KAPITEL SIEBZEHN

Die Straßen der Stadt waren verlassen, der Schnee bildete auf dem Pflaster eine feste Kruste, auf der Brookes Schuhe knirschten, als er zurück zum Spinning House ging. Ein Constable, der auf seiner Runde an der Round Church vorüberkam, salutierte. Der Gedanke an das kalte Haus in Newnham Croft war nun sogar noch unattraktiver als während der Abenddämmerung. Also tauchte er an der Sidney Sussex Street in eine lange Gasse ab, die schon jetzt von einem halben Dutzend Vagabunden besiedelt war; Herumtreiber, die sich ihr Essen aus Mülltonnen holten und eine Zuflucht für die Nacht suchten. Brooke fand es erstaunlich, dass es in dieser Stadt überhaupt Obdachlose gab, bedachte man, dass sie auf beinahe übernatürliche Weise kalte Winde anzuziehen schien. Die Fens im Norden schienen arktische Lüfte zu sammeln, um sie schließlich in voller Stärke auf die Straßen loszulassen.

Eine Feuerleiter aus Metall führte auf ein Flachdach hinauf. Brooke musste die Füße anheben, um sie aus der dicken Schneeschicht zu befreien, als er es überquerte. Auf der anderen Seite reichte eine zweite Leiter über zwanzig Fuß auf ein weiteres Flachdach, und dann ging es eine letzte Feuertreppe hinauf. Die führte über mehrere Absätze, ehe sie ihn auf eine Plattform entließ, einen hölzernen Sims, der die höchste Lage in dieser Ecke der Stadt für sich beanspruchen konnte. Dieser Sims ermöglichte einen Panoramaausblick auf den Fluss, die Upper Town und das mittelalterliche Durcheinander aus College-Gebäuden in der Tiefe. Auf fast neunzig Fuß Höhe bot dieser Ausguck – ein offizieller Posten des Observer Corps – eine Vogelperspektive, aus der sich die Stadt wie eine lebendige Landkarte darstellte.

Der Posten war von Sandsäcken umgeben, die mehrere Fuß hoch gestapelt waren, und in der hinteren Ecke, vor einem breiten Schornstein, befand sich eine konische Stahlhütte, aus der Josephine Ashmore trat. Sie zupfte ihre perfekt geschneiderte Uniform zurecht und strich sich über das kurze braune Haar, das mit seinem kostspieligen Schnitt exakt bis zu ihrem Kragen reichte. Eine Gasmaske in einem Lederbehälter wippte auf ihrer Hüfte, vom unverzichtbaren Lebensretter umgewandelt in ein modisches Accessoire.

Ihre Miene hellte sich auf. »Welch eine Ehre. Besuch aus dem Borough. Wie aufregend.«

Kameradschaftlich standen sie an der Sandsackbrüstung. Unter ihnen in der Stadt krochen einige wenige Wagen durch die Schluchten aus Ziegeln und Backstein, lugten mit Hilfe der teilweise verhüllten Scheinwerfer voraus. Das dem Schnee selbst innewohnende Leuchten gab die schweren Wolken am Himmel preis, die seit Sonnenuntergang gen Süden zogen.

»Tee?«, fragte Ashmore.

Brooke ergriff einen Feldstecher und vollzog eine Tour d’Horizon, während das Wasser erhitzt wurde. Das Oberserver Corps verfügte über sechs Beobachtungsposten in der Stadt, die alle einen 360-Grad-Ausblick gestatteten. Die Radarstationen der Ostküste waren in Bereitschaft, um Alarm auszurufen, der die konische Hütte per Telefon erreichen würde. Ashmores Aufgabe war es, jede nützliche militärische Information an den Flugplatz bei Duxford im Süden der Stadt weiterzuleiten. Sie war geschult worden, mit Hilfe eines fest installierten Auswertetisches den Kurs anfliegender feindlicher Maschinen zu verfolgen – optisch wie akustisch. Nach einem Angriff sollte sie Brände auf der Karte verzeichnen.

»Befehle für die Nacht?«, fragte er und nahm den ihm angebotenen dampfenden Becher entgegen.

»Wir sind in standardmäßiger Alarmbereitschaft für einen deutschen Bomberangriff, der nie eintritt«, sagte sie. »Gerüchten zufolge werden sie später in diesem Monat, wenn der Schnee erst mal weg ist, Frankreich angreifen. Berlin wird nicht wollen, dass wir Luftsicherung für unsere Jungs bereitstellen, also werden sie vielleicht dann auftauchen und versuchen, die Startbahnen zu zerstören und die Kisten am Boden festzuhalten. Dann werden wir alle Tränen in den Augen haben nach all den langweiligen Nächten, in denen nichts passiert ist.«

Jo Ashmores Leben hatte vor dem Krieg nur sehr wenige langweilige Nächte umfasst. Die Ashmores hatten im Haus neben den Brookes in Newnham Croft gleich am Fluss gewohnt. Die Kinder waren befreundet gewesen, die beiden Familien auf die spezielle Art miteinander verwachsen, die dazu führte, dass niemand sich mehr erinnern konnte, wie sie einander so gut kennengelernt hatten. Als Kind hatte Jo mit Brookes Tochter Joy in ihrem Haus Verstecken gespielt. Während Joy Krankenschwester geworden war, hatte Jo sich treiben lassen. Zu einem gewagten Lebensstil und Partys in London war ein Skandal mit einem verheirateten Mann gekommen. Ihr Vater, ein Geschichtsprofessor, hatte von ihr verlangt, sich bedeckt zu halten. Ironischerweise hatte sie das auf diese herausragende Position in schwindelerregender Höhe geführt.

