XVI

Das Geheimnis des
Alchemisten

Endlich ist der Tag gekommen, an dem mein Vater seinen Vortrag hält. Einen Vortrag über das Thema, von dem er mehr als jeder andere versteht: Der Stein der Weisen und die Alchemie.

Es werden sehr wichtige Leute kommen. Adela hat die Sicherheitsvorkehrungen verschärft und drei weitere Wachmänner eingestellt. Sie befürchtet immer noch, dass wir überfallen werden könnten. Ich nehme an, dass es ihre Pflicht ist, so zu denken; aber ehrlich gesagt, so langsam fängt sie an, mir auf die Nerven zu gehen.

»Stellen Sie sich vor, es passiert etwas, wenn der Vortragssaal voller bedeutender Persönlichkeiten ist!«, hat sie vor ein paar Tagen zu meinem Vater gesagt. »Was meinen Sie, was dann los ist? Ich werde es Ihnen sagen: Dann wird die Polizei tagelang das Gebäude durchsuchen und Sie müssen die Stiftung schließen. Von der schlechten Publicity, die das für Sie bedeuten würde, ganz zu schweigen. Die Presseleute würden sich auf das Thema stürzen und so lange darin herumstochern, bis sie etwas gefunden hätten, worüber sie berichten könnten. Das wäre das Ende der Stiftung. Deswegen ist es besser, vorsichtig zu sein und sich bedeckt zu halten, als sich hinterher Vorwürfe zu machen. Erinnern Sie sich bitte daran, wie sich jemand unter die Besucher gemischt hat und wir ihn nicht finden konnten. Wir nehmen an, dass er nur herumspionieren wollte … Aber wir wissen bis heute nicht, auf welchem Weg er die Stiftung verlassen hat.«

Daraufhin hat mein Vater Adela freie Hand gelassen, alle nötigen Maßnahmen zu ergreifen. Jetzt stehen wir unter ständiger Beobachtung.

Nach und nach treffen die Gäste ein. Alles deutet darauf hin, dass wir ein volles Haus haben werden. Offensichtlich ist das Interesse für den Stein der Weisen sehr groß. Alle wollen dem großen Geheimnis auf die Spur kommen, das schon die Alchemisten zu lüften versucht haben. Manche sagen, mit Erfolg, andere behaupten, sie seien gescheitert. Mal sehen, was mein Vater heute dazu sagen wird.

Metáfora und ich waren den ganzen Nachmittag damit beschäftigt, den Vortrag meines Vaters vorzubereiten. Wir haben die Tonanlage getestet, um sicher zu sein, dass das Mikrofon einwandfrei funktioniert. Norma hat dafür gesorgt, dass eine Flasche Wasser, Gläser und Blumen auf dem Tisch stehen. Auch die Punktstrahler für den Bühnenraum sind ausgerichtet. Alles ist bereit.

»Jetzt können wir nur hoffen, dass dein Vater nicht zu aufgeregt ist«, sagt Metáfora.

»Er wird seine Sache bestimmt gut machen, da bin ich ganz sicher. Er hat Erfahrung mit so was und ist es gewohnt, vor großem Publikum zu sprechen. Komm, wir setzen uns auf unseren Platz.«

Der Saal ist proppenvoll. Mehr als zweihundert Personen warten gespannt darauf, den Vortrag zu hören, darunter Journalisten, Historiker und andere Wissenschaftler.

Metáfora und ich sitzen in der fünften Reihe, die für Familie und Freunde reserviert ist. Neben uns sitzen Norma, General Battaglia, Leblanc, Stromber und Sombra, der ausnahmsweise auch gekommen ist. Nur Hinkebein fehlt.

Das Deckenlicht geht aus und die Punktstrahler beleuchten einen leeren Tisch auf der Bühne. Kurz darauf tritt mein Vater nach vorn und wird mit Applaus begrüßt, was mich sehr bewegt. Nachdem die Journalisten ein paar Fotos gemacht haben und mein Vater das Publikum begrüßt hat, setzt er sich an den Tisch. Im Saal wird es mucksmäuschenstill.

