XI

Rückkehr zum Schloss
des Königs

Während der gesamten Woche ihrer Reise gab es keine nennenswerten Zwischenfälle, lediglich den Versuch zweier unerfahrener Banditen, sie auszurauben. Doch dank Arturos vortrefflichem Schwert und Crispíns treffsicheren Pfeilen hatten die Banditen keine Chance.

Auf ihrem Ritt begegneten ihnen viele Menschen, die mit Hab und Gut ihre Dörfer verlassen hatten und nun in derselben Richtung unterwegs waren wie sie.

Überall wimmelte es von Männern, Frauen, Kindern und Alten. Wahre Karawanen von flüchtenden Menschen verstopften die Wege.

»Wir werden bei König Benicius Schutz suchen«, erklärte ihnen ein Bauer, der ein Kind auf dem Arm hielt. »Diese Bestien werden immer grausamer. Es vergeht kein Tag, an dem sie uns nicht überfallen. Benicius hat uns seinen Schutz zugesichert. Er ist dabei, Patrouillen aus Rittern und Soldaten aufzustellen, die die Bestien vernichten sollen.«

Als Arturo und seine Gefährten das Schloss von König Benicius erblickten, hielten sie an und bewunderten die legendäre Festungsanlage, die von niemandem jemals erobert worden war. Sie wurde durch einen hohen Wall geschützt, hinter dem sich, von einer weiteren Mauer umgeben, das Schloss mit seinem runden Hauptturm und den vier Ecktürmen erhob.

»Seid Ihr sicher, dass er uns mit offenen Armen empfangen wird?«, fragte Arturo.

»Ja«, antwortete der Weise. »Ich habe ihn von der Lepra geheilt, und er hat mir versprochen, mir für ewige Zeit seinen Schutz zu gewähren. Auch wenn ich ihm nicht unbedingt vertraue, glaube ich doch, dass er sich uns anschließen und mit Königin Émedi verbünden wird.«

»Nun, Meister, er hat nicht gezögert, mithilfe des Zauberers Herejio Morfidios Festung anzugreifen und Euer Leben in Gefahr zu bringen«, erinnerte ihn Arturo. »Vielleicht ist er nicht der, für den Ihr ihn haltet.«

»Ich nehme an, er hat Herejios Magie dazu verwendet, seinen Männern eine blutige Schlacht zu ersparen«, versuchte Arquimaes, den König zu entschuldigen. »Ich glaube, er teilt unsere Sorge wegen der wachsenden Macht der Finsteren Zauberer. Du hast ja gehört, was sich die Bauern erzählen. Er wird nicht zögern, mit uns gemeinsam gegen Demónicus zu kämpfen.«

»Benicius ist kein guter König«, sagte Crispín. »Mein Vater hat mir erzählt, dass er Menschen henken lässt, die in seinen Wäldern jagen, weil sie Hunger haben. Und dass er die Bauern ausnutzt. Mein Vater war eines seiner Opfer, und wenn Benicius erfährt, wer ich bin, wird er mich in den Kerker werfen.«

»Dir wird nichts geschehen, das versichere ich dir«, beruhigte ihn Arquimaes. »Auf jeden Fall brauchen wir seine Hilfe. Wir müssen uns Verbündete suchen, wo immer es möglich ist. Demónicus muss vernichtet werden, bevor er sich zum Herrn über den gesamten Erdkreis aufschwingt.«

»Niemand ist meinem Vater gewachsen!«, knurrte Alexia. »Er ist mächtiger als alle Könige zusammen!«

Arquimaes beachtete das Mädchen nicht.

»Jetzt werden wir erst mal mit Benicius sprechen«, sagte er. »Vorwärts!«

* * *

Zur gleichen Zeit, viele Kilometer entfernt, überwachte eine Patrouille von zehn Männern die Umgebung der Stadt des Großen Zauberers Demónicus. An einem Flussufer machten sie halt, um ihre Pferde zu tränken und sich ein wenig auszuruhen. Es war heiß und sie waren vom Reiten ermüdet.

Vístor, der Anführer der Gruppe, wurde unruhig. Etwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt, und er befahl seinen Leuten, sich auf einen unerwarteten Angriff gefasst zu machen.

