich das tun kann, schlendern sie kichernd davon, ohne mich auch nur noch einmal anzusehen. «Das war das Waldmädchen», höre ich eine der beiden noch sagen.
Bitte? Also … was?
Ich bin das … Waldmädchen? Ein Waldmädchen?
Verwirrt sehe ich mich um. Ein paar der Leute, die hier stehen, scheinen meinen verpatzen Versuch, eine Unterhaltung anzufangen, mitbekommen zu haben; sie grinsen mich an, als würden sie denken: Guckt euch die an.
Wo ist Jackson? Wollte er nicht schon längst wieder hier sein? Ob ich ihn suchen sollte? Auf jeden Fall will ich erst mal hier weg, irgendwohin, wo ich sicher sein kann, dass niemand mich dabei beobachtet hat, wie ich mich blamiere, ich, das … das dämliche Waldmädchen.
Mit gesenktem Kopf arbeite ich mich aus der Menge heraus, die
sich noch immer um das Buffet schart, bis ich fast bei der engen Straße bin, die hinter den Gärten entlangläuft. Hier ist es nicht mehr so voll, doch in kleinen Gruppen stehen immer noch genügend Leute da, um mich zwischen ihnen plötzlich einsam zu fühlen.
Weiß Jackson, dass sie mich Waldmädchen
nennen? Ich meine – ich kenne diese beiden Frauen gar nicht, ich habe sie noch nie gesehen, und trotzdem bin ich für sie das Waldmädchen.
«Haven? Hi!»
Ich fahre herum. Vor mir steht Jon, und bei seinem Anblick bin ich fast so erleichtert, als wäre er Jackson.
«Hallo – was machst du denn hier?», erwidere ich vielleicht ein wenig zu direkt, aber bei Jon ist das in Ordnung. Wir kennen uns, er hält mich nicht für bescheuert. Oder? Oder bin ich für ihn auch nur das komische Mädchen aus dem Wald?
«Ich freue mich gerade, hier ausgerechnet dich zu treffen.» Jon lächelt mich an. «Ich habe dich eben am Buffet gesehen. Ist es okay, dass ich dir hinterhergekommen bin? Oder wolltest du lieber ein wenig allein sein?»
«Nein, schon in Ordnung. Ich wusste gar nicht, dass du Stella kennst.»
«Tu ich nicht – veranstaltet sie die Party hier? Ich bin mit einem Freund da.»
«Ja, sie und Kaylee und … und …» Jetzt hab ich doch glatt den Namen von Stellas und Kaylees Freundin vergessen.
«Bist du allein hier?», fragt Jon, den das nicht weiter zu interessieren scheint.
«Nein, mit Jackson. Er wollte etwas zu trinken besorgen –vielleicht sucht er mich schon.»
«Wollen wir mal gucken, wo er abgeblieben ist?»
Dankbar sehe ich ihn an. «Gute Idee.»
Jon läuft los, und ich schließe mich ihm an, und als die Menge der Partygänger wieder dichter wird, lässt er mich vorgehen. Ich spüre seine Hand in meinem Rücken, und es ist ein beruhigendes Gefühl, ihn hinter mir zu wissen.
«Wahrscheinlich ist er in der Küche.» Jon hat sich vorgebeugt, um mir diese Sätze ins Ohr zu rufen. Je weiter wir uns wieder dem Haus nähern, desto lauter wird auch die Musik.
Drinnen müssen wir die Leute fast beiseiteschieben, damit es für uns überhaupt ein Durchkommen gibt. Wie kann man nur so wahnsinnig viele Menschen kennen? Es sind so viele, dass mir ein wenig schwindelig wird.
«Achtung!» Jon greift nach meinem Arm, als ich stolpere, und ich halte mich an ihm fest, bis das seltsame Schwindelgefühl verflogen ist. «Ich hab Durst», murmele ich. Mein Mund fühlt sich ausgetrocknet an.
«Dagegen lässt sich was tun.» Jon legt mir einen Arm um die Hüfte und hält gleichzeitig die Leute auf Abstand. Jackson kann ich nirgendwo entdecken. Bei diesem Gedränge könnte er zwei Meter von uns entfernt vorbeigehen, ohne dass ich ihn sehen würde.
