XXII
Das Buchstabenmuseum
Metáfora und ich haben uns mit Hinkebein im Museum des Buches verabredet, einem düsteren Ort, an dem sich nur wenige Leute aufhalten und wir ungestört reden können. Wir brennen darauf, über den Einbruch zu sprechen.
Am Museumseingang müssen wir durch den bogenförmigen Metalldetektor gehen, bevor wir die große Ausstellungshalle betreten dürfen. Es herrscht eine bedrückende Stille, und auch die spärliche Beleuchtung trägt zu der unheimlichen Atmosphäre bei.
In den Glasvitrinen an den Wänden sind besonders wertvolle Bücher ausgestellt, darunter eine dreisprachige Bibel, Pergamente, die älter sind als die, die wir in der Stiftung haben, römische und mittelalterliche Schriften und Runen. Auch in der Mitte der Halle sind einige Ausstellungsstücke zu sehen, zum Beispiel Schriften aus fast prähistorischer Zeit, die beweisen, dass der Mensch ungefähr gleichzeitig angefangen hat zu sprechen und zu schreiben. Zwei Dinge, die es uns nun, nach so vielen Jahrhunderten, ermöglichen, unsere Gedanken und Gefühle anderen Menschen mitzuteilen.
»Ich habe in der Zeitung gelesen, dass sie zu dritt waren«, sagt Hinkebein. »Und dass man sie verhaftet hat.«
»Es waren fünf«, korrigiere ich ihn. »Der Fahrer und ein Laufbursche gehörten auch noch dazu, aber sie sind abgehauen, als sie mitgekriegt haben, dass was schiefging. Ich habe sie gesehen, bevor ich in den Keller gegangen bin.«
»Ich hab euch ja gesagt, das ist eine sehr gefährliche Bande!«, erinnert Hinkebein uns.
»Sie hatten eine Pistole und hätten ihn beinahe erschossen«, fügt Metáfora hinzu. »Sein Leben hing an einem seidenen Faden.«
»Ich konnte doch nicht einfach tatenlos zusehen, wie sie unsere Schätze aus dem Keller räumen.«
»Du hast dein Leben aufs Spiel gesetzt. Das war nicht gut. Du hättest eure Sicherheitschefin alarmieren müssen. Dafür habt ihr sie ja schließlich. Beim nächsten Mal passt du besser auf«, ermahnt mich Hinkebein. »Diese Leute machen kurzen Prozess.«
»Du hast ja recht.«
»Was wollten sie denn mitnehmen?«
»Das ist es ja, was mir Sorgen macht! Sie hatten alles genau geplant. Sind direkt in den Keller gegangen, um die besten Objekte in Kisten zu packen. Die kunstvollsten Schwerter und Schilde, alles sehr wertvolle Stücke. Ich verstehe das nicht.«
»Klar, Mann, die haben sich nicht die ganze Mühe gemacht, um einen Blumentopf mitgehen zu lassen, oder?«, lacht Hinkebein.
»Ich will damit sagen, nur wenige Leute wissen, dass gerade diese Sachen im ersten Keller aufbewahrt werden. Und die wenigen, die das wissen, gehören alle zur Stiftung.«
»Bis auf den General«, widerspricht Metáfora. »Er gehört nicht zur Stiftung.«
Wir bleiben vor einer Vitrine stehen. Auf einem Schild steht: Die Schreibtechnik ist so alt wie die Menschheit. Sie hat zur Entwicklung des Denkens beigetragen. Hinter dem Glas liegt ein Pergament aus Ägypten.
Es ist so alt, dass es in Stücke zerfiele, wenn jemand es nur anpusten würde.
»Ihr glaubt doch wohl nicht wirklich, dass der General die Einbrecher informiert hat?«, frage ich.
»Nein, ich will damit nur sagen, dass er weiß, was sich in den beiden Kellern befindet«, stellt Metáfora klar. »Mehr nicht.«
»Wir können niemandem trauen«, warnt Hinkebein. »Wir dürfen keine Möglichkeit ausschließen. Tatsache ist, dass diese Typen genau wussten, wo sich die wertvollsten Stücke befinden. Jemand muss es ihnen erzählt haben.«
»Oder sie haben uns ausspioniert«, sage ich. »Es könnte doch sein, dass sie mithilfe irgendeines Systems herausgefunden haben, was nur wenige wissen. Da gibt es viele Abhörtechniken … und Videokameras …«
»Das wird ja ein richtiger Spionagefilm!«, unterbricht mich Metáfora.