»Hinter den Bäumen hat sich etwas bewegt«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Wir werden uns jetzt anschleichen. Aber vorsichtig! Drei Männer kommen mit mir, vier weitere nehmen den Weg da drüben, zwei bleiben hier und passen auf die Pferde auf.«

So lautlos wie möglich näherten sich Vístor und seine Krieger dem Waldstück, bis sie einen idealen Beobachtungspunkt erreicht hatten. Von hier aus konnten sie alles überblicken, ohne selbst entdeckt zu werden.

»Seht mal da!«, flüsterte Vístor. »Drei gesattelte Pferde – aber wo sind die Reiter? Das könnte eine Falle sein!«

»Vielleicht.«

Inzwischen hatten die vier anderen den Wald auf der gegenüberliegenden Seite erreicht. Sie gaben sich durch Zeichen zu verstehen, dass weit und breit niemand zu sehen war.

»Die Pferde werden ausgerissen sein und haben sich verirrt«, flüsterte Vístor. »Fangt sie ein!«

Vorsichtig näherten sich seine drei Soldaten den Tieren, und es gelang ihnen, die Zügel zu packen und die Pferde zu Vístor zu bringen. Der zweite Spähtrupp war inzwischen zu ihnen gestoßen. Als sie die Sättel der Pferde näher betrachteten, sahen sie sich überrascht an.

»Das sind ja unsere!«, rief einer. »Diese Pferde gehören zu unserer Armee!«

»Ganz sicher! Schaut euch die Brandzeichen an!«

»Wo die Reiter wohl sind?«, fragte sich Vístor erneut. »Hier in der Nähe ist jedenfalls niemand.«

»Die Pferde gehören Oswalds Männern, die sich auf die Suche nach Prinzessin Alexia gemacht haben«, sagte einer der Soldaten. »Ich habe gesehen, wie sie losgeritten sind.«

»Und wo sind sie jetzt?«

»Hier! Blut!«, rief einer und fuhr mit der Hand über einen der Pferdesättel. »Und wo Blut ist, hat es Tote gegeben.«

Langsam dämmerte es Vístor, dass er ein Problem hatte. Als Patrouillenführer musste er Demónicus davon in Kenntnis setzen, dass einige der Männer, die seine Tochter gesucht hatten, umgekommen waren. Er wusste, dass die Überbringer schlechter Nachrichten nichts Gutes zu erwarten hatten. Demónicus war nicht gerade bekannt dafür, ein gnädiger Herr zu sein.

* * *

Das Erste, was Arturo und seinen Freunden im Schloss von König Benicius auffiel, war die emsige Betriebsamkeit der Soldaten. Einige hantierten mit ihren Waffen, andere machten die Pferde bereit. Währenddessen beluden die Bauern ihre Karren mit Vorräten.

»Sie bereiten sich auf den Krieg vor«, sagte Arquimaes sorgenvoll. »Bald wird viel Blut fließen!«

»Gegen wen werden sie kämpfen?«, fragte Arturo.

»Gegen Demónicus, kein Zweifel«, antwortete der Weise.

»Dann werden sie alle sterben«, prophezeite Alexia. »Mein Vater verfügt über eine schlagkräftige Armee. Etliche Stämme haben sich mit ihm verbündet.«

»Ich will in den Krieg gegen Demónicus ziehen!«, rief Crispín. »Und du, Arturo, wirst du dich auch anwerben lassen?«

»Das weiß ich noch nicht. Zuerst müssen wir mit Benicius reden und hören, was für eine Armee er aufstellt. Ich gehe davon aus, dass er nur Ritter nehmen wird. Mich wird er bestimmt ablehnen.«

»Du bist doch inzwischen ein Ritter«, erinnerte ihn Alexia. »Du hast einen Drachen getötet, und das ist etwas, was nur wenige fertiggebracht haben. Benicius wird dich zum Kommandanten der Kavallerie ernennen.«

»Entweder du hältst endlich den Mund oder ich stopfe ihn dir mit einem Knebel!«, fuhr Arturo sie an. »Ich hab dir schon hundertmal gesagt, du sollst niemandem erzählen, was du gesehen hast!«

»Auch wenn du mir die Zunge abschneidest, werden alle erfahren, welche Heldentat du vollbracht hast, junger Krieger!«, widersprach die Prinzessin. »So etwas darf nicht verborgen bleiben!«

