Edison war an seinem Tisch im Sergeants-Zimmer, als Brooke aus seinem eigenen Büro herunterkam, und hatte eine Auswahl an Gemüse auf einem großen Tisch ausgebreitet: Karotten, Rote Bete, Steckrüben und römischen Blumenkohl. Edisons Sachkenntnis in Hinblick auf Gemüse wurde weithin bewundert. Seine Großzügigkeit war auch willkommen, aber – wie er erklärte – vorwiegend das Ergebnis davon, dass seine vier Kinder erwachsen geworden waren und »sich aus dem Staub gemacht« hätten. Für einen flüchtigen Moment sorgte sich Brooke, das bevorstehende Frühjahr könnte seinen Detective Sergeant vor ein unerträgliches Dilemma stellen: zum Dienst melden oder Zwiebeln pflanzen.
Als er Brooke sah, stand er auf und schwenkte einen steifen Arm über dem Gemüse, um auf dies Muster seiner Großzügigkeit zu deuten. »Wir können das nicht alles behalten, Mister Brooke. Im Schuppen friert’s, und der Platz in der Speisekammer ist begrenzt. Darum hat man mich beauftragt, ein bisschen Gemüse zu verteilen. Nehmen Sie sich nur – die anderen werden auch bald hier sein, und die werden bestimmt nicht die Form wahren. Gierige Bettler sind das.«
Brooke trat ans Fenster und blickte hinunter in den Hof des Reviers. Edisons Ruhestandspläne beschränkten sich nicht auf seinen Kleingarten. Er besaß einen Wolseley Wasp, ein schönes Automobil, das er stets auf Hochglanz polierte und dessen Motor perfekt eingestellt war.
»Zu kalt für den Wagen?«, fragte Brooke.
»Nein, dem geht’s gut. Ich bin zu Fuß gekommen, um das alles zu holen. Wenn erst mal Salz auf den Straßen ist, dann wird er sich schon behaupten«, sagte Edison, und in seiner Stimme machte sich die Hoffnung bemerkbar, man könnte ihn mit einem polizeilichen Auftrag losschicken. »Die Wache hat mich über das Attentat an der Fabrik informiert«, erzählte er. »Klingt mir ein bisschen schludrig.«
Brooke setzte sich. Im Sergeants-Zimmer gab es Spinde und Tische, die gewöhnlich von Spielkartenstapeln geschmückt wurden. Ein Spülbecken und ein Wasserkocher rundeten die Ausstattung ab. Edison ließ sich ebenfalls auf einen Stuhl sinken.
»Allerdings. Nichtsdestoweniger will das Home Office es ganz genau wissen. Ich werde mich gleich bei Newton mit dem Betriebsleiter treffen. Danach gehe ich wieder zum Fluss und sehe nach, wie die Schleppnetzsuche vorangeht. Wir können nicht ignorieren, dass es da möglicherweise einen Zusammenhang gibt, Edison. Der Mord war der Wegbereiter für die Bombe, davon bin ich überzeugt.
»Sie denken, das Kind ist jemandem in die Quere gekommen?«
»Vielleicht. Ich werde den Eltern bald sagen müssen, dass ihr Sohn vermisst wird.«
Wieder dieses unsägliche Wort, »vermisst«. War es besser, zu warten, bis er Neuigkeiten zu bieten hatte, seien die nun gut oder schlecht?
»Inzwischen möchte ich, dass Sie sich auf unsere Fenier-Attentäter konzentrieren.«
Rasch brachte Brooke ihn auf den neuesten Stand der Ermittlungen. Die »Bombe« in der Newton-Fabrik – oder zumindest, was davon übrig war – war eingesammelt und mit dem Zug nach Süden zur Analyse geschickt worden. Brooke hatte eine Stunde am Telefon mit Scotland Yard zugebracht. Als es ihm endlich gelungen war, den scheuen Inspector des Special Branch aufzuspüren, lautete dessen Rat, sie sollten sich auf den Sprengstoff konzentrieren, nicht auf die Bombenleger.
