VI

Das Reich des Bettlers

Hinkebein hat mich angerufen und wir haben ein Treffen vereinbart. Damit uns niemand zusammen sieht, haben wir uns dort verabredet, wo er wohnt: auf einem unbebauten Grundstück nicht weit von der Stiftung.

Seine Behausung ist umgeben von Müll und allem möglichen anderen Kram. Es stinkt und überall gibt es Ratten und Kakerlaken. Ein dreckiges Loch, in das sich niemand freiwillig hineinwagt. Der Wind treibt immer mehr Schmutz heran und es wimmelt nur so von umherstreunenden Katzen, die Hinkebein Gesellschaft leisten und das Grundstück von Ratten frei halten.

Metáfora und ich kriechen durch eine Öffnung, die Hinkebein in den Eisenzaun gerissen hat und kaum zu sehen ist.

»Passt auf, sonst stolpert ihr noch. Hier liegt viel rostiges Zeugs rum. Nicht, dass ihr euch daran verletzt.«

»Danke«, sage ich. »Vielen Dank für deine Hilfe.«

»Kommt her, hier sieht euch keiner. Setzt euch hinter die Kisten da.«

»Ich nehme an, du hast wichtige Informationen für uns«, sagt Metáfora. »Du würdest uns doch wohl nicht umsonst hierherkommen lassen, oder?«

»Ich habe äußerst interessante Dinge rausgefunden. Es gibt da ein Unternehmen, das sich die Stiftung unter den Nagel reißen will. Ein Unternehmen für archäologische Ausgrabungen, das sich auf den An- und Verkauf mittelalterlicher Kunstschätze spezialisiert hat. Diese Leute haben sehr viel Einfluss.«

»Hat Stromber was mit ihnen zu tun?«

»Nein, im Gegenteil, sie sind Konkurrenten. Stromber arbeitet mit Del Hierro zusammen. Die beiden wollen nämlich ebenfalls die Stiftung erwerben.«

»So viel ist die Stiftung wert?«, frage ich.

»Das Unternehmen hat den finanziellen Gewinn im Auge, aber Stromber ist an etwas anderem interessiert. Er will um jeden Preis die Stiftung besitzen, egal, was es kostet! Sogar auf euren Namen ist er scharf!«

»Was meinst du? Wieso will er Adragón heißen? Das geht doch gar nicht.«

»Täusch dich da mal nicht! Es gibt ganz legale Möglichkeiten, einen Namen zu stehlen. Und der Handel mit berühmten Namen ist weiter verbreitet, als du dir vorstellen kannst.«

»Aber was genau will er eigentlich? Was will er mit der Stiftung? Und warum will er unseren Namen haben? Was soll der Unsinn?«

»Ich traue mich kaum, dir zu sagen, was ich vermute«, antwortet Hinkebein. »Die Leute haben die seltsamsten Ideen.«

»Sag mir endlich, was du weißt!«

»Ja, spuck’s schon aus«, sagt Metáfora, die vor Neugier fast platzt.

Hinkebein druckst herum. Er traut sich nicht, mit der Wahrheit rauszurücken. Ich glaube, er weiß, dass er mir sehr wehtun wird.

»Bitte, sag’s mir endlich«, dränge ich ihn.

»Also, ich glaube … ich glaube … Stromber will deinen Platz einnehmen!«

»Bist du verrückt? Warum sollte er das wollen, ein Antiquitätenhändler, der so reich ist, dass er gar nicht mehr genau weiß, was er alles besitzt!«

»Ich kenne seine Motive nicht, aber ich versichere dir, dass ich weiß, was ich sage. Der Mann ist wie besessen von dir. Er will du sein!«

»Aber das geht doch gar nicht! Kein Mensch kann ein anderer sein! Man kann jemandem Geld klauen oder seinen Besitz, egal was, aber man kann niemals ein anderer sein!«, rufe ich und versuche, meine eigenen Worte zu glauben. »Du irrst dich bestimmt!«

»Arturo, manche Leute kommen auf die verrücktesten Ideen und tun alles, um sie in die Tat umzusetzen. Ich sage dir, dieser Mann hat es sich in den Kopf gesetzt, deinen Platz einzunehmen! Er will Arturo Adragón sein! Glaub mir!«

Ich bin sprachlos. Nie hätte ich gedacht, dass jemand so sonderbare Ideen haben könnte. Ich hatte ihn in Verdacht, sich die Stiftung aneignen zu wollen, unsere Bibliothek; aber so etwas hätte ich nicht für möglich gehalten.

