Die Newton-Fabrik warf all seine Erwartungen über den Haufen, kaum dass Brooke eingetreten war: Stille Korridore mit Parkettfußboden führten an zwei großen Produktionshallen vorbei. Da war kein Donnern irgendwelcher Maschinen zu hören, kein Zischen von Dampf, nichts als das Summen kleiner Bohrer, das Sirren von Extraktionsapparaten, ein leises gleichmäßiges Klopfen, alles überlagert von Musik aus dem Radio. Hunderte arbeiteten in den Werkhallen. Frauen in makellos weißen Overalls, die ihr Haar mit Turbanen verhüllt hatten, standen mit Lötkolben in Händen an langen Fertigungsstraßen. Die Männer saßen an Einzeltischen, umgeben von einem Wirrwarr aus elektronischen Komponenten, Radiogeräten und ausgeweideten Fernsehgeräten. Einige beäugten das Innenleben der Apparate mit großen beleuchteten Lupen, die an Gelenkarmen befestigt waren. Doch was Brooke in Erinnerung bleiben würde, war der Geruch: das unverkennbar metallische Aroma der Elektrizität, ein dunstiger Hauch von tausend durchgebrannten Sicherungen.
Die Büros, ein Stockwerk höher, zeichneten sich durch die leicht spröde Stille einer öffentlichen Bibliothek aus. Eine ganze Reihe Sekretärinnen tippte mit gewandter Fingerfertigkeit auf ihren Maschinen, gleich gegenüber einer weiteren Gruppe von Frauen, die Comptometer bedienten. Sie addierten, subtrahierten, kalkulierten auf den mechanischen Rechnern und das alles in einem schwindelerregenden Tempo. Brooke saß an einem Kaffeetisch und drehte langsam seinen Hut in der Hand, während sein Blick über Ausgaben der Radio Times und Broschüren der neuesten Serien von Fernsehgeräten glitt. Die aufgerufenen Preise galten im Hause Brooke als skandalös und hatten bereits dazu herhalten müssen, seinen Sohn und seine Tochter von der Idee abzubringen, sie könnten sich so einen Apparat anschaffen. Ein Newton-Mitteilungsblatt, das zwischen den Magazinen lag, rühmte: Offiziellen Statistiken zufolge sind bereits fast 20.000 im Besitz eines TV-Geräts.
Ralph Milton-Forbes, Betriebsleiter, führte ihn in ein großes Büro an der Ecke des Fabrikgebäudes, von dem aus man einen ausgedehnten Blick auf den Fluss und die Stadt im Süden hatte. Stromabwärts konnte Brooke die Polizei-Barkasse sehen, die mit einer Flottille kleinerer Boote im Gefolge die Sucharbeiten leitete. Die vergebliche Mühe sollte bei Einbruch der Dunkelheit endlich beendet werden.
»Ich bin Rafe Forbes«, sagte der Mann und schüttelte ihm kraftvoll die Hand. Brooke fiel der Widerspruch auf, der sich aus dem Verzicht auf den halben Doppelnamen einerseits und der Nutzung der Oberklassen-Kurzform des Namens Ralph andererseits ergab. Er trug das silberne Haar zurückgekämmt über einem breiten, offenen Gesicht, was den Eindruck vermittelte, er wäre mit hoher Geschwindigkeit gerannt. Eine Dogge lag unter seinem Schreibtisch, die langen Beine wie zum Trocknen ausgestreckt.
»Natürlich werden wir das binnen einer Woche repariert haben«, sagte er, als er sich ans Fenster stellte und hinaus zu dem verkohlten TV-Turm blickte. Männer bauten dort ein Gerüst auf und fingen an, das geschwärzte Metall neu zu lackieren.
»Das Ministerium hat eine Stillschweige-Empfehlung ausgegeben – damit unsere Schlamm tretenden Freunde noch nicht einmal öffentliche Aufmerksamkeit erregen können.« Die Kontrolle über die Presse mit Hilfe eines »Beratungssystems«, bestehend aus Empfehlungen, die auf Basis von Verteidigungserfordernissen herausgegeben wurden, hatte ein Maß an Selbstzensur hervorgebracht, wie es vor dem Krieg undenkbar gewesen wäre.
