28
HAVEN
O h Gott, geht’s mir dreckig. Mein Magen scheint sich einmal umstülpen zu wollen, und dass Jackson plötzlich über mir auftaucht, hilft nur einen winzigen Moment lang – genau so lange, bis mir bewusst wird, welchen Anblick ich gerade biete. Erst mit seiner Hilfe gelingt es mir aufzustehen, und brennende Scham steigt in mir auf, als meine Haare, die eindeutig etwas abbekommen haben, dabei über seinen Arm streifen. Jackson zuckt nicht zurück, trotzdem versuche ich unbeholfen, meine Haare zusammenzuraffen.
«Vorsicht», sagt er. «Fall nicht wieder hin.»
Ich schüttele den Kopf, nur ein winziges bisschen, weil ich mir nicht wirklich sicher bin, ob wirklich alles draußen ist.
«Gib mir den Schlüssel, ich hol dein Auto», sagt jemand.
Oh nein, Cayden. Warum muss ausgerechnet der jetzt hier sein? Das alles ist auch ohne ihn schon entsetzlich genug.
Jackson kramt in seiner Hosentasche und wirft Cayden den Schlüssel zu, ohne mich loszulassen. «Links vom Haus, du musst fast bis zur nächsten Kreuzung.»
«Alles klar.»
Sekunden später sind wir allein. Versuchsweise mache ich einen Schritt, und obwohl meine Knie bedenklich zittern, fühlt sich zumindest meine Beinlänge wieder ansatzweise normal an. Ich befreie meinen Arm aus Jacksons Griff. Ich könnte bei dem Gedanken im Boden versinken, dass ich nur mit seiner Hilfe wieder zurück zu Caroline komme. So kann ich doch nicht in sein Auto steigen, mit diesen klebrigen Haaren und den Schuhen, die … oh nein, Raes Schuhe. Ich habe sie ruiniert. Sie hat mir ihre Stiefel ausgeliehen, und ich hab … ich hab einfach … ach, verflucht!
Ich schüttele den Kopf, verliere erneut das Gleichgewicht, und Jackson greift schneller zu, als ich zu Boden stürzen kann.
«Langsam», sagt er, während ich ein weiteres Mal versuche, meine Haare von seiner Hand fernzuhalten.
«Es tut mir leid», murmele ich. «Ich glaube, ich sollte besser zurück zu Caroline laufen.»
«Das ist ein Scherz, oder?»
Ich sehe ihn an, und er erwidert meinen Blick. Normalerweise sage ich das immer.
«Ich … ich …» Ich fühle mich erbärmlich.
«Was war das eben?»
«Was?»
«Du fragst jetzt nicht allen Ernstes, was
«Aber ich …»
«Warum stehst du da und machst mit diesem Arsch rum?»
«Hab ich gar nicht.»
«Hast du nicht?» Gerade noch haben wir uns Stück für Stück in Richtung Straße bewegt, jetzt bleibt Jackson stehen und ich zwangsläufig ebenfalls. «Ist jetzt nicht so, als hätte ich euch gerade nicht gesehen.»
«Aber ich hab nicht … es ist … ich wollte gar nicht.»
Der Griff um meinen Arm wird fester, und als sei Jackson das im selben Moment aufgefallen, lässt er los. «Er hat dich … du bist nicht freiwillig mitgegangen?»
«Doch, aber ich wollte Jon nicht küssen», erwidere ich. «Vielleicht habe ich ihm das zu spät klargemacht.»
Jacksons Gesicht ist eine wächserne Maske im Licht der Straßenlaternen. Das Gelächter, das von der Party her zu uns herüberschwappt, fühlt sich an, als käme es aus einer Parallelwelt.
«Du musst so was nicht deutlich machen», sagt er schließlich. «Das ist nicht dein Job, okay? So weit hätte er gar nicht gehen dürfen, vor allem nicht, wenn du völlig betrunken bist.»
«Ich bin nicht …»
«Bist du», stellt Jackson klar. «Und dem Arsch werde ich dazu auch noch was erzählen.»
«Das musst du nicht.»
«Das will ich aber.»
«Es ist meine Sache. Ich kann das selbst klären.»
«Ja, wir haben ja gerade deutlich gesehen, wie perfekt du dazu in der Lage bist.»
