III

Rückkehr nach Ambrosia

Nach einem ermüdenden Ritt erreichten Arquimaes, Arturo und Crispín das Hochplateau der Weißen Berge. Sie waren so erschöpft, dass sie das Rudel Wölfe nicht bemerkten, das ihnen schon seit geraumer Zeit folgte.

»Die Landschaft kommt mir vertraut vor«, sagte Arturo und zeigte auf einen schneebedeckten Berg, der sich am Horizont abzeichnete. »Wir waren schon einmal hier, nicht wahr?«

»Ja, wir befinden uns im Tal von Ambrosia«, antwortete Arquimaes. »Gleich werden wir das Kloster sehen.«

»Aber Ambrosia existiert doch nicht mehr«, warf Crispín ein. »Demónicus’ Männer haben es zerstört.«

»Was wir suchen, ist ganz bestimmt nicht zerstört«, versicherte der Weise. »Es wird die Jahrhunderte überdauern.«

»Was kann an so einem einsamen Ort für uns von Interesse sein?«, fragte Arturo. »Hier gibt es kein Leben, hier gibt es nichts.«

»Sag das nicht, Arturo. Leben entsteht immer und überall. Sogar die Elemente haben ein eigenes Leben. Das ist das Wunder der Erde.«

Unerwartet kam ein Schneesturm auf und sie mussten in einer Felshöhle Zuflucht suchen. Sie machten ein kleines Feuer und kochten Bohnen mit Fleisch. So kamen sie wieder zu Kräften. Da die Gefahr bestand, entdeckt und überfallen zu werden, taten sie kein Auge zu und warteten geduldig auf den anbrechenden Tag. Am nächsten Morgen war keine Wolke mehr zu sehen und die Sonne stand goldgelb am Himmel. Es versprach ein schöner Tag zu werden.

Nach dem Frühstück stiegen sie wieder auf die Pferde und die letzte Etappe ihrer Reise begann.

Gegen Mittag, als die Sonne gerade ihren höchsten Stand erreichte, erblickten sie den Ort, an dem vor noch gar nicht langer Zeit Ambrosia gestanden hatte, die Abtei der geschicktesten Kalligrafen der Welt.

»Ich weiß nicht, ob ich den Anblick der Überreste von Ambrosia ertrage«, gestand Arturo. »Das zerstörte und verlassene Kloster zu sehen wird mir das Herz zerreißen.«

»Arturo, mein Freund, mir geht es nicht anders, glaube mir«, tröstete ihn Arquimaes. »Ich würde gerne wissen, was aus meinen Brüdern geworden ist und aus den Mönchen, die es nicht nach Emedia geschafft haben.«

Crispín fühlte sich mit dem Kloster nicht so eng verbunden wie seine Gefährten. Er hörte ihnen ein wenig erstaunt zu, denn für ihn war Ambrosia nichts weiter als ein Haufen Steine gewesen, in dem Mönche gelebt hatten.

»Seht mal, Meister, da drüben, die höchste Mauer von Ambrosia«, sagte Arturo kurz darauf. »Sie wenigstens steht noch.«

»Ja, einige Mauern sind erhalten geblieben«, stimmte Arquimaes zu. »Ambrosia stand auf soliden Fundamenten.«

»Da ist Rauch!«, rief Crispín. »Aber doch wohl nicht von dem Brand. Dafür ist zu viel Zeit vergangen.«

Überraschenderweise entdeckten sie Zeichen von Leben in und vor den Ruinen. Einige Menschen hatten offenbar ein paar Hütten errichtet, andere hatten die Mauerreste zu ihrem Heim gemacht.

»Was habe ich dir gesagt?«, bemerkte Arquimaes. »Immer und überall wird neues Leben geboren. Wo das Feuer einen Ort des Friedens vernichtet hat, entsteht jetzt vielleicht ein wohlhabender Marktflecken. So etwas kann niemand vorhersagen.«

»Man muss verrückt sein, um sich an so einem gottverlassenen Ort niederzulassen«, sagte Crispín. »Diese Leute wissen nicht, was sie tun.«

»Warum denn nicht?«, widersprach der Alchemist. »Hier gibt es alles, was man zum Leben braucht: fruchtbares Land, einen Fluss, gesunde Luft … Man hat schon in unwirtlicheren Gegenden blühende Ortschaften errichtet. Es ist alles eine Frage der Zeit. Und außerdem ist die Lage strategisch gut gewählt, man ist sicher vor Überfällen.«

Um keinen Verdacht zu erregen, machten die drei Freunde eine halbe Meile vor den Ruinen halt. Im Schutze eines großen Baumes, direkt neben einem Fluss, konstruierten sie aus ihren Decken ein Zeltdach. Dann befreiten sie die Pferde von ihren Lasten und Crispín gab ihnen zu fressen und zu saufen.

Nach einer Stunde gingen sie zu Fuß zu der Stelle, an der sich die meisten Menschen aufhielten. Ganze Familien hausten in den Ruinen und hatten dort, wo die Steine, Mauern und Balken nicht ganz verkohlt waren, ein Zuhause gefunden.