Forbes sah Brooke an, betrachtete das leicht nach vorn fallende, dichte schwarze Haar, die ockerfarbene Brille. »Special Branch hat mir mitgeteilt, dass ich so offen wie möglich sein soll. Fragen beantworten, so was eben. Im letzten Krieg war ich in der Beschaffung, Schreibtischarbeit im Ministry of Supply. Mathematik, Statistik, das sind meine Stärken. Wie es aussieht, hat der König Ihnen einen Orden für Tapferkeit in der Wüste verliehen. Man sagt, Sie hätten mit Lawrence von Arabien gedient.«
Brooke setzte sich. »Ich habe ihn zweimal gesehen, Mister Forbes. Einmal in einer Oase über ein offenes Feuer hinweg, das andere Mal aus einer halben Meile Entfernung, während er in weißer Robe auf einem Pferd saß. Wenn das als ›mit ihm dienen‹ durchgeht, dann stimmt, was man sagt.«
Brooke zog eine Zigarette hervor. »Warum brauchen Sie die Genehmigung von Special Branch, um mit mir zu reden? Ich dachte, Sie stellen Fernsehgeräte und Radios her. Die IRA nimmt Kommunikationseinrichtungen aufs Korn. Ridley – Ihr Nachtwächter – sagte, der Mast soll Signale der BBC aus London auffangen. Damit wäre das geklärt. Das dürfte aber kaum der Geheimhaltung unterliegen.«
»Ridley sollte seinen Mund halten. Das sollten wir alle. Cambridge ist derzeit voll von allen möglichen Leuten. Juden, beispielsweise, Iren, Deutsche, Österreicher – als Nächstes kommen dann die Spaghettifresser. Mussolini ist gerade noch so weit davon entfernt, für Hitler Partei zu ergreifen.« Er hielt die Hand hoch, sodass sich Daumen und Zeigefinger beinahe berührten. »Die verdammte Stadt ist voll von denen.« Forbes richtete seine Krawatte.
»Wir haben das Gebäude vergangene Nacht kontrolliert«, sagte Brooke. »Es schien abgesichert.«
»Ja, ja. Die sind nicht reingekommen. Gute Arbeit. Der Mast ist schlimm genug. Es ist ein Fernsehempfänger, da hat Ridley recht, für unsere Forschungsleute. Kommerzielle Dienstleistungen haben ein winziges Publikum – aber eines Tages, Brooke? Ein Gerät in jedem Haus. Nein. Das Problem ist, hinter was sie her gewesen sein könnten. Wo sie nahe dran waren.«
Er schnappte sich einen schweren Tweedmantel, typisch für die Landbevölkerung, von einem Ständer und schnippte mit den Fingern, worauf der Hund sich umständlich auf die Beine mühte.
»Ich zeige es Ihnen draußen.«
Der Hund ging die Betonstufen hinab voran zu einer Außentür. Forbes zog einen Schlüsselbund von seinem Gürtel. »Es gibt drei Sätze«, preschte er vor, noch ehe Brooke fragen konnte. »Ich, Ridley und der Geschäftsführer – er lebt zwanzig Meilen entfernt von hier, aber sie sind beide da, wenn wir sie brauchen. Alle drei Sätze sind vollständig, und keine der Türen wurde aufgebrochen. Also ist ipso facto auch niemand hineingelangt.«
»Ein Nachschlüssel ist schnell angefertigt«, wandte Brooke ein.
»Nicht, wenn man sie stets bei sich hat«, erwiderte Forbes und stieß die Tür auf, hinter der eine Schneelandschaft zum Vorschein kam, die sich bis zum Fluss zog.
»Und Ridley?«, fragte Brooke.
»Ridley können Sie vertrauen. Er ist nicht der Allerhellste, aber loyal. Hat früher in der Werkhalle gearbeitet. Bei Passendale hat ihn eine Kugel erwischt. Ist als Held zurückgekehrt. Also hat er den Job bekommen und dazu eine Werkswohnung. Er ist verlässlich. Warum? Denken Sie etwa, er ist ein getarnter Fenier? Der Mann ist Engländer, Brooke.«
Der Hund rannte im Schnee wie manisch im Kreis herum. Zwei Paar Torpfosten waren der einzige Hinweis darauf, dass unter dem Schnee anscheinend ein Fußballfeld lag. Ein tristes, von Feuchte verunstaltetes Umkleidehäuschen aus Beton mit unlackierten Läden stand hinter einem der Tore. Dahinter schloss sich der Zaun an, der das ganze Gelände umgab.
»Wie kommt man am Haupttor durch den Zaun?«, fragte Brooke.
»Nach Sonnenuntergang ist da ein elektrisches Schloss aktiviert. Man braucht einen sechsstelligen Code. Auch hier gilt – nur wir drei haben den.«
Forbes fing an, einen kleinen Ball für den Hund zu werfen, der jedes Mal losrannte und rasant wieder zurückkam, wobei er eine chaotische Reihe Pfotenabdrücke im Schnee hinterließ.