Frühere IRA-Bomben hatten sich als ein Gemisch erwiesen, das unter dem Namen Paxo bekannt war, benannt nach dem Hersteller beliebter Hühnchenfüllungen, einer faden Mixtur aus Salbei, Zwiebeln und Brosamen. Das Rezept der IRA umfasste große Mengen Kaliumchlorid, Schwefelsäure und Eisenoxid. Und sie hatten eine »Fabrik« benötigt, in der sie die Sprengladungen anmischen konnten, nebst irgendeinem abgelegenen Ort, um all diese Zutaten aufzubewahren.
Der Inspector der Special Branch hatte kein Blatt vor den Mund genommen. »Sie kennen Ihre Stadt, Brooke. Die Bombenleger zu suchen ist sinnlos. Die Iren halten zusammen, ob sie nun an diesen Feldzug glauben oder nicht. Jesus, die Hälfte der Männer dienen in unserer Armee, und es sind alles Freiwillige. Trotzdem bekommen sie kein Zigarettenpapier zwischen diese Leute. Nein, suchen Sie nach den Chemikalien, suchen Sie nach der Fabrik.«
Brooke sah Edison in die wässrigen Augen. »Setzen wir unsere Männer – und die Uniformierten – darauf an. Vielleicht können wir mit einheimischen Chemikern und Baumeistern reden und herausfinden, wo auch immer diese Iren die Zutaten für ihre Bombe herbekommen haben. Und dann ist da noch diese mysteriöse ›Fabrik‹. Auch in dem Fall: Informieren Sie die Uniformierten, die sollen schauen, ob jemandem etwas Verdächtiges aufgefallen ist. Ein Lager, eine Werkstatt, eine Garage; bringen wir unsere Leute auf die Straße. Und vergessen Sie Boudicca nicht«, fügte Brooke einen Hinweis auf die Hundestaffel des Spinning House hinzu, auch wenn die derzeit nur aus einem Bluthund bestand. »Falls wir Unterstützung brauchen, hat die Grafschaft eigene Hunde. Delegieren Sie das alles, Edison. Sie haben auswärtige Pflichten.«
Scotland Yard war unter der Regie des Special Branch für die Koordination der Jagd nach den IRA-Attentätern in England zuständig. Die tatkräftigsten und erfolgreichsten Ermittlungen hatten im Anschluss an einen Bombenanschlag in Coventry im vergangenen Sommer stattgefunden. Ein Fahrrad mit Sprengstoff und einem Zeitschalter im Fahrradkorb war vor einem Geschäft im Stadtzentrum abgestellt worden. Eine der Haupteinkaufsstraßen der Stadt versank in einem Meer aus zerbrochenem Glas und Schutt. Die Explosion hatte fünf Menschen getötet und siebzig verletzt. Eine der Toten war eine junge Frau auf einem Einkaufsbummel gewesen, die in wenigen Tagen hätte heiraten sollen. Zwei Männer waren verhaftet und des Mordes angeklagt worden. Sie erklärten vor Gericht, ihr eigentliches Ziel sei eine Telefonvermittlung gewesen, doch es sei zu einem katastrophalen Fehler gekommen. Der Richter ließ sich davon nicht beeindrucken. Derzeit saßen sie im Gefängnis zu Birmingham und warteten auf ihre Exekution, während die irische Regierung um Gnade ersuchte.
»Ich möchte, dass Sie die Wache von Coventry aufsuchen, das sind anscheinend die Experten. Lesen Sie die Akten, Edison. Wir brauchen Verdächtige – Namen, eine Verbindung nach Cambridge. Was immer Ihnen auffällt. Sie haben dort Familie?«
Edison spannte sich auf seinem Stuhl ein wenig an und stellte seine Tasse ab.
Brooke war Mrs Edison nur einmal bei der offiziellen Verabschiedung ihres Gatten in den Ruhestand begegnet. Die hatte im großen Saal des Spinning House stattgefunden, jenem Zimmer, in dem Frauen von zweifelhaftem Ruf zur Arbeit an den Spinnrädern angehalten worden waren, als das Gebäude noch als Gefängnis und Armenhaus gedient hatte. Mrs Edison hatte sich sichtlich unbehaglich gefühlt, eingeschüchtert von all der Förmlichkeit, zu der auch die unpersönliche Lobrede des Chief Constable zählte.
