KAPITEL ZWÖLF

Die Morgendämmerung verlor sich in einem neuen Schneegestöber, welches das Tageslicht mitten in der Luft einfing und eine graue, wirbelnde Welt schuf. Flocken klebten an Brookes Wimpern, als er sich auf den Weg zum Krankenhaus machte. Also hielt er den Kopf gesenkt und konnte nur die großen Steinpranken der Löwen sehen, die den Eingang zum Fitzwilliam Museum bewachten, ehe er sich abrupt umwandte, um die Straße zu überqueren. Nun musste er all sein Kindheitswissen über die Stadt zurate ziehen, um nicht in einen der künstlich angelegten schmalen Wasserläufe zu treten, die hier die gewöhnlichen Abflussrinnen ersetzten. Der Schnee hatte sie vollends gefüllt, aber sie waren zwei Fuß tief und tückisch. Erbaut, um Wasser aus den Bergen in einen »neuen Fluss« zu tragen, führten sie nun schon seit Jahrhunderten einen Bach in das Zentrum der Stadt. Als Kind hatte er in der Schule Papierboote gebastelt und unter den Augen verständnisloser Fußgänger die Straße hinuntersegeln lassen. Eines dieser federleichten Schiffe hatte den ganzen Weg hinunter bis zu Fitzbillies Bun Shop heil überstanden und stand nun auf seinem Kaminsims.

Er sprang über die erste, zugeschneite Rinne, überquerte die Straße und sprang über die zweite.

Als er schließlich den steinernen Säulengang des Krankenhauses erreicht hatte, war die Vorderseite seines Mantels weiß, und er musste stehenbleiben und mit den Füßen aufstampfen, um Schnee und Eis abzuschütteln. Erst als er damit fertig war, sah er Claire, den Schwesternumhang über den Schultern und einen dampfenden Becher in den Händen.

»Hast du dich verkrümelt?«, fragte er und legte den Arm um sie. Eine Minute standen sie eng beisammen und genossen die innige Wärme.

Sie bot ihm einen Schluck von ihrem siedend heißen Tee.

»Ich habe von der Explosion gehört«, sagte sie. »Priestly, der Gehilfe in der Wäscherei, hat gesagt, er wäre draußen gewesen, um Schnee zu schippen, und hätte gedacht, das wäre ein Bombenabwurf gewesen. Er war beim letzten Mal dabei.«

»Darum bin ich hier. Der Hauswart hat ein Schrapnell abbekommen.« Er beschloss, die Tatsache, dass er zu dem Zeitpunkt neben dem Hauswart gestanden hatte, unerwähnt zu lassen.

»Vorhin wurde ein Soldat eingeliefert, der sich beim Fußballspielen in seiner Baracke eine Sprunggelenksfraktur zugezogen hat – was für ein Idiot. Wie auch immer, er sagte, in der Kaserne ginge das Gerücht um, die Bombenleger wären diese Iren – die Rebellen?«

Brooke zuckte mit den Schultern. »Es sieht so aus. Ziemlich amateurhaft, kaum mehr als ein Feuerwerkskörper.«

»Was bereitet dir dann solche Sorgen? Ich kenne diesen Ausdruck.«

»Das Kind im Fluss. Es könnte ein Evakuierter aus London sein, es ist höchstwahrscheinlich einer. Irischer Katholik. Was dies zu einer dieser Gelegenheiten macht, bei denen zwei Dinge auf so besorgniserregende Art zusammentreffen, dass man einfach weiß, es kann kein Zufall sein. Ich wette, da gibt es eine Verbindung, was meinst du?«

Sie betrachtete den herabfallenden Schnee. »Ich bin wegen eines Schwätzchens mit Joy hergekommen. Das hier ist unser heimlicher Treffpunkt.«

»Wie geht es ihr?«

»Sie ist in Ordnung. Besorgt, krank vor Sorge sogar, nehme ich an, aber das weiß man bei ihr nie. Sie hat deine Fähigkeit geerbt, ihre Gefühle vor der Außenwelt abzuschirmen. Oder ist das eher ein Unvermögen?«