Jacksons beißender Spott durchdringt sogar die wattige Benommenheit meines Hirns. Das war kein Scherz mehr, das war … gemein.
Scheinwerfer flammen auf, als ein Wagen ein gutes Stück von uns entfernt um die Ecke biegt. Einen Moment später hat er uns erreicht, und Cayden steigt aus. Ohne ein Wort zu sagen, übergibt er Jackson die Autoschlüssel.
«Wusstest du es?», fragt Jackson, und erst denke ich, er redet mit mir. Doch er sieht Cayden an.
«Was?»
«Dass dieser Arsch hier ist?»
«Ich kenne den nicht mal.»
Noch ein paar Sekunden lang unterbricht keiner der beiden den Blickkontakt, dann fasst Jackson mich unter den Armen, führt mich um die Motorhaube herum und hilft mir beim Einsteigen.
Während der gesamten Fahrt über sagt keiner von uns auch nur ein Wort. Mir ist immer noch schlecht, und mein Kopf scheint nicht groß genug zu sein für all die Gedanken, die darin übereinanderfallen. Ich bin ein Waldmädchen. Ein seltsames Waldmädchen, und ich habe Raes Schuhe vollgekotzt, mich von einem Typen küssen lassen, den ich gar nicht küssen wollte, Jackson ist sauer auf mich, im Auto ist die Luft zu stickig, und wenn ich daran denke, wie Jons Zunge sich in meinen Mund geschoben hat, muss ich aufpassen, mich nicht direkt noch einmal zu übergeben. Wieso hat Jon gedacht, ich würde das okay finden? Was habe ich gesagt? Habe ich ihn irgendwie dazu ermuntert? Jackson meinte, ich hätte ihm nicht deutlich machen müssen, dass ich nicht von ihm geküsst werden will, aber vielleicht … vielleicht habe ich ihn durch irgendetwas aufgefordert, das zu tun. Was weiß denn ich? Leute lachen, wenn ich versuche, mich mit ihnen zu unterhalten – warum sollten sie nicht der Meinung sein, ich würde von ihnen geküsst werden wollen? Jon weiß doch, dass ich mit Jackson zusammen bin. Wenn er trotzdem denkt, ich hätte kein Problem damit, nebenbei mit ihm … ich bin mir einfach nicht sicher, ob es nicht meine Schuld war.
Der Wagen hält, und weil ich nicht aufgepasst habe, verhindert nur der Sicherheitsgurt, dass ich gegen das Armaturenbrett knalle. Unwillkürlich stöhne ich auf.
«Entschuldigung.» Jackson lächelt nicht, während er das sagt, und obwohl er mich dabei ansieht, scheint er gleichzeitig durch mich hindurchzusehen.
Mit steifen Fingern löse ich den Gurt und öffne die Wagentür. Frische Luft. Das brauche ich jetzt. Und wäre ich zu Hause, richtig zu Hause, würde ich in diesem Moment einfach in den Wald hineinlaufen, mindestens bis zu Gisberts Bau.
Okay, vielleicht würde ich vorher doch erst mal duschen.
Jackson macht keine Anstalten auszusteigen.
«Bis dann», sage ich. «Danke.»
«Wofür?»
«Ich weiß nicht», erwidere ich müde. «Fürs Nach-Hause-Bringen.»
Er nickt nur, und ich werfe die Wagentür zu. Erst als ich den Schlüssel ins Türschloss stecke, höre ich den Motor anspringen, und während ich ins Haus schlüpfe, fährt Jackson los.
Ich ziehe mir die Schuhe aus und schleiche mit ihnen in der Hand so leise wie möglich die Treppe hinauf. Im Badezimmer steige ich aus meinen schmutzigen Klamotten und wasche sie im Waschbecken mit Duschgel, rubbele mit Klopapier die Stiefel sauber und ziehe schließlich die Schnürsenkel aus den Ösen, um sie ebenfalls zu waschen. Dann steige ich unter die Dusche und verlasse sie erst wieder, als ich das Gefühl habe, aller Dreck sei durch den Abfluss davongeschwemmt worden. Es dauert lang, und als ich endlich im Bett liege, trocken, sauber und mit noch feuchten Haaren, habe ich noch immer den Geruch von Erbrochenem in der Nase und frage mich, warum ich nicht wenigstens heulen kann.