»Wer sind sie?«, überlegte Crispín. »Woher kommen sie?«

»Das sind Bauern, die man ins Unglück gestürzt hat«, erklärte Arquimaes. »Sie sehen hier eine Möglichkeit, ein neues Leben zu beginnen. Mittellose Leute, vom König verfolgt, Unglückliche, die nicht wissen, wohin. Wir leben in einer Zeit, in der viel Ungerechtigkeit herrscht. Es gibt zu viele arme Menschen ohne Ausweg.«

»Gibt es für sie denn keinen besseren Ort, um sich niederzulassen?«

»Doch, im Gefängnis oder in der Sklaverei. Die habgierigen Könige gönnen ihnen nicht mal die Kräuter, die sie auf ihren Feldern finden. Sie verbieten ihnen zu jagen, geben ihnen keinen Fußbreit von ihrem Land ab, aber Steuern verlangen sie von ihnen, für den Schutz, den sie ihnen gewähren. In diesem abgelegenen Tal hier können sie fischen oder Vögel abschießen, ohne Angst haben zu müssen, dafür bestraft zu werden. Sie können Gemüse anpflanzen und ihr Vieh weiden lassen. Ich glaube, die Ruinen sind für diese Leute ein Geschenk des Himmels. Es freut mich zu sehen, dass Ambrosia am Ende für so viele Menschen von Nutzen ist.«

Drei bewaffnete Männer stellten sich ihnen in den Weg. Arturo erkannte sogleich die unverwechselbaren Rüstungen und Helme von Oswalds Soldaten wieder, die Ambrosia zerstört hatten.

»Halt, Fremde!«, befahl einer von ihnen, der einen ziemlich wüsten, buschigen Bart hatte. »Was wollt ihr hier?«

»Nichts Besonderes«, antwortete Arquimaes. »Ich suche meinen Bruder, er war Mönch in dieser Abtei. Vielleicht könnt ihr mir sagen, ob er noch lebt und wo ich ihn finden kann.«

»Wie heißt dein Bruder?«

»Tránsito.«

»Ist das der mit den Kritzeleien?«

»Was für Kritzeleien meinst du?«, fragte Arquimaes.

»Wir sind euch keine Auskunft schuldig, wir sind Steuereintreiber«, mischte sich ein Mann ein, der eine schmutzige Binde über einem Auge trug. »Ihr müsst bezahlen, wenn ihr hierbleiben wollt. Eure Pferde haben Wasser gesoffen und ihr habt hier euer Zelt aufgeschlagen. Das hat seinen Preis.«

»Ich darf dich daran erinnern, dass dieses Land den Mönchen von Ambrosia gehört«, entgegnete der Weise.

»Wir sind Steuereintreiber«, wiederholte der Mann und hob seine Lanze. »Alle, die hier durchreiten oder hierbleiben wollen, müssen zahlen. Fünf Goldstücke pro Kopf und dasselbe noch mal für jedes Pferd.«

»Dreißig Goldstücke!«, rief der Alchemist aus. »Ihr scherzt wohl?«

»Wenn ihr nicht zahlt, nehmen wir euch die Pferde ab.«

Arquimaes gab keine Antwort. Ihm war aufgefallen, dass Arturo lange geschwiegen hatte. Er schien etwas im Schilde zu führen.

»Und an wen müssen wir bezahlen?«, fragte der Junge.

»An mich!«, sagte der mit dem Bart. »Ich bin der Schatzmeister.«

»Und du gibst mir eine Quittung?«

»Was? Wovon sprichst du? Was soll ich dir geben?«

»Eine Quittung. Du weißt schon, ich gebe dir Geld, und du unterschreibst ein Papier, auf dem steht, dass ich dich bezahlt habe«, erklärte Arturo.

Die drei Männer brachen in schallendes Gelächter aus. Sie fanden es lustig, dass ein Junge in einem schmutzigen schwarzen Mantel von ihnen ein unterschriebenes Papier verlangte. Von ihnen, die gar nicht schreiben und lesen konnten!

»Einen Tritt in den Arsch kannst du kriegen!«, sagte der dritte Mann, der bis jetzt schweigend dabeigestanden hatte. »Und ihr beiden anderen auch!«

Arquimaes trat einen Schritt zurück, und die Soldaten dachten schon, er würde die geforderte Summe zahlen. Doch im nächsten Moment merkten sie, dass sie sich geirrt hatten.

Arturo zog sein Schwert aus der Scheide, die er unter dem Mantel verborgen hatte, und hielt es dem Bärtigen an die Kehle. Crispín holte ein Messer aus dem Ärmel und stürzte sich auf den Mann mit der Augenbinde. Und Arquimaes nahm die Schnur, die seine Tunika zusammenhielt, und schlang sie dem Dritten um den Hals, bevor der reagieren konnte.