»Zunächst möchte ich Ihnen danken, dass Sie zu dieser Veranstaltung gekommen sind«, beginnt mein Vater. »Ich muss Ihnen sagen, dass es ein bedeutsamer Moment für mich ist. Was ich Ihnen gleich vortragen werde, ist die Frucht jahrelanger Forschung über den sogenannten Stein der Weisen, mit dessen Suche viele Alchemisten einen Großteil ihres Lebens verbracht haben.«

Ein leises Raunen erfüllt den Saal. Doch nur kurz, dann herrscht wieder absolute Stille.

»Gestatten Sie mir gleich zu Beginn etwas klarzustellen. Die Bedeutung, die die Alchemisten dem Stein der Weisen beimaßen, ist nicht die, die ihm heutzutage allgemein gegeben wird. Meine These ist die folgende: Die stärksten Waffen der Alchemisten waren nicht etwa Reagenzgläser, Schmelztiegel oder andere Werkzeuge, auch nicht Substanzen wie Quecksilber, Eisen oder Öl … Die stärkste Waffe der Alchemisten war die Schrift!«

Mein Vater macht eine kurze Pause, dann fährt er fort.

»Für die Alchemisten war die Schrift der Anfang und das Ende von allem, und wenn sie an irgendeine Magie geglaubt haben, dann an die Kraft des geschriebenen Wortes. Sie wussten sehr genau, dass das Gedächtnis vergänglich ist, und hatten bald begriffen, dass sich das, was nicht schriftlich festgehalten wird, im Dunkel der Zeit verliert. Deswegen war es für jeden Alchemisten wichtig, lesen und schreiben und, in manchen Fällen, auch zeichnen zu können. Sie waren wahre Künstler des geschriebenen Wortes. Ihre Formeln verbargen sich zwischen den geheimnisvollen Zeilen ihrer Texte, die nur sie selbst und einige ihnen nahestehende Personen zu entschlüsseln in der Lage waren. Die Schrift schützte ihre Entdeckungen.«

Im Saal herrscht aufmerksames Schweigen.

»Die Stärke und die Macht der Alchemisten beruhten nicht nur auf ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern auch und vor allem auf ihrer Fähigkeit zu schreiben. Für sie bedeutete der wahre Stein der Weisen nicht so sehr, Blei in Gold verwandeln zu können oder die Formel der ewigen Jugend zu finden. Für sie lag seine Bedeutung in den Buchstaben, die sie minutiös auf Pergamente malten.«

Metáfora sieht mich überrascht an.

»Wie schön er das ausdrücken kann!«, flüstert sie mir zu.

»Wer also ihre Formeln verstehen will, muss damit beginnen, ihre Kalligrafie zu studieren«, fährt mein Vater fort. »Die Alchemisten begnügten sich nicht damit, ihre Wörter niederzuschreiben, nein, sie versahen jeden Buchstaben mit besonderen Merkmalen und machten sie auf diese Weise einzigartig. Und diese besonderen Merkmale verliehen jedem Zeichen außer der üblichen, bekannten eine zusätzliche Bedeutung. So kam es, dass jeder Buchstabe verschiedene Dinge bezeichnen konnte.«

Oh nein! Mein Handy vibriert!

»Einige Buchstaben hatten Drachenschwänze, Mäuseohren oder Hühnerklauen; andere ähnelten Sonnen, Monden, Wolken, Wasser, Feuer … Jeder Alchemist fügte den Buchstaben eine zusätzliche Eigenschaft hinzu und erweiterte so ihren Inhalt, das heißt, ihre Bedeutung. Diese verborgenen grafischen Symbole blieben viele Jahrhunderte hindurch unentdeckt.«

Ich habe eine SMS bekommen, aber ich weiß nicht recht, wie ich sie unauffällig lesen kann.

»Durch meine Forschungsarbeit bin ich zu dem Schluss gekommen, dass die Sprache der Alchemisten so geheim war wie ihre Formeln. Man kann sagen, die Buchstaben und die Schrift überhaupt waren für sie die wichtigsten Bestandteile auf dem Weg zu dem Ziel, das sie verfolgten: ihre eigene Unsterblichkeit.«

Die Botschaft ist von Hinkebein:

Die Ratten sind im Gebäude.

