31
HAVEN
I ch habe Dad eine Nachricht geschrieben. Eine Nachricht, in der stand, dass ich gegen drei in Jasper sein würde. Seine Antwort kam keine zehn Minuten später.
Ich bin da.
Die ganze Autofahrt über habe ich mir erste Sätze zurechtgelegt. Schon als die flache Ebene die ersten Konturen bekam, hat mein Herz schneller zu schlagen begonnen, und meine Aufregung wuchs, als Hügel auftauchten und zu Bergen wurden, als die endlosen Felder und Grasflächen verschwanden und Bäumen wichen, die erst vereinzelt und dann immer dichter zusammenstanden. Vor einigen Wochen war hier noch alles grün, jetzt jedoch leuchten die Laubbäume am Straßenrand rot, orange, golden vor dem dunklen Tannengrün, und das Farbenschauspiel begleitet mich bis tief in den Jasper National Park hinein.
In dem Moment, in dem ich die kleine Lichtung vor der Blockhütte erreiche und aus dem Wagen steige, ist der Duft des Waldes, der Duft meines Zuhauses so intensiv, dass ich laut lachen, singen, rennen möchte, alles gleichzeitig. Alles ist so, wie es immer war, wie es die ganze Zeit in meinem Kopf war, und jetzt wieder darin einzutauchen … ich nehme mir nicht mal die Zeit, auch nur die Autotür zuzuschlagen, und laufe zum Garten. Es ist kalt, kälter als in Edmonton, doch das macht mir nichts aus.
Mr. Strong ist gewachsen. Ganz eindeutig hat Dad nicht vergessen, ihn zu gießen.
«Hallo, Haven.»
Gerade habe ich mich über Mr. Strong gebeugt, jetzt richte ich mich auf.
Dad steht da und sieht einfach aus wie … Dad. Seine Arme öffnen sich, als ich auf ihn zulaufe, und im nächsten Moment umfängt mich der Geruch von Wald, Seife und Kaminholz. Der weiche Flanellstoff seines Hemds fühlt sich warm auf meiner Wange an, als habe die Sonne daraufgeschienen, und ich spüre sein Herz schlagen. Oh Gott, Dad. Lange Augenblicke bin ich einfach nur ein kleines Mädchen, das seinen Vater liebt wie verrückt, und als sich irgendwann der Gedanke wieder durchsetzt, warum ich hierhergefahren bin, schmerzt es beinahe körperlich, ein Stück zurückzutreten, sodass seine Arme mich nicht mehr halten können.
«Ich hab Kaffee aufgesetzt», sagt er, und ich wende mich wortlos ab, um ins Haus zu gehen.
Auf dem Tisch steht die Kaffeekanne aus Porzellan, die Dad eigentlich nie benutzt, und auf meinen Platz hat er meine Lieblingstasse gestellt. Ich muss schlucken. Es könnte ein so liebevoller Moment sein, es ist ein so liebevoller Moment und trotzdem … Ich setze mich auf die Eckbank und sehe Dad dabei zu, wie er den Kaffee aus der gläsernen Kanne, die zur Kaffeemaschine gehört, in die Porzellankanne umfüllt.
«Da drin wird er schneller kalt», sage ich. Das hat Dad früher immer gemeint, wenn ich die hübsche Kanne nehmen wollte.
«Egal», antwortet Dad. «Ich freue mich sehr, dich zu sehen.»
Und so ist es. Die Freude strahlt ihm aus jeder Pore, und er muss dazu nicht einmal breiter lächeln als sonst.
Für einen Moment überlege ich ernsthaft, dieses Wiedersehen nicht zu zerstören. Nicht jetzt.
«Du willst mir etwas sagen», bringt Dad es schlicht auf den Punkt, nachdem er uns beiden eingeschenkt hat, und ich umfasse meine Tasse mit beiden Händen, senke den Kopf, nur ganz kurz, und hole tief Luft, als ich wieder aufblicke.
«Ich will mit dir über Mum reden.»
Dad nickt. «Das dachte ich mir. Wo sollen wir anfangen?»
«Warum haben wir uns nie gemeinsam das Fotoalbum angesehen, das du mir gegeben hast?»
Dad lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, beide Hände noch immer vor sich auf den Tisch gelegt. «Ich wollte nicht, dass du dich an zu viel erinnerst.»