»Muss ich auch den Mund halten?«, fragte Crispín. »Ich will aller Welt erzählen, dass ich der Knappe eines Ritters bin, der Drachen getötet hat.«

»Es war nur einer«, korrigierte ihn Arturo. »Und nicht ich habe ihn getötet.«

»Das ist mir egal, ich will es allen sagen.«

»Verschwiegenheit ist die erste Tugend eines Knappen«, erinnerte ihn Arquimaes. »Du musst lernen zu schweigen und nur dann zu reden, wenn es unbedingt nötig ist. Nur so kannst du deiner Aufgabe gerecht werden.«

Sie kamen zu den Stallungen und baten, ihre Pferde dort einstellen zu dürfen.

»Im Schloss ist kein Platz mehr, für niemanden«, antwortete ihnen ein schmutziger und übel riechender Mann. »Ihr müsst euch draußen was suchen, im Dorf.«

»Wir wollen den König besuchen«, erklärte Arquimaes. »Ich bin Alchemist und stehe unter seinem Schutz.«

»Jetzt stehen nur noch Ritter und Soldaten unter seinem Schutz. Wir anderen existieren praktisch nicht. Folgt lieber meinem Rat. Reitet ins Dorf zurück und seht zu, wo ihr bleibt.«

»Hier hast du zwei Goldstücke, pass bis zum Abend auf die Pferde auf, wir holen sie dann später wieder ab«, sagte Arturo, der nicht zu viel Aufsehen erregen wollte. »Und danke für deinen Rat.«

»Lasst uns jetzt zu Benicius gehen«, drängte Arquimaes. »Es wird Zeit, einige Dinge klarzustellen.«

Es kostete sie viel Zeit und Mühe, in den Hauptturm zu gelangen. Überall herrschte munteres Treiben. Ritter, Soldaten und andere Armeeangehörige kamen und gingen, und der Eingang war von Dorfbewohnern belagert, die um Audienz baten.

»Ich bin Arquimaes«, erklärte der Weise dem Sekretär, der die Namen all derer auf eine Liste schrieb, die darauf warteten, vom König empfangen zu werden. »Meine Freunde und ich wollen zum König. Wir sind zu viert.«

»Arquimaes? Der Alchemist, der von Morfidio verschleppt wurde?«

»Ja, aber sprich leiser. Ich möchte kein Aufsehen erregen. Wann kann ich zu König Benicius?«

»Folgt mir. Ich bin sicher, dass er Euch sofort empfangen wird.«

Einige Männer protestierten, als sie sahen, dass die Neuankömmlinge vorgelassen wurden. Doch die Palastwache sorgte unverzüglich für Ruhe und Ordnung.

»Ich werde Seine Majestät benachrichtigen«, erklärte der Sekretär. »Wartet hier.«

Wenige Minuten später öffnete sich die Tür und zwei Ritter kamen aus dem Audienzsaal. Sie maßen die Wartenden mit arrogantem Gesichtsausdruck.

Der Sekretär ging hinein.

»So wichtig seid ihr, dass ihr glaubt, ihr könntet euch einfach vordrängen?«, sagte ein vornehm gekleideter Herr mit einem giftigen Blick auf Arturo und seine Freunde. »Wer seid ihr, in euren ärmlichen Kleidern, mit einem so schmutzigen, zerlumpten Diener?«

»Wir sind nichts, Señor, genauso wie Ihr«, antwortete Arquimaes. »Unser Problem ist nur, dass der König heute alle Welt empfängt. Auch Leute, die es nicht verdienen.«

»Was glaubt ihr, wer ihr seid, dass ihr so mit mir sprecht?«

»Ich habe Euch nur geantwortet, Señor.«

In diesem Moment öffnete sich die Tür und der Sekretär rief Arquimaes zu sich.

»Ihr könnt hineingehen. Der König erwartet Euch voller Ungeduld.«

Als Crispín an dem anmaßenden Herrn vorbeiging, nieste er laut und vernehmlich und beschmutzte dabei die prächtige Tunika des Mannes.