Hinkebein bietet uns Orangensaft aus einem Karton an, aus dem er selbst eben noch getrunken hat.

»Wie ihr seht, habe ich Wort gehalten. Seit wir unsere Vereinbarung getroffen haben, habe ich keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt. Übrigens, der Saft schmeckt hervorragend.«

Wir trinken einen Schluck. Ich fühle mich wie vor den Kopf geschlagen.

»Was soll ich denn jetzt machen? Was kann ich gegen diesen Wahnsinn tun? Sollen wir zur Polizei gehen?«

»Nein. Ich glaube, du solltest herausfinden, warum er dich ersetzen will. Er ist ja immer ganz in eurer Nähe, da könnt ihr ihn leicht ausspionieren. Aber glaubt mir! Was ich euch erzählt habe, ist die reine Wahrheit!«

»Woher weißt du das eigentlich?«

»Ich hab dir doch gesagt, ich habe viele Kontakte. Wir Archäologen sind Experten darin, Dinge zutage zu fördern, die tief vergraben und gut verborgen sind. Und wenn Stromber seine Absichten auch gut zu verbergen weiß, sind sie doch ziemlich klar. Für mich liegen sie offen auf der Hand, ich zweifle kein bisschen daran.«

Hinkebein klingt so überzeugt von seinen Worten, dass ich langsam anfange, ihm zu glauben. Dieser Mann, den ich immer für einen armen Bettler gehalten habe, erweist sich plötzlich als großer Menschenkenner. Ich habe das Gefühl, er weiß noch mehr, als er zugeben will.

»Glaubt mir, Stromber ist ein böser Mensch! Ich weiß das, weil ich ihm gefolgt bin und gesehen habe, mit wem er Umgang hat. Seine Freunde sind gefährlich. Außerdem bin ich sicher, dass er mit den Typen etwas zu tun hat, die deinen Vater überfallen haben.«

Plötzlich jagen mehrere Katzen an uns vorbei und hinter zwei großen Ratten her, die sich in unsere Nähe gewagt haben. Sie wühlen im Abfall und verschwinden zwischen einigen Mülltüten. Kurz darauf kommen die Katzen zurück. Sie sehen sehr zufrieden aus, rollen sich neben Hinkebein zusammen und lassen sich von ihm das Fell streicheln.

»Wenn sie nicht wären, hätten die Ratten mich schon längst aufgefressen«, sagt er. »Sie passen auf mich auf. Als Gegenleistung bekommen sie viel Liebe von mir. Wusstet ihr, dass Katzen nicht ohne Liebe leben können, genauso wie wir Menschen?«

»Du scheinst dich gut mit Tieren auszukennen«, stellt Metáfora fest.

»Ich hatte immer viele Katzen um mich herum. Schon als kleiner Junge habe ich mich gut mit ihnen verstanden. Tja, und jetzt sind sie meine einzigen Freunde … Außer euch natürlich. Wenn man bedenkt, wer ich mal gewesen bin … Jeder wollte mit mir befreundet sein. Ich wurde respektiert und geschätzt …«

Er fängt an, uns von seiner Zeit als berühmter Archäologe zu erzählen, von seiner Kindheit, seinen Träumen. Nach und nach breitet er sein Leben vor uns aus, und nach einer Weile habe ich das Gefühl, mich in dem Palast zu befinden, in dem Scheherazade dem Sultan die unglaublichen Geschichten aus Tausendundeiner Nacht erzählt. Nach dem zu urteilen, was Hinkebein zum Besten gibt, muss Juan Vatman ein aufregendes Leben geführt haben.

