JACKSON
E
s ist fast acht, und die Sonne ist schon vor einer Weile untergegangen, als ich vom Yellowhead Highway auf den Icefields Parkway biege. Noch etwa zwanzig Minuten. Nur noch zwanzig Minuten, bis ich Haven wiedersehe. In den letzten Stunden hatte ich Zeit genug, mir zu überlegen, warum sie mich wohl angerufen hat. Da sie sich von Jasper aus meldet, muss es wohl mit ihrem Vater zusammenhängen. Ich schätze, er hat ihr endlich mehr über ihre Vergangenheit erzählt.
Der aufgehende Mond wirft seinen blassen Schein über die Lichtung vor Havens Haus. Ich setze meinen Wagen neben den von Haven, steige aus und gehe auf die Veranda zu. Was auch immer dort drin auf mich wartet – ich hoffe einfach, ich kann für sie da sein.
Auf mein Klopfen hin öffnet ihr Vater die Tür. Erst als er mit einer einladenden Handbewegung zur Seite tritt und das Licht von drinnen auf sein Gesicht fällt, kann ich erkennen, wie mitgenommen er aussieht. Haben sie gestritten? Hat er geweint?
«Hallo», sagt er. «Haven ist in ihrem Zimmer.»
«Danke … und hallo», erwidere ich, nicht ganz sicher, ob ich einfach nach oben gehen soll. In Havens Zimmer war ich noch nie. Doch als er sich ohne ein weiteres Wort in einen der Sessel vor dem Kamin sinken lässt, in dem heute ein kleines Feuer knistert, wende ich mich der Treppe zu.
Oben finde ich drei Türen vor, zwei davon sind geschlossen. Hinter der offenen Tür sind nur ein leerer Stuhl und ein Schreibtisch zu sehen, und ich atme einmal tief durch, bevor ich an die Tür
daneben klopfe.
«Komm rein.»
Haven sitzt vor ihrem Bett auf dem Boden. Es ist ein schlichter Raum, der zu einem Haus wie diesem passt. Ein Bett, eine Kommode, ein kleiner Tisch vor dem einzigen Fenster.
Weil Haven keine Anstalten macht aufzustehen, setze ich mich neben sie, und in dem Moment, in dem ich das tue, sinkt ihr Kopf gegen meine Schulter. Ich vergrabe mein Gesicht in ihrem Haar, genieße den süß-herben Zimtduft, und noch während ich denke, dass alles Weitere nach all den Wochen, in denen wir uns nicht gesehen haben, wohl unangemessen wäre, dreht Haven den Kopf und küsst mich.
Verflucht, ich hab das vermisst. Ich habe ihre Lippen vermisst, den Blick ihrer grauen Augen und das Gefühl ihrer Haut unter meinen Händen.
Haven küsst mich, als hätten wir uns noch nie geküsst und gleichzeitig so, als wäre dieser Kuss die Fortsetzung von etwas, das bereits vor langem begonnen hat. Sie legt ihre Arme um meinen Hals, und ich bin nur zu bereit mitzumachen, weiterzumachen. Trotzdem halte ich nach einigen Minuten inne. «Okay, was ist los?», frage ich leise. «Warum hast du mich angerufen?»
«Weißt du noch, das Bild? Im Strawberry Kiss
? Meine Mum und ich auf dieser Wiese mit den vielen Blumen?», flüstert sie zurück.
Ich nicke, und Haven beginnt zu weinen.
Viel später, sehr viel später, Äonen später liegen wir gemeinsam auf dem Bett, Havens Kopf unter meinem Kinn, ihre Stirn gegen meinen Hals gedrückt. Unsere Beine sind miteinander verschlungen, und noch immer halte ich ihre Hände in meinen. Dieser Tag, von dem
sie mir erzählt hat … wie kann man so etwas aushalten? Erst die Liebe ihrer Mutter zu verlieren und dann die Mutter selbst? Jedes Mal, wenn ich daran denke, möchte ich irgendetwas sagen, irgendetwas tun, um es ein Stück weit wiedergutzumachen. Aber wer bin ich, um das zu können? Ich kann nur für sie da sein. Und das auch nur, wenn sie mich lässt.