«Aber … warum? Warum? Warum sollte ich meine Vergangenheit denn vergessen? Du hast mir doch auch von Mum erzählt.»
«Das habe ich.»
«Du hast mir ihr Foto gezeigt, wann auch immer ich es sehen wollte.»
Er nickt wieder. «Es ging nie darum, dass du deine Mutter vergessen solltest.»
«Wieso dann? Wieso hast du mir nicht das Album gezeigt? Wieso hast du mir nie von Lucy und Caroline erzählt? Ich hatte Lucy versprochen, ihr zu schreiben, aber das habe ich nie getan. Stattdessen habe ich sie vergessen  – warum hast du sie nie erwähnt?»
«Vielleicht hätte ich das getan, wenn du mich jemals nach ihr gefragt hättest.»
«Das habe ich nicht?» Verwirrt starre ich meinen Vater an. «Aber … ich kann sie doch nicht sofort vergessen haben.»
Dad beugt sich vor und schiebt dabei seinen bisher unangetasteten Kaffee beiseite. «Was ist das Letzte, woran du dich erinnern kannst, bevor wir hierhergefahren sind, Haven?»
Ich durchwühle mein Hirn nach einer Erinnerung. Da sind die Fotos aus dem Album mitsamt den Bildern, die sie ausgelöst haben. Kurze Sequenzen, verwackelt, teilweise unscharf. «Ich weiß nicht … ich weiß es nicht.» Aber das kann doch nicht sein. Irgendeine Erinnerung muss die letzte gewesen sein, doch es ist, als würde ich versuchen, von einem Traum erzählen zu wollen. Es gab ihn, doch ich bekomme ihn nicht zu fassen.
«Du bist schuld», sage ich leise. «Du hast all meine Erinnerungen ausgelöscht, indem du einfach nie wieder mit mir darüber geredet hast.» Mit jedem Wort mehr, das ich ausspreche, dringt die Wut in mir durch. «Du wolltest nicht, dass ich etwas außerhalb dieses Waldes vermisse, oder? Du hast dich hier verkrochen, und mich hast du mitgenommen, und damit ich nicht wieder zurückwill, damit ich nicht nach Caroline oder Lucy frage, hast du einfach so getan, als gäbe es kein Leben außerhalb des Waldes.»
Ich bin immer lauter geworden, und als Dad mich jetzt einfach nur ansieht, ist mir danach, die Porzellankanne gegen die Wand zu werfen. Weil ich ihm das vielleicht nie verzeihen kann. Die größte Schuld, die er trägt, ist die, dass er meine Liebe zu sich beschädigt hat.
«Denkst du das wirklich?», fragt er. «Denkst du wirklich, ich würde so etwas tun?»
Meine Verwirrung kehrt zurück. «Warum dann?», frage ich. «Wieso hast du nicht verhindert, dass ich meine Vergangenheit verliere?»
Dad schließt die Augen, presst die Lippen zusammen, dann sieht er mich wieder an. «Ich habe dir von dem Ring erzählt, weißt du noch?»
Das zumindest habe ich nicht vergessen. Es ist ja auch noch nicht lange her. «Mum hat ihn dir vor die Füße geworfen. Bei eurem letzten Gespräch. Bevor sie den Unfall hatte.»
«Bei diesem Gespräch hast du zugehört. Aber das haben deine Mutter und ich nicht gewusst.»
«Wieso nicht? Wo war ich?»
«Du hast vor der Tür zu unserem Schlafzimmer gesessen. Wir dachten, du wärst bei Lucy, aber du bist nach Hause gekommen. Ich weiß nicht, warum. Du warst danach nicht mehr in der Lage, uns das zu erzählen.»
«Aber … ich verstehe nicht …»
Er atmet einmal tief durch. «Du willst die Wahrheit wissen, oder?»
«Ja.»
«Wenn man sie einmal weiß, kann man es nicht ungeschehen machen.»
«Dad!»
Jetzt lässt er sich schwer zurückfallen, und ich bekomme eine schwache Ahnung davon, was es ihn kostet weiterzusprechen. «Ich nehme an, deine Mutter und ich haben uns schon gestritten, als du nach Hause gekommen bist. Deshalb haben wir dich auch nicht gehört. Du warst direkt vor der Tür, und du hast jedes Wort mitbekommen. Ich habe dir erzählt, sie wollte mich verlassen, weil sie jemanden kennengelernt hatte.»
