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HAVEN
E
s wundert mich nicht, dass Jon plötzlich in keiner meiner Vorlesungen oder Seminare mehr auftaucht. Und wenn ich mir vage blöd vorkomme, jemals angenommen zu haben, er sei da gewesen, weil er sich für die Inhalte interessiert, dann geht das in Ordnung. Ich bin eben ein Waldmädchen.
An einem Donnerstagnachmittag begegnen wir uns zufällig in der Bibliothek, stoßen fast zusammen, weil ich mit zwei Büchern, die ich mir für das gleich anstehende Seminar besorgt habe, zu schnell um die Ecke biege. Hastig tritt er einige Schritte zurück, blickt dann zur Seite und wäre vermutlich einfach wortlos an mir vorbeigegangen, würde ich ihn nicht grüßen.
«Hi, Jon.»
«Hi. Hi, Haven.» Er knipst ein Grinsen an. «Und, wie geht’s dir so?»
Bei dem Gedanken, ihn geküsst zu haben – von ihm geküsst worden zu sein –, wird mir immer noch übel.
«Es würde mir besser gehen, würde ich dich gar nicht kennen», sage ich und registriere die Röte, die ihm ins Gesicht steigt. Vielleicht auch deshalb, weil ich sehr laut gesprochen habe und in unserer Nähe Leute aufblicken, die an den langen Lesetischen sitzen. Was ich Jon jetzt mitzuteilen habe, habe ich in meinem Zimmer mehrfach
geprobt. «Ich hätte mich niemals von dir küssen lassen, wäre ich nicht betrunken gewesen. Und ich nehme mal an, das hast du auch gewusst. Du Arsch», füge ich freundlich hinzu, plötzlich inspiriert durch Jacksons Ausdrucksweise.
Dann gehe ich weiter, und das Kichern, das hinter mir zu hören ist, interessiert mich einen Dreck.
In dem Seminar eine Dreiviertelstunde später setzt sich eine Studentin zu mir an den Tisch. Sie ist mir schon mehrere Male aufgefallen, weil ich ihre Beiträge immer um einiges durchdachter finde als die der meisten hier im Kurs.
«Hi», sagt sie und lächelt mich an. «Ich hab dich … also, ich war gerade in der Bibliothek. Das war echt cool.»
«Okay», erwidere ich überrascht, ein wenig unschlüssig, ob ich mehr dazu sagen sollte.
«Ich bin Allison.» Sie nickt mir zu.
«Ich heiße Haven.»
Daraufhin entgegnet Allison nichts, denn in diesem Moment beginnt die Dozentin vorne zu sprechen, und Allison greift nach ihrem Stift.
Allison ist ein Anfang. Sie ist jemand, den ich gern am allerersten Tag im Rutherford getroffen hätte. Mit ihr ist es ganz einfach, sich über alles Mögliche zu unterhalten, und als sie mich irgendwann fragt, ob ich nach unserem gemeinsamen Seminar am Donnerstag noch Lust auf einen Kaffee hätte, stimme ich so überschwänglich zu, dass Allison lacht. Dass sie sich auch noch mit Rae versteht, ist ein Bonus, der es leichter macht, damit umzugehen, dass Kaylee, Diane und Stella mich seit der Party übersehen. Genau genommen übersieht mich nur Diane. Kaylee nickt mir zumindest zu, und Stella
lächelt – aber eigentlich war mir ihr Lächeln von Anfang an nicht geheuer. Ihre Freude darüber, dass Jackson und ich nicht mehr zusammen sind, ist offensichtlich.
Jackson habe ich seit dem Tag bei ihm zu Hause kein einziges Mal mehr gesehen. Fast drei Wochen ist das jetzt her. Und ich vermisse ihn.
Und es gibt noch einen Menschen, den ich vermisse, und das ist mein Vater. Verrückterweise nehme ich ihm das Gleiche übel wie Jackson: Beide haben mir nicht genug zugetraut. Beide haben mir Dinge verschwiegen, die wichtig für mich gewesen wären. Vielleicht fällt es mir deshalb auch so schwer, Jackson zu verzeihen, weil es mir einfach nicht gelingen will, meinem Vater zu verzeihen.
Es tut weh.
Und es ist nicht einmal die Tatsache, dass seine Welt eben aus einem Wald besteht, denn ich liebe diesen Wald. Aber er hätte mir früher mehr von Mum, mehr von meiner Vergangenheit erzählen sollen, er hätte mir die Möglichkeit geben müssen, auch ihre Welt kennenzulernen.