«Lass uns rausgehen, ja?» Haven richtet sich auf.
Kühle Nachtluft schlägt uns entgegen, als Haven kurz darauf die Haustür öffnet. Das Feuer im Kamin war erloschen, die Wärme, die es verbreitet hat, bleibt zurück, als wir jetzt über die mondbeschienene Lichtung laufen. Die Bäume bilden eine schwarze Wand, und befände sich nicht Haven neben mir, würde mich wohl nichts auf der Welt dazu bringen, um diese Uhrzeit in die Schatten des Waldes einzutauchen.
«Wo willst du hin?»
«Es reicht mir schon, hier zu sein.» Haven lässt sich am Rand der Lichtung nieder und lehnt sich gegen einen Stamm. «Jackson?» Ihre Stimme klingt dünn. Ich gehe vor ihr in die Knie, und sie tastet nach meinen Händen. «Ich weiß nicht, wie ich damit klarkommen soll. Ich wünschte … ich wünschte, ich könnte es wieder vergessen.»
«Nein.» Ich drücke ihre Finger. «Nein, das willst du nicht. Es ist immer besser, wenn man weiß, woran man ist, oder? Du wärst immer noch wütend auf deinen Vater, wüsstest du es nicht.»
«Aber sie wollte mich nicht.»
Darauf weiß ich nichts zu erwidern.
«Warum? Warum nicht, Jackson?»
«Haven.» Es ist zu dunkel, um ihr Gesicht zu erkennen. «Du weißt nicht, was Tage später gewesen wäre. Oder Wochen später oder
Monate später. Deine Eltern haben sich gestritten – vielleicht hätte deine Mutter alles, was sie in diesem Moment gesagt hat, am nächsten Tag schon wieder bereut.»
«Vielleicht auch nicht.»
«Vielleicht auch nicht», räume ich ein. «Aber zu wissen, was damals passiert ist, macht dich nicht zu jemand anderem als zu dem, der du heute bist, und du bist …» Ich suche nach Worten. «Du bist einer der stärksten Menschen, die ich je kennengelernt habe.»
«Ich fühle mich nicht stark.»
«Jetzt nicht.» Ich lasse ihre Hände los und setze mich neben sie. «Aber irgendwann wieder.»
Weiß leuchtet der Mond über der Lichtung. Der Duft der Tannen und die Geräusche der Nacht hüllen uns ein.
«Ich vermisse das Gefühl, dass sie mich geliebt hat», murmelt Haven, und ich lege einen Arm um ihre Schultern und ziehe sie enger an mich. «Ich vermisse es, daran zu glauben, dass es so war.»
«Wenn du an die Bilder von dir und deiner Mutter denkst – kannst du dir dann wirklich vorstellen, dass du ihr nichts bedeutet hast?»
Sie kuschelt sich enger an mich.
«Ich will dir nicht einfach irgendwas sagen, nur weil du das gern hören würdest – aber ich glaube nicht, dass deine Mutter dich nicht geliebt hat. Vielleicht hat ihre Liebe zu dir sie sogar erschreckt, weil sie so heftig war.»
Neben mir bleibt es still. Dann windet Haven sich aus meinem Arm, setzt sich rittlings auf meine Beine und nimmt mein Gesicht in ihre Hände. Es ist zu finster, um irgendetwas erkennen zu können, doch ich spüre ihre Haare über meine Wangen streichen, und im nächsten Moment legen sich ihre weichen Lippen auf meine. In der
Dunkelheit der Nacht küsst Haven mich, und ich küsse Haven, und es fühlt sich an, als würden wir damit etwas besiegeln.
«Danke», flüstert sie irgendwann, und alles, was mir dazu einfällt, ist, meine Hände in ihrem Haar zu vergraben und Haven wieder an mich zu ziehen.