XV

Zeichnungen werden
entschlüsselt

Arturo erholte sich sehr gut. Alexias Pflege und die Arznei, die er regelmäßig einnahm, trugen zu seiner Genesung bei. Doch ganz gesund war er immer noch nicht. Er fühlte sich schwach und immer wieder wurde ihm schwarz vor Augen.

Seltsamerweise schien Alexia das nicht sehr zu beunruhigen. Immer wenn Arturo sie danach fragte, war ihre Antwort dieselbe: »Sei unbesorgt. Das Gift ist in deine Blutbahn eingedrungen, und jetzt ist es sehr schwer, es wieder daraus zu entfernen. Aber dir geht es mit jedem Tag besser, bald bist du wieder ganz der Alte, glaub mir.«

Arturo hörte ihr aufmerksam zu und allem Anschein nach glaubte er ihr auch. Doch irgendeine Stimme in seinem Innern sagte ihm, dass etwas nicht in Ordnung war. Er litt inzwischen unter dieser seltsamen Willensschwäche, die es ihm unmöglich machte, eigene Entscheidungen zu treffen.

Eines Morgens brachte man ihn in ein Laboratorium, vor dessen Fenstern durchsichtige Vorhänge hingen, die das grelle Tageslicht milderten. Im hinteren Teil sorgten Fackeln für angenehmes Licht.

Demónicus und Alexia setzten Arturo an einen großen Tisch, auf dem die fünfundzwanzig Zeichnungen aus der ledernen Mappe lagen. Alexia hatte sie an sich genommen, nachdem Arturo sie vor dem Scheiterhaufen gerettet hatte.

»Arturo, weißt du, was diese Zeichnungen bedeuten?«, fragte Alexia. »Kannst du sie uns erklären?«

Arturo zögerte. Er war sich nicht sicher, ob er die Antwort kannte; doch was ihn noch unsicherer machte, war, dass er nicht wusste, ob es richtig war, den beiden die Bedeutung der Zeichnungen zu enthüllen. Eine Million Fragen quälten ihn, auf die er keine Antworten wusste.

»Ich weiß es nicht«, antwortete er schließlich. »Ich glaube, ich habe sie schon einmal gesehen, aber sagen, was sie bedeuten, nein, das kann ich nicht.«

»Streng dich an! Ich bin sicher, dass du es uns sagen kannst, wenn du dich nur bemühst. Und ich wäre doch so glücklich, wenn du etwas für mich tun würdest! Vergiss nicht, ich habe mich von Ratala getrennt, um mich mit dir fürs Leben zu verbinden. Deswegen bitte ich dich, streng dich an!«

»Ja, mein Junge, auch ich würde gerne wissen, was diese Zeichnungen bedeuten«, sagte Demónicus. »Damit könntest du auch deine Treue und Freundschaft unter Beweis stellen. Schließlich wirst du bald zur Familie gehören – und was kann schlimm daran sein, denen zu helfen, die dich lieben?«

Arturo begriff, dass ihm keine andere Wahl blieb. Er musste Demónicus und seiner Tochter, die sich so liebevoll um ihn kümmerten, diesen Gefallen tun. Hin und wieder tauchte vor seinen Augen die Gestalt eines Weisen auf, mit durchdringendem, sanftem Blick und angenehmer Stimme, doch so schnell wie sie gekommen war, verschwand sie auch wieder. Arturo sah Alexia an. Was sollte falsch daran sein, ihr die Bedeutung der harmlosen Bilder zu erklären? Schließlich waren es nur Zeichnungen auf einem Pergament, die für niemanden eine Gefahr bedeuteten.

»Ich glaube, sie stellen Träume dar. Jemand hat furchtbare Albträume, aber auch wunderschöne und sehr hoffnungsvolle Träume.«

»Haben die Träume etwas mit den Buchstaben auf deinem Körper zu tun?«, fragte Alexia und gab ihm die tägliche Arznei zu trinken. »Du hast mir einmal etwas von einer magischen Tinte erzählt. Und von schwarzem Staub. Erinnerst du dich?«

»Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube, die hoffnungsvollen Träume sind magisch, unwirklich. Der Junge, der diese Träume hat, wünscht sie sich vielleicht herbei. Aber ob sie mit den Zeichen auf meinem Körper in Zusammenhang stehen, weiß ich nicht.«

»Und wenn die Buchstaben auf deinem Körper und die Zeichnungen mit derselben Tinte angefertigt wurden?«, fragte Demónicus, der anfing, Zusammenhänge herzustellen. »Wäre das möglich?«

»Ja, das wäre möglich, aber sicher ist es nicht. Die Zeichnungen entstammen der … Fantasie. Sie wurden angefertigt, damit derjenige, der sie sieht, sich daran erfreut. Ich glaube, sie sollten lediglich dem Schmuck dienen. Vielleicht waren sie auch dafür gedacht, ein Buch zu illustrieren.«

»Kann es sein, dass die Hand, die diese … Träume gezeichnet hat, auch die Buchstaben auf deine Haut geschrieben hat?«, fragte Alexia und streichelte Arturos Hand. »Was meinst du?«

Arturo war verwirrt. Die Fragen wühlten so viele Erinnerungen an frühere Ereignisse in ihm auf, dass ihm schwindlig wurde und er fast das Bewusstsein verlor.