»Der Stein der Weisen, der ihnen das ewige Leben verliehen hat, der Brunnen ewiger Jugend … das ist das, was sie niedergeschrieben haben, und weniger das, was sie erfunden oder entdeckt haben.«

»Wohin gehst du?«, fragt mich Metáfora.

»Die Formeln und die Entdeckungen verschwinden mit der Zeit, aber was geschrieben steht, das bleibt. Die Schrift ist beständiger als ein Fels und kostbarer als der Stein der Weisen. Die Schrift ist unsterblich.«

»Zur Toilette, ich bin gleich zurück.«

Ich verlasse den Saal so unauffällig wie möglich, was mir jedoch nicht besonders gut gelingt, da ich der Einzige bin, der von seinem Platz aufsteht und hinausgeht.

»Sie beherrschten die Kunst des Schreibens …«

Ich renne in mein Zimmer und wähle Hinkebeins Nummer.

»Was bedeutet die SMS?«, frage ich ihn ohne Einleitung.

»Sie sind drin! Sie rauben euch aus!«

»Jetzt?«

»Genau in diesem Augenblick!«

»Aber das kann nicht sein – mein Vater hält gerade einen Vortrag!«

»Für sie der günstigste Moment … Tu was!«

Er hat aufgelegt. Was soll ich machen? Adela Bescheid sagen? Die Polizei anrufen? Was soll ich machen? … Erst mal tief durchatmen … Ich glaube, das Beste wird sein, wenn ich mich erst mal unauffällig umsehe. Ja, genau, ich werde so tun, als wäre nichts.

Ich gehe nach unten in die Halle. Adela beobachtet mit ihren Leuten den Eingang.

»Adela, kann ich dich mal einen Moment sprechen?«

»Arturo! Was machst du denn hier?«, fragt sie mich.

»Ich muss dir was erzählen …«

»Das geht jetzt gerade nicht. Du siehst doch, ich bin sehr beschäftigt.«

»Aber …«

»Bitte, stör mich nicht.«

Ich beschließe also, zuerst alleine einen Rundgang zu machen und mich umzusehen. Während ich durchs Gebäude gehe, überlege ich, wo die Typen wohl sein könnten. Ich weiß nicht mal, wie viele es sind oder wie sie hereingekommen sind. Hinkebein hat gesagt, sie haben sich den günstigsten Moment ausgesucht, also werden sie gewusst haben, dass heute der Vortrag stattfinden würde … Sie müssen sich irgendwo versteckt haben … Es würde mich wundern, wenn sie sich unter die Gäste gemischt hätten, denn die sind alle von Adela kontrolliert worden. Also müssen sie irgendwie zwischen … Der Lieferwagen der Catering-Firma! Der Fahrer ist nicht derselbe wie beim letzten Mal … Genau, die Typen haben den richtigen Fahrer ausgeschaltet und durch einen anderen ersetzt! Und höchstwahrscheinlich sind auch die Kellner falsch. Das heißt, wenn der Vortrag in etwa einer Stunde beendet ist, werden sich die Ratten mit ihrer Beute aus dem Staub gemacht haben!

Wenn ich richtig informiert bin, müssten die Kellner jetzt gerade in der Küche stehen und das Essen vorbereiten. Ich schleiche mich also zur Küche und sehe nach – niemand da. Als ich wieder zurückkomme, ist Adela in eine Diskussion mit ihren Wachmännern vertieft; wahrscheinlich geht es darum, welche Sicherheitsmaßnahmen sie als Nächstes ergreifen werden. Ich weiß nicht warum, aber ich beschließe, ihr im Moment nichts zu sagen. Gerade als ich mich frage, ob ich das Richtige tue, sehe ich, dass die Tür zur Kellertreppe einen Spaltbreit offen steht. Bestimmt sind sie da unten!

Ich werde nur kurz nachsehen, und wenn ich etwas Verdächtiges sehe, laufe ich schnell nach oben und hole Hilfe.

Vorsichtig stoße ich die Tür auf und sehe, dass über der Treppe Licht brennt. Ich gehe langsam nach unten, versuche, so wenig Lärm wie möglich zu machen … Dann verstecke ich mich in einer dunklen Ecke, hinter einem Pfeiler, und warte.