»Warum bist du eigentlich Archäologe geworden?«, fragt Metáfora.

Hinkebein lächelt versonnen, während er in seinen Erinnerungen kramt. Die Frage hat ihn überrascht und er muss erst einmal seine Gedanken ordnen.

»Wegen Troja«, antwortet er nach einer Weile. »Jener legendären Stadt, die dem Erdboden gleichgemacht wurde.«

»Meinst du die Stadt, die wegen Helena zerstört wurde?«

»Genau die! Ich meine die mythische Stadt Troja. Wisst ihr, als ich klein war, habe ich die Geschichte eines Mannes namens Schliemann gelesen. Sein Vater zeigte ihm im Alter von acht Jahren eine Zeichnung von dem brennenden Troja. Dieses Bild beeindruckte den Jungen so sehr, dass er beschloss, sein Leben der Suche nach den Ruinen Trojas zu widmen. Sein Vater tat alles, um ihn davon abzubringen. Er sagte, das sei nur eine Zeichnung, das Produkt der Fantasie eines Künstlers, und diese Stadt habe es nie wirklich gegeben. Doch der Junge versteifte sich darauf, die Ruinen zu finden. Die Abbildung beschäftigte Schliemann dermaßen, dass er, nachdem er viel Geld verdient hatte, sein ganzes Leben dieser Leidenschaft widmete. Und obwohl jeder ihn von seinem Projekt abhalten wollte, fand er die Stadt tatsächlich. Schliemann verwirklichte seinen Traum und fand die Ruinen Trojas! Und das nur, weil er als kleiner Junge ein Bild gesehen hatte, das seiner Fantasie Flügel verlieh. Findet ihr das nicht unglaublich?«

»Natürlich ist das unglaublich«, stimme ich ihm zu. »Ich würde auch gerne etwas im Leben finden, dass mich so träumen lässt wie Schliemann.«

»Träume können ansteckend sein, sie können sich auf andere übertragen. Dieser Mann überzeugte mich davon, dass man ein glücklicher Mensch ist, wenn man einen Traum, ein Ziel hat. Ich bin Archäologe geworden, weil ich versunkene Städte entdecken wollte, vergrabene Schätze, geheime Welten … Schliemanns Geschichte hat mir gezeigt, dass die Welt voller wunderbarer Dinge ist und dass man seine Träume wahr machen kann. Ich wollte meinen Traum leben, wollte eine Illusion verwirklichen.«

Metáfora und ich sehen uns verblüfft an. Hinkebeins Geschichte hat uns die Sprache verschlagen.

»Aber alles ist schiefgegangen. Als ich anfing, erfolgreich zu werden, griff ich immer häufiger zum Alkohol. Er hat meine Träume zunichtegemacht. Jetzt habe ich mich weit von dem jungen Mann entfernt, der einmal davon geträumt hat, Atlantis, das Eldorado und andere verschwundene Orte zu entdecken. Ich bin leer. Und wo ich gelandet bin, seht ihr ja.«

»Aber es besteht doch immer die Möglichkeit, dass man eines Tages einen neuen Traum hat«, sage ich. »Wenn du noch einmal einen Traum haben könntest, wovon würdest du dann träumen?«

»Wenn das möglich wäre, würde ich mich gerne selbst wiederfinden. Ich würde alles dafür geben, noch einmal der junge Juan Vatman zu sein, der einen Traum hatte. Ich würde alles dafür geben, wenn ich noch einmal einen Traum träumen könnte. Aber das ist unmöglich, das Leben gibt uns keine zweite Chance.«

»Das kann man nie wissen«, widerspreche ich. »Vielleicht brauchen wir deine Hilfe und du musst deine Fähigkeiten als Archäologe neu entdecken.«

»Sag so was nicht, Arturo! Du darfst in mir keine Hoffnungen wecken, die dann möglicherweise zerplatzen. Das wäre furchtbar für mich. Wenn ich noch einmal versagen würde, würde ich mich wohl nie mehr davon erholen.«

Seine Stimme klingt so sanft, dass sich die Katzen schnurrend an ihn schmiegen. Er liebkost sie, als wären es seine Kinder. Heute Abend habe ich gelernt, dass jeder von uns verborgene Träume hat und wir aufpassen müssen, dass sie nicht eines Tages einfach verschwinden. Ein Mensch ohne Träume ist verloren.