Ich nicke.
«Und sie meinte, man müsse einfach jeden Moment nutzen, jeden kostbaren Moment.»
Dieser Satz. Genau das hat sie an diesem Tag gesagt, als wir auf der Blumenwiese waren. Plötzlich rollen sich die Erinnerungen schneller vor meinem inneren Auge ab, als Dad ihnen mit Worten folgen kann.
«Aber sie wollte … nicht nur mich verlassen. Sie wollte auch dich verlassen. Sie wollte alles zurücklassen und nichts mitnehmen, gar nichts.»
Etwas steigt in mir auf, ein Gefühl, das ich nicht kenne. Es nimmt mir Raum, es nimmt mir Luft. Ich möchte den Kopf schütteln und kann nicht.
«Sie sagte, ihr Leben mit uns sei eine Qual, sie sei nicht dafür geeignet, Mutter zu sein. Du würdest … du würdest sie an etwas ketten, das sie hassen würde und … und …» Er reibt sich die Stirn und streicht dann mit der Hand über seinen Bart. «Das war ungefähr der Moment, in dem wir dich schreien hörten. Du hast vor der Tür gestanden, und du hast so geschrien … du wolltest, dass sie dich auf den Arm nimmt, aber sie ist vor dir zurückgewichen und … du … du bist mit ausgestreckten Armen hinter ihr hergerannt und hast nach ihr gerufen, und sie schrie, ich solle dich endlich nehmen, und genau das sei der Grund, warum sie ihr Leben mit uns hassen würde. Und dann ist sie gegangen. Und sie kam nie zurück.»
Über Dads Gesicht laufen Tränen. Ich wünschte, ich könnte auch weinen, ich will weinen, aber es geht nicht.
«Du hast erst das erleben müssen, und am selben Tag hast du erfahren, dass deine Mutter gestorben ist. Du hast nicht einmal geweint, als ich es dir sagte, hast keinen Ton gesagt. Wir saßen die ganze Nacht zusammen, und irgendwann hast du geflüstert … dass … dass …»
Dad schluchzt jetzt so heftig, dass ich aufstehe und zu ihm gehe. Ich weiß, was ich gesagt habe. Ich erinnere mich wieder. Ich habe gesagt: Sie soll mich noch mal in den Arm nehmen.
Eine Weile stehe ich einfach da, doch irgendwann drücke ich Dads Schulter, gehe an unseren beiden Sesseln vorbei, nehme meine Jacke vom Haken und trete zur Tür hinaus, weiter, über die Lichtung. Ich will in den Wald. Wenn ich über irgendetwas gerade froh bin, dann darüber, dass ich hier bin und nicht in Edmonton. Hier, an diesem Ort, der mir so viel bedeutet.
Mein ganzes Leben lang war meine Liebe zu meiner Mutter leuchtend hell und strahlend, und ich habe immer angenommen, dass es umgekehrt genauso war.
Dad hat mir meine Vergangenheit vorenthalten, weil ich sie verdrängt habe, um diese Liebe bewahren zu dürfen.
War das richtig?
Ich weiß es nicht.
Kann ich es verstehen?
Ja.
Die alte Tanne steht da und scheint darauf zu warten, dass ich mich zu ihr setze. Ich lausche aufmerksam, doch von Gisbert ist nichts zu hören. Es ist noch zu früh.
Noch nie, noch kein einziges Mal habe ich mich an diesem Ort nicht irgendwann ruhiger gefühlt. Die Geräusche des Waldes, sein ganzes Wesen, er ist so viel mehr als ich, so viel größer, mächtiger, weiser …
Doch der innere Friede bleibt aus.
Ich wollte so unbedingt einen Zugang zu meiner Vergangenheit finden, aber jetzt ist jeder Erinnerungsfetzen eine Qual und mein Innerstes ein Eisblock, mit kalten, scharfen Kanten. Jede Bewegung schmerzt, sogar das Atmen tut weh.
Mit steifen Fingern ziehe ich das Telefon aus meiner Hosentasche und tippe die eine wichtige Nummer an.
«Hi.» Seine Stimme. So zärtlich, als seien nicht mehrere Wochen vergangen, seit ich sie zuletzt gehört habe.
«Jackson? Kannst … kannst du kommen?»
«Wohin?»
«Ich bin bei meinem Vater.»
«Ich fahr los.»