»Verschwindet, wenn euch euer Leben lieb ist!«, sagte Arturo und kitzelte dem Bärtigen die Kehle. »Haut ab und seht euch besser nicht um! Lasst euch hier nie wieder blicken!«

Arquimaes’ Opfer dachte, der Alchemist wäre nicht kräftig genug, um ihn festzuhalten. Er versuchte, sich von der Schnur zu befreien und ihm seinen Dolch in die Brust zu stoßen. Doch Arquimaes spannte seine Muskeln an und zog die Schlinge so fest zu, dass er seinen Gegner erwürgte, ohne ihm Zeit zu geben zu begreifen, dass auch ein sonst so friedfertiger Mann durchaus fähig ist, Gewalt anzuwenden.

Als die anderen beiden die Leiche ihres Kameraden auf dem Boden liegen sahen, hoben sie die Hände und ergaben sich.

»Wir gehen«, sagte der Bärtige. »Wir wollen keinen Ärger.«

»Wenn ich höre, dass ihr diese armen Menschen weiter schikaniert, wird euch nichts und niemand auf der Welt vor meinem Zorn schützen«, warnte Arturo die beiden. »Habt ihr verstanden? Und nehmt euren Freund hier mit!«

Die beiden Männer hoben die Leiche auf und machten sich eilig davon. Sie stiegen auf ihre Pferde und nach wenigen Minuten waren sie außer Sichtweite.

»Ich möchte wissen, was der Schurke mit Kritzeleien meinte, als er von Tránsito sprach«, rätselte Arquimaes. »Was hat er nur gemeint?«

Ein paar derjenigen, die den Streit beobachtet hatten, kamen näher und verneigten sich unterwürfig.

»Meine Herren, wir möchten uns dafür bedanken, dass Ihr uns von diesen Banditen befreit habt«, sagte ein Mann, der einen kleinen Jungen an der Hand hielt.

»Wir sind froh, dass sie endlich fort sind«, sagte eine abgemagerte Frau. »Sie haben uns das Leben zur Hölle gemacht.«

»So ist es! Gut, dass Ihr sie vertrieben habt. Wir sind bereit, Euch zu essen zu geben und alles, was Ihr wollt«, fügte ein Greis hinzu, dem ein Arm fehlte.

»Wir wollen nichts von euch«, wehrte Arturo ab. »Das waren Gauner, und wir haben sie vertrieben, wie es unsere Pflicht war.«

»Sie waren schlimmer als Wölfe«, klagte eine alte Frau. »Sie haben uns ausgeplündert, wollten immer mehr. Sie waren unersättlich.«

»Erzähl uns genauer, was sie gemacht haben, Frau«, bat der Weise.

»Wir mussten sie bezahlen, damit sie uns vor sich selbst beschützten. Wir haben ihnen zu essen gegeben und sie haben uns unsere Kleidung abgenommen. Aufseher haben sie sich genannt.«

»Aufseher? Aufseher worüber?«

»Über diese Ruine. Sie haben gesagt, sie verkörpern Gesetz und Ordnung. Sie würden unser Leben verwalten und dafür würde alles ihnen gehören.«

»Diese Banditen!«, rief Arturo empört. »Nicht mal die Ärmsten der Armen lassen sie in Frieden leben! Bestien!«

»Können wir etwas für Euch tun, Herr?«, erkundigte sich die Alte.

»Wir suchen meinen Bruder Tránsito«, sagte Arquimaes. »Wisst ihr etwas von ihm?«

»Der mit den Kritzeleien?«

»Welche Kritzeleien? Was meinst du?«

»Kommt, ich zeige Euch etwas.«

Die Alte führte sie zu der hohen Mauer, die noch erhalten war. Die arme Frau hinkte stark und jeder Schritt war eine Qual für sie. Sie ging um die Mauer herum und wies mit dem Finger auf die Rückseite.

»Das«, sagte sie, »sind die Kritzeleien, die Tránsito auf die Mauer geschrieben hat, bevor er fortgegangen ist.«

Die drei Freunde hoben den Blick. Die Buchstaben waren so groß, dass man sie schon von Weitem erkennen konnte. Arquimaes entzifferte das Geschriebene und wurde leichenblass.

»Was steht da?«, fragte Crispín. »Was bedeuten diese Buchstaben?«

»Lies du es ihm vor, Arturo«, forderte Arquimaes seinen Schüler mit erstickter Stimme auf.

Während sich der Weise völlig am Boden zerstört entfernte, las Arturo Crispín mit lauter, deutlicher Stimme vor: »An diesem Ort erhob sich einstmals die Abtei von Ambrosia, die viele Jahre im Dienste der Schreibkunst stand. Hier wurden zahlreiche Bücher kalligrafiert, bevor Barbaren den Mönchen das Leben nahmen oder sie vertrieben. Die Schuld daran trägt der Verräter namens Arquimaes. Er hat Tod und Leid über uns gebracht. Möge seine Seele in der Hölle schmoren!«