»Arturo, hast du irgendwann einmal von den Szenen, die diese Zeichnungen darstellen, geträumt?«, wollte Demónicus wissen. »Hast du ähnliche Träume gehabt?«

»Ich glaube … Ich glaube, ja … Ich habe häufig von Leuten geträumt, die glücklich waren, die mit ihren Familien zusammensaßen bei einem guten Essen. Leute, die in einer gerechten Welt lebten … Aber wann das war, weiß ich nicht mehr. Das ist alles sehr verschwommen.«

Alexia reichte ihm wieder den Becher mit der Arznei und wollte mit der Befragung weitermachen. Doch ihr Vater hielt sie zurück und stellte selbst eine völlig überraschende Frage: »Wo bist du geboren, mein Junge? Erzähl uns alles, was du über dich weißt. Wie lautet dein richtiger Name?«

»Ich kann mich nicht mehr erinnern, wo und wann ich geboren wurde«, antwortete Arturo. »Mein Gedächtnis lässt mich in letzter Zeit im Stich. Ich erinnere mich kaum noch an meine Familie oder meine Freunde. Manchmal glaube ich, es gibt mich gar nicht.«

»Aber an eine gewissen Metáfora erinnerst du dich, oder?«, platzte Alexia heraus.

»Metáfora? Ach ja, das blonde Mädchen. Aber ich kann nicht sagen, zu welcher Phase meines Lebens sie gehört. Ich weiß nur, dass ich sie mit der Sonne in Verbindung bringe. Jemand, der in der Finsternis leuchtet und mir geholfen hat. Ich war lange Zeit alleine, fast mein ganzes Leben lang … irgendwo eingesperrt. Aber an mehr kann ich mich nicht erinnern … Mein Name war immer Arturo Adragón. Von einem anderen weiß ich nichts.«

»Den Nachnamen haben wir dir erst vor Kurzem gegeben, erinnerst du dich nicht?«, fragte Alexia. »Wir haben ihn uns an dem Tag ausgedacht, als du den Drachen getötet hast.«

»Ich soll einen Drachen getötet haben?«

Demónicus fing an, die Geduld zu verlieren. Er stand auf, gab seiner Tochter ein Zeichen und die beiden entfernten sich ein paar Armlängen von Arturo.

»Der Junge steht unter dem Einfluss von Rauschgift und weiß nicht, was er sagt. Aus dem ist nichts herauszukriegen. Wir vergeuden nur unsere Zeit.«

»Ich bin überzeugt, dass er mehr weiß, als es den Anschein hat. Lass mich mit der Befragung weitermachen. Ich bin sicher, dass er mir alles erzählen wird, was ich wissen will.«

»Hoffentlich gelingt es dir und wir können etwas damit anfangen.«

»Ich versichere dir, Vater, er verfügt über magische Kräfte!«

»Ich glaube dir ja, und ich weiß, dass er uns sehr nützlich sein wird. Aber wir müssen mehr aus ihm herauskriegen. Auch ich bin mir sicher, dass er ein außergewöhnliches Geheimnis in sich trägt. Nur wird es nicht leicht sein, es ihm zu entreißen.«

»Ich werde tun, was ich kann.«

»Wenn du es schaffst, bevor der Krieg gegen Königin Émedi beginnt, würde uns das sehr helfen.«

Demónicus sah zu Arturo hinüber. Der Junge stand wie ein verwirrtes Kind da und starrte mit leerem Blick auf die Zeichnungen. Der Finstere Zauberer verließ das Laboratorium.

Alexia setzte sich wieder neben Arturo und streichelte seine Hand.

»Liebster Arturo, mein Vater sagt, er vertraut dir und du wirst den Drachenkampf gegen Ratala gewinnen. Und ich glaube das ebenfalls.«

»Welchen Drachenkampf?«

Alexia begriff, dass sie eine neue Formel entwickeln musste, damit er seine Geisteskraft zurückgewann. Vielleicht hatte ihr Vater recht und sie übertrieb mit dem Trank der Folgsamkeit, den sie ihm bis jetzt verabreicht hatte.

»Ich sehe, es geht dir schon viel besser. Du brauchst die Medizin nicht mehr zu nehmen. Von jetzt an wirst du nur noch Obstsäfte trinken, die werden dir besser schmecken. Komm, wir wollen uns wieder die Zeichnungen ansehen … Ist eine dieser Figuren Metáfora? Bist du irgendwo darauf zu sehen? Welche Zeichnung verbirgt das Geheimnis deiner Buchstaben?«

»Metáfora ist das Mädchen da, das auf einem Fest tanzt«, sagte Arturo. »Sie lächelt.«

Alexia sprang wie elektrisiert auf und beugte sich über das Pergament. Wenn dieses Mädchen Metáfora war, und wenn sie vor vielen Jahren auf einer Zeichnung festgehalten worden war, warum behauptete Arturo dann, dass er sie nur aus seinen Träumen kannte?