»Das ist doch kein Problem?«
»Nein, Sir.«
»Helfen Sie mir auf die Sprünge. Mrs Edison wurde geboren in …?«
»Milltown Malbay, County Clare. Jetzt lebt die Familie in Coventry – ihre Schwestern und ein Bruder, um genau zu sein. Sie stehen sich alle sehr nahe.«
»Gut. Sie können den Wasp nehmen. Ich habe das Benzin genehmigt. Detective Inspector Harvey ist Ihr Mann vor Ort. Er hat die Akten. Die haben dort Fortschritte gemacht: Die Leute, die das getan haben, sollen gehängt werden, aber sie wissen inzwischen, wer ihnen geholfen und wer geschwiegen hat, als er die Polizei hätte anrufen müssen. Ihre Schlussfolgerung lautet, dass die IRA-Zellen zwar eigenständig sind, es aber einen Koordinator gibt – und vermutlich auch einen Zulieferer. Die Bombe ist einfach zu bauen, aber die Zündvorrichtungen sind verzwickter. Sie müssen sie hingebracht haben, womöglich sogar übers Meer aus Dublin, und dann muss sie von einem Experten angebracht worden sein. Wir müssen also eine Verbindung zu unserer Bombe finden. Was immer Sie auftreiben können. Die einzige Möglichkeit, diese Leute zu finden, sind Informationen. Sie werden unser Experte sein, Edison. Wenn Sie es für nötig halten, in Coventry zu bleiben, dann tun Sie das. Sie können sich ein Hotelzimmer nehmen, falls eine Übernachtung bei der Familie Schwierigkeiten bereitet.«
»Sir. Nein – Marianne, meine Schwägerin, die hat Platz. Sie ist Witwe, und alle Kinder sind aus dem Haus. Ich war bei ihrer Hochzeit.« Edison schüttelte den Kopf. »Das ist ein halbes Jahrhundert her. Es war in Milltown. Was für ein Ort, Sir. Da gibt es einen Strand, dessen Ende man nicht sehen kann, und einen großartigen Berghang, getüpfelt mit Cottages. Wir haben gedacht, wenn ich erst im Ruhestand bin, dann könnten wir dort hinziehen, uns ein Haus kaufen und den Rest unseres Lebens dort verbringen. Sogar das Licht ist da anders – es glüht irgendwie. Mrs Edison mag einen schönen Sonnenuntergang. Und man kann dort alles anbauen, wenn man eine Kuh hat, die den Dünger liefert.« Edison betrachtete seine Gemüseauslage. »Es gibt eine Menge Ärger in der Stadt, Sir. Seit dem Anschlag.«
Die anti-irische Stimmung hatte sich seit dem Bombenattentat zugespitzt. Es gab Demonstrationen und Streiks in Fabriken mit einem hohen Immigrantenanteil. Irische Arbeiter wurden von erzürnten Hauswirten gezwungen, ihre Pensionen zu verlassen. Weitere Zwischenfälle waren über Coventry hinaus protokolliert worden: in London, Birmingham, Portsmouth.
»Ich weiß, Sergeant. Das Neueste haben Sie vielleicht noch gar nicht gehört.« Brooke zog eine zusammengefaltete Zeitung aus dem Mantel. »Der Chief Constable von Coventry, ein Captain Hector, hat dem Daily Telegraph – keinem geringeren Blatt – erzählt, er sei nicht irischer Abstammung, sondern ein ›guter, unbescholtener Somerset-Mann‹. Was immer das heißen soll.«
»Die Leute, die ich kenne, Sir, die haben für diese Bombenleger nichts übrig«, sagte Edison. »Das sind Patrioten. Anders als diese Leute. Sie haben Größeres im Sinn. Die haben keine Freunde, weder in Coventry noch sonst irgendwo.«
Brooke schnappte sich Hut und Mantel. »Gehen Sie einfach vorsichtig vor. Eines der Opfer war eine junge Frau, die sich gerade ihr Hochzeitskleid kaufen wollte. Man hat sie anhand ihres Verlobungsrings identifiziert. Nur an dem, Edison. Ein überbeanspruchtes Wort – Blutbad. Wenn noch jemand bei diesem Feldzug zu Tode kommt, bekommen wir es womöglich mit einem ausgewachsenen Aufruhr zu tun.«