»Richtig, Inspector. Das können Sie nicht wissen.« Forbes sah sich in der Umgebung um. Es war niemand in Sichtweite, weder am Ufer noch auf den Feldern. »Stellen Sie sich vor, ich bin ein Funkgerät und schicke eine Reihe Signale los. So wie jetzt.« Er hielt den Ball in der Hand, warf ihn auf das offene Gelände und wartete darauf, dass der Hund ihn zurückbrachte. »Bis jetzt habe ich den Ball geworfen und nichts zurückerhalten, es sei denn, Gawain mischt sich ein. Das Gleiche passiert mit Funksignalen, man schickt sie in den Äther und hört nichts mehr von ihnen. Es sei denn, Folgendes geschieht.« Er warf den Ball an die Wand des Umkleidehäuschens. Der Ball prallte zurück, und er fing ihn wieder auf, ehe der Hund ihn sich schnappen konnte. »So einfach ist das. Ich bin ein Sender. Wenn ich diesen Ball fange, bin ich ein Empfänger. Gäbe es eine ganze Reihe von Sendern hier auf dem Feld, könnten wir alle den Ball gegen den Sportpavillon werfen. Dann könnten wir analysieren, wie er zurückkommt, und anhand dessen die Form des Pavillons und die Entfernung zu ihm berechnen, weil wir wissen, wie schnell wir den Ball geworfen haben. Radiowellen, müssen Sie wissen, reisen stets exakt mit Lichtgeschwindigkeit. Das ist ein extrem effizientes System.«
»Und diese Sender und Empfänger stellen Sie hier her?«
»Ja. Nun ja, eine Schlüsselkomponente. Die Deutschen sind da auch dran – und die Yankees und die Franzosen. Jeder weiß, dass das funktioniert. Wir wissen das schon seit Jahrzehnten. Es ist nur noch die passende Technologie nötig. Wir brauchen eine Fertigungsanlage. Früher nannten wir es das Telemobiloscope. Jetzt reden wir von RADAR, denn so wollen die Yankees es nennen. Wenn man es richtig macht, kann man damit Flugzeuge lokalisieren, Schiffe, Stürme auf See, Luftschiffe – was auch immer.
An der Ostküste zieht sich eine Reihe von Sendern von Tyne bis nach Kent. Das nennt sich Chain Home. Wenn die deutschen Bomber kommen, und das werden sie, könnte diese Reihe London retten, Brooke, und damit Tausende von Leben, Hunderttausende von Leben. Was wir nicht wollen, ist, dass jemand diese Anlage sieht und einen Plan entwickelt, um sie zu blockieren.
Die IRA besteht aus einem Haufen Bauern mit Mistgabeln, das ist nicht das Problem. Aber wir wissen, dass sie die Deutschen beeindrucken wollen. Unser Feind ist ihr Freund.« Er deutete auf den geschwärzten TV-Mast. »Wenn Sie mich fragen, gibt es nichts, worüber wir uns Sorgen machen müssen. Das ist ein verdammt großer Mast, sie haben es nicht geschafft, ihn hochzujagen, Ende der Geschichte. London ist trotzdem nervös. Wir sind schon dabei, die Sicherheitsmaßnahmen zu überprüfen.«
Die Polizei-Barkasse glitt auf dem Fluss vorüber, ein Netz wurde auf dem Deck verstaut.
»Irgendwelche Neuigkeiten über das verschwundene Kind?« Forbes hatte eine Zigarre hervorgeholt, eine Panatella, die er mit einem silbernen Feuerzeug entzündete.
»Es gibt jetzt keine Hoffnung mehr. Es ist ein irisch-katholisches Kind, weshalb wir eine Verbindung zwischen diesen Ereignissen nicht ausschließen können. Vielleicht ist das Kind den Attentätern irgendwie in die Quere gekommen oder hat etwas gesehen, das es nicht hätte sehen sollen. Oder jemanden, den es nicht hätte sehen sollen.«
Forbes blies eine Rauchfahne in die Luft. »Das klingt recht weit hergeholt. Ein hässliches kleines Familiendrama dürfte wahrscheinlicher sein, meinen Sie nicht? Wissen Sie, was das Problem ist? Bastarde. Wird kein Engländer sein, Brooke. Darauf wette ich. Gawain hier …«
Er tätschelte den Hund, und während er an dem edlen Kopf herumfummelte, fiel Brooke ein emailliertes Abzeichen an Forbes’ Revers auf, auf dem ein Vollmond mit einem eingravierten blauen G zu sehen war.
»Sie ist reinrassig«, sagte er und richtete sich auf. »Ich züchte sie, darum weiß ich das genau. Kennt man die Eltern, so kennt man auch das Kind. Und das ist alles, worum es in diesem Krieg geht, Brooke. Reines Blut.«