Ob Mum das umgekehrt getan hätte, wäre sie nicht gestorben? Wäre ich in den Schulferien bei meinem Vater in Jasper gewesen? Ich weiß es nicht. Ich weiß so wenig.
Ich weiß, dass es Dad gegenüber ungerecht ist, mir wieder und wieder das Leben auszumalen, das ich vielleicht mit meiner Mutter geführt hätte, aber ich kann einfach nicht damit aufhören.
Caroline hat nur ein einziges Mal nach Jackson gefragt und nicht weiter nachgehakt, als ich meinte, wir würden uns nicht mehr so oft sehen – und das war’s.
Ich habe hier mittlerweile zwei Freundinnen.
Ich vermisse meinen Vater.
Und ich erwache manchmal aus einem Traum, in dem ich Jackson küsse, und jedes Mal möchte ich beides festhalten, den Traum und Jackson.
Zum Beispiel heute. Im Zimmer ist es bereits hell, vor dem Fenster zwitschern Vögel, und Jacksons Kuss war so nah, so echt gewesen … irgendwann werde ich ihn allein deshalb anrufen, weil ich mich danach sehne, ihn zu küssen. Ihn zu berühren. Seinen Duft zu riechen, mit den Fingern durch seine Haare zu fahren …
Dass es in diesem Moment an meine Tür klopft, kommt mir ganz gelegen. Alles, was mich aus meinen Gedanken an Jackson reißt, kommt mir gelegen.
«Ja?»
Lucy steckt die Nase herein. Ist heute gar keine Schule? Ach nein, es ist ja Samstag.
«Hab ich dich geweckt?»
«Nein, ich war schon wach.» Ich richte mich auf und streiche mir dabei ein paar zerzauste Haarsträhnen aus dem Gesicht. Seit einiger Zeit habe ich mich um Lucy gar nicht mehr bemüht. Andere Dinge waren wichtiger.
«Was ist?», frage ich, weil sie nur im Türrahmen steht und nicht so recht zu wissen scheint, wieso eigentlich.
Sie drückt die Tür in ihrem Rücken zu. «Erzählst du mir von deiner Zeit in Jasper?»
«Wie bitte?»
Deutlich verlegen lässt sie sich im Schneidersitz auf dem Teppich vor meinem Bett nieder. «Ich würde gern mehr darüber wissen … eigentlich hast du mir das sogar versprochen.»
«Was hab ich dir versprochen?»
«Dass du mir davon erzählst.»
«Wann habe ich das bitte gesagt?»
«Damals, bevor ihr gegangen seid. Du hast gesagt, du würdest mir schreiben. Erinnerst du dich?»
Stumm schüttele ich den Kopf.
«Hast du aber.» Lucy seufzt. «Ich hätte nicht gedacht, dass du das vergisst.»
Ich zermartere mir das Hirn, aber es gibt nichts, gar keine Erinnerung aus dieser Zeit. Irgendwann muss ich mich von Lucy verabschiedet haben. Von meiner kleinen Cousine, die mich so bewundert hat, und ich muss ihr versprochen haben, mich bei ihr zu melden, aber das habe ich nie getan.
«Du warst erst vier.»
Lucy nickt. «Aber ich weiß es trotzdem noch. Ich hab sogar Mum gefragt, warum du dich nicht meldest, und sie wollte deinem Dad schreiben, aber es kam nie eine Antwort.»
In dieser Sekunde bin ich wütender auf meinen Vater als jemals zuvor.
«Das hat er mir nie erzählt.»
«Denk ich mir», sagt Lucy. «Also, inzwischen. Damals dachte ich, du magst mich nicht mehr. Ich dachte, du hast mich vergessen.»
Und das stimmt sogar. Ich habe Lucy vergessen. Wie ich so vieles vergessen habe. Weil ich das alles vergessen sollte. Und Caroline hat recht – ich muss mit Dad darüber sprechen. Sofort.
Lucys Augen weiten sich, als ich die Decke heftig zurückschlage und die Beine aus dem Bett schwinge.
«Ich erzähle dir alles über Jasper, was du wissen willst», sage ich.
«Absolut alles, okay? Ich bin froh, dass du mich danach fragst und … es tut mir leid, dass ich dir nie geschrieben habe. Ich bin absolut sicher, dass ich es getan hätte, wenn mein Vater … mir dabei geholfen hätte.»
Ich stehe auf und beginne damit, wahllos einige Kleidungsstücke zusammenzusuchen.
«Was willst du denn jetzt machen?», fragt Lucy.
«Ich werde meinen Vater fragen, warum er mir nicht geholfen hat.»