»Arturo hat recht. Heutzutage gibt es ausreichend Technik, mit der man sogar rauskriegen kann, was wir denken. Man kann Telefone anzapfen, Bilder aus großer Entfernung aufnehmen, durch Wände abhören … Solche Systeme gibt es in jedem Laden, und jeder kann sie kaufen – deswegen dürfen wir nichts ausschließen.«
Wir gehen weiter. In einer noch schummrigeren Ecke stehen verschiedene Ausgaben von Don Quijote in mehreren Sprachen. Wir schauen uns die Bücher neugierig an, denn ein Werk der Weltliteratur in einer Schrift geschrieben zu sehen, die man nicht kennt, finde ich unglaublich spannend. Noch so ein Wunder der Schreibkunst! Der Buchdruck war eine der wichtigsten Erfindungen der Zeitgeschichte.
»Vor allem habe ich jetzt Angst, dass sie wiederkommen«, sage ich.
»Das ist nicht auszuschließen. Sie wissen, dass die Stiftung mit wertvollen Gegenständen vollgestopft ist, und werden keine Ruhe geben, bevor sie haben, was sie wollen.«
»Da besteht keine Gefahr«, sagt Metáfora. »Es ist kaum anzunehmen, dass sie es aus dem Gefängnis heraus versuchen werden.«
»Da wäre ich nicht so sicher. Solche Banden sind weit verzweigt. Wenn einige von ihnen von der Polizei geschnappt werden, treten sofort andere an ihre Stelle«, erklärt Hinkebein. »Es existieren sogar regelrechte Kandidatenlisten. Wie bei diesen Castings, die in letzter Zeit so in Mode sind. Bestimmt organisieren sie sich gerade um und planen den nächsten Einbruch.«
Wir sind jetzt im hinteren Teil des Saales. Es herrscht fast völlige Dunkelheit. Hier liegen ganz außergewöhnliche Bücher und Pergamente.
»Da ist noch etwas, was mir einfach nicht aus dem Kopf geht«, sage ich.
»Deine Träume? Beschäftigen die dich immer noch?«, fragt Metáfora und tritt näher an eine der Vitrinen heran.
»Nein, ich muss an etwas denken, was Sombra neulich gesagt hat. Er hat von den ›Tiefen der Stiftung‹ gesprochen. Ich weiß nicht, was er damit gemeint hat – die Tiefen der Stiftung!«
»Vielleicht hat er das im übertragenen Sinne gemeint. Du weißt schon … Vielleicht bezog sich das auf irgendwelche Geheimnisse oder auf die Geschichte der Stiftung«, überlegt Metáfora.
»Aber genauso gut kann er die verschiedenen Kellerräume gemeint haben«, sagt Hinkebein. »Wie viele Keller hat das Gebäude?«
»Drei«, antworte ich. »Es gibt drei Ebenen unter dem Erdgeschoss.«
»Bei drei Kellern kann man in der Tat von Tiefe sprechen«, sagt Hinkebein. »In der Archäologie ist das sehr viel. Drei Ebenen können jede Menge Geheimnisse bergen …«
»Ich habe das Gefühl, dass es im dritten Keller etwas sehr Geheimes gibt. Einmal hab ich meinen Vater und Sombra hinuntergehen sehen. Als ich sie am nächsten Tag gefragt habe, haben sie es abgestritten, und als ich nicht lockergelassen habe, haben sie so getan, als wäre es unwichtig. Vielleicht hat Sombra den dritten Keller gemeint.«
»Du kannst ja mal versuchen hinunterzugehen, wenn sie nicht da sind.«
»Dazu brauche ich einen Schlüssel. Aber ich weiß nicht, wo er ist. Sie haben ihn gut versteckt.«
»Mann, der Schlüssel kann doch nicht das Problem sein! Ich hab in meinem Leben schon alle möglichen Türen ohne Schlüssel geöffnet. Es gibt kein Schloss, das ich nicht aufkriege.«
»Könntest du mir dabei helfen?«
»Uns!«, korrigiert mich Metáfora. »Uns dabei helfen. Ich möchte auch dabei sein.«
»Hör mal, mein Junge, stellst du dir das nicht etwas zu einfach vor? Eine Sache ist es, heimlich für dich zu arbeiten, aber etwas ganz anderes ist es, einen Einbruch zu begehen.«
»Das ist kein Einbruch, sondern eine Arbeit, mit der ich dich beauftrage. Du kriegst sie auch extra bezahlt!«
»Na ja, das ist was anderes«, sagt Hinkebein. »Ich kann’s ja mal versuchen.«
Wir haben den Rundgang beendet. Jetzt erst merke ich, dass nur wenige Besucher hier sind, was ich schade finde.