* * *

Metáfora begleitet mich bis zur Stiftung. Ich glaube, sie hat bemerkt, dass mich etwas bedrückt. Die Unterhaltung mit Hinkebein hat mich traurig gemacht.

»Wir müssen etwas für ihn tun«, sage ich. »Er hat zwar Angst, noch mal zu versagen, aber ich glaube, er würde alles tun, um wieder in seinem Beruf arbeiten zu können.«

»Ja, du hast recht. Es heißt ja, die Hoffnung stirbt zuletzt. Und ich glaube, bei ihm ist noch ein kleines bisschen davon übrig geblieben.«

»Er hat mir so leidgetan, dass ich fast angefangen hätte zu heulen.«

»Siehst du, wie sensibel du bist?«

»So sensibel wie ein Mädchen?«

»Sensibel wie ein Mensch. Wer nicht fähig ist, den Kummer eines anderen zu verstehen, hat jedes menschliche Gefühl verloren. Ich bin stolz auf dich!«

Sie beugt sich zu mir herüber und gibt mir einen Kuss auf die Wange. Dann dreht sie sich wortlos um und geht.

Bevor ich in mein Zimmer gehe, steige ich auf den Dachboden, um mit meiner Mutter zu reden. Ich muss ihr etwas erzählen, bevor ich es vergesse.

»Hallo, Mama, hier bin ich wieder. Heute Abend habe ich eine der interessantesten Geschichten erzählt bekommen, die ich jemals gehört habe. Es ist die Geschichte von meinem Freund Hinkebein, dem einbeinigen Bettler, der früher mal Archäologe war. Er ist ziemlich heruntergekommen, aber tief in seinem Herzen hat er sich einen Traum bewahrt. Er möchte alle versunkenen Städte der Welt entdecken und das sind bestimmt nicht wenige. Er sagt, wir leben auf einem Planeten voller Geheimnisse. Und er sagt, die Erde besteht aus mehreren Schichten und in jeder kann eine Stadt, ein Land oder auch eine ganze Zivilisation verborgen sein. Und er glaubt, dass wir Menschen genauso sind. Voller Geheimnisse. Das hat mich alles so aufgewühlt, dass ich an dich denken musste. Ich habe mich gefragt, ob du vielleicht in mir bist und ob ich irgendwann in der Lage sein werde, dich zu entdecken. Du kannst dir nicht vorstellen, wie gerne ich dich kennenlernen würde, wie gerne ich herausfinden würde, wer du in Wirklichkeit gewesen bist. Ich würde so gern wissen, was sich hinter diesem wunderschönen Bild verbirgt, auf dem du aussiehst wie eine Königin.«

Ich spüre, wie mir eine Träne über die Wange läuft. Metáfora hat recht: Weinen macht uns menschlicher.

»Und ich habe mich auch gefragt, ob es ein Zufall war, dass du in der Wüste gestorben bist, in der Nacht, in der Papa mich in das Pergament gewickelt hat … Ich habe mich gefragt, ob es nicht Schicksal war. Ich bin sogar auf den Gedanken gekommen, dass du vielleicht absichtlich mit Papa in die Wüste gefahren bist, damit die Dinge auf diese Weise geschehen konnten. Hast du etwas damit zu tun, dass ich diese lebhaften Träume habe, durch die ich das Leben auf eine ganz besondere Art wahrnehme? Ich weiß, das klingt verrückt, aber als ich heute Abend Hinkebein zugehört habe, ist die Fantasie mit mir durchgegangen … Und ich habe mich gefragt, welches mein größter Traum ist. Wenn ich jetzt darauf antworten müsste, würde ich sagen, mein größter Traum ist es, mit dir sprechen zu können, dir einen Kuss zu geben und dir zu sagen, wie sehr ich dich liebe.«