JACKSON
M
ehr als einmal bin ich kurz davor, mich bei Haven zu melden. Noch warte ich darauf, dass sie den ersten Schritt geht, doch spätestens, wenn ich meine To-do-Liste abgearbeitet habe, werde ich das tun, was ich bei Lynn versäumt habe: um das kämpfen, was Haven und ich hatten. Wie auch immer ich das anstellen werde. Das überlege ich mir dann.
Bisher habe ich mein Zimmer neu eingerichtet – das war leicht – und meinen Eltern mitgeteilt, dass ich das Studium hinwerfe. Das war schon schwerer. Meine Mutter brach am Telefon in Tränen aus, mein Vater kündigte mir ein paar Stunden später einen Herzinfarkt an, doch in den Tagen darauf wurden aus den Tränen Anfeindungen, und statt Infarktdrohungen stellten meine Eltern die regelmäßigen Zahlungen auf mein Konto ein.
Scheiß drauf. Ich arbeite jetzt dreimal in der Woche in der Küche eines Restaurants, und wenn meine Eltern irgendwann ihren Schock überwunden haben, sind sie vielleicht in der Lage, ihre Enttäuschung und ihren Ärger beiseitezuschieben und sich zu melden.
Davon abgesehen wohne ich noch bei Cayden, und ich treffe mich weiterhin mit Dylan, doch mit den anderen habe ich kaum mehr etwas zu tun. Nachdem Cayden mir erzählt hat, dass es Stella war, die dafür sorgte, dass Jon auf der Party aufkreuzte, fällt mir das ziemlich leicht. Damit wäre der Punkt Freunde?
auf meiner Liste auch abgehakt.
Glücklicherweise nimmt es Cayden nicht sehr mit, dass Kaylee stinksauer auf ihn ist, weil er das, was er von ihr über Stella erfahren
hat, an mich weitergegeben hat.
«Sorry», meinte ich, als ich das mitbekommen habe. «Ich dachte echt, aus euch würde irgendwann noch was Ernstes werden.»
Cayden hat daraufhin nur mit den Schultern gezuckt. «Vergiss es. Feste Beziehungen sind sowieso nichts für mich.»
Ich habe mich bereits für mein neues Studium eingeschrieben, als ich noch einmal zu dem Punkt zurückkehre, den ich direkt als Erstes angegangen bin. Fast drei Wochen ist es jetzt her, dass ich Lynn eine Nachricht geschrieben habe. Sie hat sie gelesen, aber nicht darauf reagiert. Ich könnte ihr natürlich noch zehn weitere Nachrichten schicken, aber das, was ich ihr zu sagen habe, sollte ich ohnehin lieber persönlich tun. Und deshalb befinde ich mich in diesem Moment auf dem Weg nach Saskatoon.
Ihre Handynummer hat sich nicht verändert, doch es ist wohl unwahrscheinlich, dass sie noch bei ihren Eltern wohnt. Trotzdem parke ich den Wagen am frühen Nachmittag vor dem Haus, das mehrere Jahre lang so etwas wie mein zweites Zuhause war. Es ist ein seltsames Gefühl, den Vorgarten zu durchqueren und das vertraute Geräusch der Türklingel zu hören. Noch seltsamer ist es, Sekunden später Lynns Mutter gegenüberzustehen.
«Jackson!» Im ersten Moment hebt sie beide Hände, als wolle sie mich umarmen. Dann scheint ihr etwas in den Sinn zu kommen, und sie lässt sie wieder sinken. «Aber … wie geht es dir? Und was machst du hier? Du lebst doch in Edmonton, oder?»
«Genau. Hallo, Sarah. Mir geht’s gut, danke. Ich wollte zu Lynn.»
Ihr Lächeln ist so eindeutig aufgesetzt, dass sie mir leidtut. Von allen Beteiligten damals hat sie fast am meisten gelitten. Sie mochte mich wirklich, und als sie mir jetzt doch eine Hand auf den Arm legt,
fühle ich mich einen Moment lang schuldig, weil ich das kurze Aufflammen von Hoffnung in ihren Augen sehe. Nach all den Jahren. Immer noch.
«Lynn ist ausgezogen.»
«Das dachte ich mir fast. Wo wohnt sie denn jetzt?»
«Sie wohnt … also, sie wohnt in der Osborne Street 22. Mit ihrem … Mann.»
Wow. Mit ihrem Mann. Ich schiebe meine Überraschung beiseite.
Osborne Street. Mit dem Auto sind es keine zehn Minuten, und als ich kurz darauf ein weiteres Mal den Wagen am Straßenrand absetze, vermischt sich in mir Nervosität mit Neugier.
Drei Jahre. Über drei Jahre haben wir uns nicht gesehen und davor fast zehn Jahre lang so gut wie jeden Tag. Ich war neun, als Lynn in meine Klasse kam, und Lynn acht.
Das Haus, in dem sie lebt, sieht nett aus, gepflegt. Für ein paar Minuten bleibe ich einfach hinter dem Lenkrad sitzen. Sarah meinte, Lynn sei vermutlich zu Hause, und auf meine Frage, ob Lynn in Saskatoon studiere, hat sie nur mit einem schmalen Lächeln den Kopf geschüttelt. «Sie hat ja geheiratet», hat sie gesagt, als erkläre das alles. Sonderlich glücklich klang sie nicht.