Auch in der Küche blicke ich nur in unbekannte Gesichter, und bei dem Gedanken, auf jemanden zuzugehen, um ein Gespräch zu beginnen, ist mir fast nach Lachen zumute. Rae könnte das, ich dagegen bin mittlerweile nur noch darauf bedacht, nicht auch noch Jon zu verlieren, während ich versuche, Teile der Gespräche um uns herum mitzubekommen. Höre ich irgendwo das Wort Waldmädchen
?
Jon hat aus dem Kühlschrank eine Saftpackung herausgeholt und
ist dabei, Schranktüren zu öffnen und wieder zu schließen. Schließlich greift er sich zwei Gläser, die neben dem Spülbecken stehen und dreht das Wasser auf, um sie abzuwaschen.
«Das ist ein echter Vorteil von Bier», sagt er grinsend. «Das kann man aus der Flasche trinken.»
Ein paar Minuten später halte ich ein orangerotes Getränk in den Händen.
«Tequila Sunrise», erklärt Jon. «Ich hoffe, die Mischung stimmt.»
In seinem Glas befindet sich eine durchsichtige Flüssigkeit. Er hebt es in meine Richtung und trinkt einen Schluck. Ich tue es ihm nach. Es schmeckt fruchtig und in erster Linie nach Orangensaft. «Was ist das Rote darin?»
«Sirup. Orangensaft, Zitrone, Sirup und ein Schuss Tequila. Komm, lass uns wieder rausgehen, hier drin wird man ja zerquetscht.»
Mein Glas ist schon wieder halb leer, als wir uns zurück zum Garten durchgeschlängelt haben. Mir ist warm, der Drink zu süß, um meinen Durst zu lindern, und ich kann nicht aufhören, Waldmädchen
zu denken. Ich bin ein Waldmädchen und mehr nicht. Befreit atme ich auf, als wir das stickige Gewühl hinter uns lassen.
«Ich glaube, ich geh da nicht mehr rein», murmele ich und fühle mich plötzlich so, als müsse ich losheulen.
Jackson. Jackson ist noch da drin.
«Kann ich verstehen. Komm, wir suchen uns irgendwo einen ruhigeren Platz.»
Ich lasse mich von Jon weiterziehen, vorbei am Pool, in dem mittlerweile jede Menge Leute herumplanschen, und zwar voll bekleidet, und vorbei am Buffet. Gesprächsfetzen und Gelächter
schlagen über mir zusammen, und als wir das Ende des Gartens erreicht haben, bin ich es, die Jon weiterdrängt, über die Straße und hinein in einen kümmerlichen Park mit einer Handvoll Büsche, Sträucher und Bäumchen. Ich brauche eine Pause. Und ich muss mich hinsetzen. Meine Beine fühlen sich komisch an, sie sind irgendwie … zu lang. Meine Füße setzen auf dem weichen Grasboden auf, noch bevor ich damit rechne, und dieses seltsame Phänomen beschäftigt mich immer noch, als Jon plötzlich meinen Arm loslässt und ich gefährlich ins Schwanken gerate. Das Glas fällt mir aus der Hand.
«Hey.» Er schlingt einen Arm um meine Taille. «Du bist ja betrunken.» Leise lachend stellt er mich wieder in die Senkrechte. «Geht’s?»
«Ich glaube schon.» Sogar meine Stimme klingt seltsam. Alles ist seltsam. Aber das passt ja zu mir, ich bin ja auch seltsam. Haven, das seltsame Mädchen aus dem Wald. Das Waldmädchen. «Jon?»
«Mh?»
«Findest du mich seltsam?»
«Seltsam? Also … das wäre nicht unbedingt das erste Wort, mit dem ich dich beschreiben würde.»
«Wie würdest du mich denn beschreiben?»
Seine Hände umfassen noch immer meine Oberarme, und das ist gut so. Würde er loslassen, müsste ich mich hinlegen.
«Ich würde sagen, du bist sehr, sehr süß.» Er küsst mich auf die Nase. «Und interessant.» Er küsst meinen Mund. «Und wirklich», Kuss, «unfassbar», Kuss, «attraktiv.»
Das sollte er nicht tun. Ich sollte Jon sagen, dass er damit aufhören muss, dass ich gar nicht von ihm geküsst werden will, ich
sollte mich losreißen, statt mich mit beiden Händen an seinem Brustkorb abzustützen, und ich sollte … ich sollte … oh Gott. Was mache ich hier?
«Jon …»
Jon nutzt die Gelegenheit, dass ich den Mund öffnen muss, um seinen Namen auszusprechen, und jetzt wird mir schlecht.