»Tut mir leid, Señor, aber wir Diener sind nun mal ein schmutziges Gesindel«, entschuldigte er sich. »Ihr werdet Euch umziehen müssen, damit der König Euch nicht in diesem Zustand sieht. Ihr seht ja aus wie ein Pferdeknecht.«

Arquimaes, Arturo, Alexia und Crispín betraten den prächtigen Audienzsaal. An den Wänden hingen kostbare Teppiche. Fackeln und Kerzenleuchter an den Säulen verbreiteten helles Licht, sodass der Eindruck entstand, die Sonne schiene hier im Saal. Die Uniformen der Diener und Leibgardisten waren prachtvoll und sauber, was vor allem Crispín begeisterte. Solch einen Luxus hatte er noch nie gesehen.

Das muss das sein, was man den Himmel nennt, dachte er.

Benicius erhob sich von seinem Thron, kam die drei Stufen herunter, die ihn von seinen Besuchern trennten, und trat mit ausgebreiteten Armen auf Arquimaes zu.

»Arquimaes, mein alter Freund!«, sagte er, bevor er ihn herzlich umarmte. »Ich habe geglaubt, du seist tot! Du ahnst nicht, wie sehr ich mich freue, dich hier bei mir zu sehen! Welch eine Überraschung!«

»Nur ein Wunder hat mich gerettet, Majestät. Morfidio ist durch einen Geheimgang entkommen, er hat uns gezwungen, mit ihm zu fliehen, und uns an Demónicus ausgeliefert«, erklärte der Alchemist. »Später dann hat Arturo mich befreit und … Nun, wir haben eine lange Reise hinter uns. Aber jetzt bin ich hier, um mich in Eure Dienste zu stellen, mein König.«

»Du erscheinst im rechten Augenblick. Wir bereiten uns auf einen Krieg vor. Die Stunde ist gekommen, unsere Würde wiederherzustellen.«

»Werdet Ihr Euch auf die Seite von Königin Émedi stellen?«, fragte der Weise.

»Aber ja, selbstverständlich Wir werden uns mit ihr verbünden, um zu verhindern, dass dieser verdammte Zauberer ihr Reich überfällt.«

»Herr, wir bringen Euch eine wichtige Gefangene«, fuhr Arquimaes fort. »Alexia, Demónicus’ Tochter!«

Benicius erstarrte, als er die Worte des Weisen vernahm. Ungläubig blickte er die junge Frau an.

»Das ist Alexia, die Tochter des Finsteren Zauberers?«

»Ja, sie ist unsere Gefangene. Es ist uns ein großes Vergnügen, sie Euch übergeben zu können. Ich nehme an, durch sie werden sich die Waagschalen zu Euren Gunsten neigen, wenn Ihr den Feldzug gegen ihren Vater beginnt. Sie wird Euch sicher einen unschätzbaren Vorteil verschaffen.«

»Oh ja, natürlich! Das wird es für uns sehr viel einfacher machen«, entgegnete Benicius und rieb sich die Hände. »Und wer sind die jungen Männer, die dich begleiten?«

»Das sind Arturo und Crispín. Arturo hat mich aus Demónicus’ Kerker befreit.«

»Er wird den Lohn erhalten, der ihm zusteht«, sagte der König. »Man muss großzügig sein zu seinen Freunden.«

»Vielen Dank, Majestät«, sagte Arturo und neigte ehrfürchtig den Kopf. »Wir haben nur unsere Pflicht erfüllt. Arquimaes war in großer Gefahr und wir haben ihm geholfen.«

»Und dafür danken wir euch – übrigens, Arquimaes, hast du irgendjemanden in dein Geheimnis eingeweiht? Ist deine Formel noch sicher?«

»Ich habe niemandem ein Wort gesagt, Majestät.«

»Gut, mein Freund, sehr gut.« Der König winkte einen Offizier zu sich, der wenige Schritt entfernt auf seine Befehle wartete. »Kümmere dich um meine Freunde und gib ihnen alles, was sie wünschen. Sorge dafür, dass sie angemessen untergebracht werden, so wie sie es verdienen. Es soll ihnen an nichts fehlen. Ach ja, und lass das Mädchen einsperren. Sie ist sehr gefährlich und muss streng bewacht werden. Niemand darf mit ihr sprechen.«

Zwei Stunden später waren Arquimaes, Arturo und Crispín in einem großen Zimmer im Hauptturm untergebracht, in unmittelbarer Nähe der königlichen Gemächer. Ihre Pferde wurden in die Stallungen des Königs geführt.