»Also abgemacht! Ich sag dir Bescheid, wenn die Gelegenheit günstig ist. Ich möchte unbedingt wissen, was sich in dem dritten Keller befindet.«
»Hoffentlich keine unangenehme Überraschung«, sagt Metáfora.
»Vermutlich historische Zeugnisse«, sagt Hinkebein. »Ganz bestimmt. Ich freue mich darauf, sie mit euch bestaunen zu können. Wenn es um Archäologie geht, kenne ich mich aus.«
Wir verlassen das Museum des Buches und werden von gleißendem Tageslicht geblendet. Nach dem Halbdunkel im Museum müssen sich unsere Augen erst einmal daran gewöhnen.
***
»Hallo, Mama, da bin ich wieder. Ich besuche dich jetzt oft, denn in letzter Zeit überschlagen sich die Ereignisse. Neulich wäre ich beinahe umgebracht worden. Ein paar Typen sind in die Stiftung eingedrungen und wollten wertvolle Kunstschätze aus dem Keller stehlen. Ich habe sie überrascht und musste mit ihnen kämpfen, um zu verhindern, dass sie sich mit den Sachen aus dem Staub machen. Aber ich musste auch um mein eigenes Leben kämpfen. Ich hab es niemandem erzählt, aber es war ein tolles Gefühl für das zu kämpfen, was mir viel bedeutet. Auch wenn ich Riesenangst hatte. Das erste Mal in meinem Leben musste ich mit einer derart schwierigen Situation fertig werden – und ich habe es geschafft! Ich war überhaupt nicht feige! Ich habe wie ein tapferer Ritter aus dem Mittelalter gekämpft, wie der, der mir immer wieder in meinen Träumen erscheint.«
Ich schweige eine Weile, während ich mir mit der Hand über die Stirn streiche.
»Und noch etwas anderes ist passiert. Ich habe es vor allen geheim gehalten, sogar vor Papa. Aber dir will ich es erzählen. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, aber … Jemand hat mich gerettet. Erinnerst du dich noch, dass ich dich vor Kurzem nach dem Drachen gefragt habe? Also, er war es, der mir geholfen hat. Ich habe gespürt, wie er zum Leben erwachte und sich von meiner Haut gelöst hat, um den Mann zu attackieren, der mich geschlagen hat. Er hat ihn in den Hals gebissen und hätte ihn um ein Haar aufgefressen. Ich wusste, dass er irgendeine Macht hat, aber an dem Abend ist mir klar geworden, dass er etwas ganz Besonderes ist. Ich weiß nicht, wie er auf meine Stirn gekommen ist, aber ihm verdanke ich es, dass ich noch lebe. Die Leute im Mittelalter waren immer der Meinung, Drachen hätten außergewöhnliche Kräfte. Ich hätte aber nie gedacht, dass sie so stark sind. Ich habe schon viel über sie gelesen, aber erst jetzt fange ich an, sie zu verstehen. Sie sind treu und mutig und dienen einer gerechten Sache. Es gibt zwar auch bösartige Drachen, ich weiß, aber ich glaube, sie sind nur so böse, weil jemand sie zwingt, böse zu sein. Es ist nicht so, dass ich jetzt Angst habe. Nach dem, was ich bei dem Einbruch erlebt habe, habe ich vor nichts mehr Angst. Ich glaube, ich werde erwachsen.«
Ich stehe auf, gehe zum Bild meiner Mutter und streichle es.
»Bald gehe ich hinunter in den dritten Keller, zusammen mit Hinkebein und Metáfora. Es wird Zeit, dass ich herausfinde, was da unten ist. Ich habe eine seltsame Vorahnung … Mir ist, als würdest du mich bitten, dorthin zu gehen, als wolltest du es. Ich spüre, dass du mich rufst, Mama. Ich denke, Stück für Stück werde ich verstehen, was damals in der Wüste geschehen ist – in der Nacht, in der du dein Leben für meines gegeben hast.«