Brooke studierte ihr Gesicht. »Lippenstift?«, fragte er. »Ist das erlaubt?«

»In der Station ist es eisig. Sie mussten heute Nachmittag die Heizkessel abstellen, und die Heizkörper sind noch nicht warm genug. Meine Lippen waren blau und unansehnlich und bestimmt kein Aushängeschild für gute Gesundheit. Außerdem mache ich die Regeln. Damit habe ich eine neue Entwicklung im Sunshine Ward eingeleitet – wir sehen aus wie die Tiller Girls!« Sie lachte und nahm die Kapuze ab. »Komm, ich zeig dir was …«

Nachdem sie durch die Haupteingangstür eingetreten waren, bog sie links ab und ging ihm voran die Betonstufen zum Keller hinunter. Das war ihr geheimer Treffpunkt. Wenn ihre Schichten es zuließen, trafen sie sich in dem warmen Heizkeller, zu dem Claire sich einen Schlüssel gesichert hatte. Brooke sagte, sollten sie je erwischt werden, wäre das ein Skandal, und News of the World würde den Keller als Liebesnest abstempeln.

Brookes Hoffnungen wurden jäh zunichtegemacht, als Claire das Licht einschaltete. Der Heizungsraum war in eine neue Station umgewandelt worden. Messingbettgestelle standen in militärisch ordentlichen Reihen mit wenigen Zoll Abstand zueinander in dem Raum.

»Sie haben den Heizkessel abgeschaltet, weil ein paar Rohre verlegt werden mussten, um Platz für all die Betten zu schaffen«, sagte sie. »Sechzig Betten. Vorsorglich für den Fall von Luftangriffen. Damit wir nicht überfordert werden. Und sie haben die Schlösser an den Türen entfernt«, sagte sie bekümmert.

Als sie anschließend zur Kinderstation zurückkehrte, machte sich Brooke durch den Hauptkorridor im Erdgeschoss auf den Weg zur Aufnahme.

Ridley, der Hauswart der Newton-Fabrik, lag in einem Bett unter einer hellen Lampe.

»Ich werd’s überleben«, sagte er vergnügt und schüttelte Brooke die Hand, machte aber einen geschwächten Eindruck.

Seine Brust war bandagiert, der Kopf ebenso.

»Ich kann nach Hause gehen, wenn der Doktor mich angeschaut hat. Das passiert nach dem Frühstück. Ich kann nur nicht schlafen.«

»Wie kommen Sie nach Hause?«

»Die Firma schickt einen Wagen. Außerdem habe ich eine Woche frei. Der Geschäftsführer war schon da. Das ist Mister Tyndale. Das war das erste Mal, dass ich mit ihm gesprochen habe. Hab ihm gleich gesagt, dass niemand in die Fabrik reingekommen ist. Er hat trotzdem immer wieder gefragt.«

Ridleys Hand streifte zum Nachttisch und zu der Brille, die dort lag.

»Er hat gesagt, ich darf nicht mit der Presse reden, und wenn Sie Fragen haben, soll ich Ihnen sagen, Sie sollen seine Sekretärin anrufen.«

Brooke nahm den Hut ab. »Unglücklicherweise ist Mister Tyndale aber nicht der Chief Constable, Mister Ridley. Wenn ich irgendwelche Fragen stelle und Sie sie nicht beantworten, dann werde ich sie Ihnen im Spinning House erneut stellen müssen.«

Ridley schluckte krampfhaft. »Ja. Natürlich. Ich meine nur …«

Steif beugte er den Arm und schaffte es mit Mühe, eine Visitenkarte hervorzuholen, die er Brooke reichte. »Geprägt«, sagte er anerkennend.

Mr Tyndale war als Geschäftsführer und Gründer ausgewiesen.

Ridley nickte und holte tief Luft. »Er hat gesagt, wenn Sie vorbeikommen, soll ich Ihnen sagen, der Betriebsleiter – Mister Forbes – würde vor Ort alle Fragen beantworten, soweit es ihm möglich ist. Er dürfte jetzt dort sein.«

Brooke fragte sich, was in dieser Fabrik hergestellt wurde, das solch eine institutionelle Geheimniskrämerei erforderlich machte. Fernsehen mochte die Sensation des Jahrhunderts sein, aber kurz vor Kriegsausbruch würde der Diebstahl einiger Geräte in Hinblick auf das Los der Nation kaum ins Gewicht fallen. Oder lief da etwas weit Wertvolleres über die Fertigungsstraßen bei Newton?