Ob Lynn den Typen von damals geheiratet hat?
Ich fühle mich beobachtet, als ich schließlich aussteige und auf die Haustür zugehe, doch nachdem sich auf mein Klingeln hin die Tür geöffnet hat, reicht ein Blick in Lynns Gesicht, um deutlich zu machen, dass ich so ungefähr der Letzte gewesen bin, mit dem sie gerechnet hat. Fast schon entsetzt sieht sie mich an, dann presst sie für einen Moment die Lippen zusammen. «Jackson. Was willst du denn hier?»
«Hi.»
Ihre Haare sind kürzer, aber das ist fast das Einzige, was sich an ihr verändert hat. Das, und das Baby auf ihrem Arm.
«Lässt du mich rein?»
«Wieso sollte ich?»
«Wir können auch hier reden.»
«Ich hab gar keine Lust, mit dir zu reden.» Sie tritt zurück und wirft mir die Tür vor der Nase zu.
Okay. Ich schiebe die Hände in die Hosentaschen und bin noch nicht durch mit meinen Überlegungen, ob ich noch einmal klingeln soll, da wird die Haustür erneut geöffnet. Das Baby ist verschwunden, mit einem Kopfnicken weist Lynn ins Innere. Sie schließt die Tür hinter mir, dann geht sie ein paar Schritte ins Wohnzimmer zu einem Sessel, der neben einem niedrigen Holztisch steht, schlägt die Beine übereinander und lehnt sich zurück. «Also?»
Ich bleibe direkt vor der Tür stehen, statt mich auf das Sofa zu setzen. Ohne das Baby ist es fast, als hätten wir uns erst gestern voneinander verabschiedet, so vertraut ist alles an ihr, der kleine Leberfleck auf ihrer linken Wange und die jetzt zusammengezogenen Brauen über ihren Augen.
«Es tut mir leid, dass ich damals einfach gegangen bin.»
Lynn sieht mich nur weiterhin an.
«Ich hätte dir zuhören sollen. Ich war …»
Ich könnte einfach sagen, ich war ein blöder Idiot, und mich noch einmal entschuldigen, aber ich will es richtig machen. Und wenn jemand die ganze Wahrheit verdient hat, dann Lynn. Nachdem ich ihr immer vorgeworfen habe, dass sie mir gegenüber nicht ehrlich war.
«Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich wusste nicht
mal so genau, was ich fühlen sollte. Es kam mir so vor, als hättest du unsere Freundschaft zerstört, und ich … bin abgehauen, weil das wohl einfacher war, als sich damit auseinanderzusetzen.»
«Ich hab eine Million Mal bei dir angerufen.»
«Ich weiß.»
«Und ich hab dir Nachrichten geschrieben. Ich saß heulend vor eurem Haus. Du warst mein bester Freund … Ich hab mich so schuldig gefühlt! Und du …»
«Ich weiß. Es tut mir leid», wiederhole ich.
«Ich dachte, du würdest mich hassen.»
«Ich hab dich nie gehasst», erwidere ich bestürzt.
«Aber das dachte ich. Ich dachte, du verachtest mich. Ich dachte …» Sie räuspert sich. «Und jetzt tauchst du einfach wieder auf und sagst, es tut dir leid. Obwohl du mir nie die Chance gegeben hast, dir zu sagen, dass es mir leidtut.»
In das Schweigen hinein, das sich zwischen uns auftut, ist ein Quäken zu hören.
Lynn steht auf, verlässt das Zimmer und kehrt unmittelbar darauf mit dem Baby zurück. «Er heißt Henry.» Sie tritt so nah an mich heran, dass ich ins Blickfeld von Henry rutsche und er mich mit kugelrunden Augen anzustarren beginnt. «Willst du … na ja, willst du zum Abendessen bleiben?»
«Wenn das für … Ethan in Ordnung ist?»
«Ethan war damals der Einzige, der kapiert hat, warum ich immer heulen musste, wenn es um dich ging. Er wird sich freuen, dich endlich mal kennenzulernen.»
Ich nicke. Scheint ein guter Typ zu sein, dieser Ethan. Offenbar nicht halb so eifersüchtig wie ich im Allgemeinen.
«Du studierst Jura, oder?» Lynn lächelt zum ersten Mal, seit sie die Tür geöffnet hat. «Was muss ich sonst noch über dich wissen?»
«Zunächst einmal studiere ich nicht mehr Jura.»
Noch bevor Ethan nach Hause kommt, weiß Lynn alles über mein geplantes neues Studium, und ich, wie es für sie war, so jung ungeplant schwanger zu werden. Wir reden über unsere Eltern und darüber, wie wenig diese mit unseren Entscheidungen anfangen können, wir reden darüber, wie anstrengend und seltsam, aber auch großartig Lynn ihr Leben als Mutter empfindet, und wir reden über Ethan und dass Lynn niemals bereut hat, ihn kennengelernt zu haben.
Als ich schließlich von Haven erzähle, beginne ich zu hoffen, dass wir wieder an etwas anknüpfen können, an etwas von früher. Es wäre schön.