»Irgendwelche Instruktionen wegen der IRA-Bombenleger?«, erkundigte er sich.

»Seitenweise, Brooke. Stapelweise Papierkram. Wir sollen die Augen offenhalten und auf alles potenziell Verdächtige in der Nähe der üblichen Ziele achten. Briefkästen, Leitungsmasten, Telegrafenmasten, Hauptgasleitungen, Kraftwerke, Masten – so wie der bei Newton. Das war ein Anblick, kann ich Ihnen sagen. Ich dachte, das ganze Ding kommt runter. Und die haben den Zaun durchgeschnitten?«

Brooke nickte, setzte seinen Hut wieder auf und zog die Krempe tief über die Augen.

»Aber das ist immer noch ein Klacks«, fuhr sie fort. »Leg die Bombe auf ein Fahrrad, fahr es zum Zielobjekt und hau ab. Das sind nicht gerade tapfere Krieger, nicht wahr, Brooke? Aber es gibt Vermutungen.«

Sie nippte an ihrem Becher und lächelte neckisch. Sogar als Kind hatte sie sich zu dem blassen, heldenhaften Mann nebenan hingezogen gefühlt, der umwoben war von der Legende Lawrence von Arabiens und doch beharrlich schwieg, wenn Geschichten über Krieg und Sieg aufkamen. Die Kinder sahen zu, wenn er den Fluss entlang nach Hause kam, die Hände in den Manteltaschen, Hut auf dem Kopf, die Beine verjüngt bis auf die ordentlichen Budapester, stets begleitet von dem metallischen Klappern seiner Blakeys auf dem Boden. Immer war er von einer Aura der Gefahr umgeben und wirkte bedrohlich, was bedeutete, dass sie ausnahmslos jedes Mal aus ihrer Deckung sprangen und schreiend vorausrannten, um sich rasch im Haus zu verstecken.

»Nur weiter«, sagte Brooke. »Was für Vermutungen?«

Sie holte einen Stapel getippter Arbeitsanweisungen aus der Hütte, die von einem Briefklemmer zusammengehalten wurden.

»Die Theorie lautet, dass die Bombenleger darauf aus sind, die Deutschen zu beeindrucken. Aber sie schlagen sich nicht gut, oder? Bisher haben sie aus Versehen ein Dutzend Zivilisten getötet, ein paar Briefkästen abgefackelt und einige Kinobesucher gestört. Die wollen, dass Berlin denkt, sie wären die Armee hinter den Linien. Darum wird vermutet, dass sie weitermachen und sich steigern werden. Zuerst einmal sollen wir die wichtigsten Anlagen der Infrastruktur im Auge behalten – Tanklager, Drehbrücken, Brücken im Allgemeinen, Flugplätze und Startbahnen. Schleusen auch. Und die Pumpwerke in den Fens. Deiche. An der Denver Schleuse kampiert ein ganzes Platoon, um dafür zu sorgen, dass wir alle sicher in unseren Betten schlafen können, geschützt vor der Gefahr, dass eine einzige Bombe eine Überschwemmung auslöst. Stellen Sie sich das vor, Brooke. Sogar Berlin würde es merken, wenn hier plötzlich ein Binnenmeer auftaucht.« Sie stürzte einen Schluck lauwarmen Tee hinunter. »Jeder Observationsposten hat eine Liste von Zielen, die er überwachen muss. Und das ist meine Priorität.« Sie zeigte nach unten, wo die Straße in die Ferne führte, und dann zu der Great Bridge.

»Wenn jemand die Brücke hochjagt, geht die Hölle los, Brooke. Die wichtigste Nord-Süd-Verbindung. Hauptflussquerung. Die Armee sagt ein Chaos voraus, und die müssen es wissen, schließlich sind sie perfekt darin, eines zu schaffen. Wenn wir irgendetwas Verdächtiges bemerken, besonders nach Einbruch der Dunkelheit, sollen wir das Militär in Madingley Hall anrufen. Ich persönlich glaube jedoch nicht, dass die sich die Mühe machen werden. Zu offensichtlich. Wenn ich an deren Stelle wäre und es auf internationalen Budenzauber angelegt hätte, dann würde ich mir einen Munitionszug vornehmen. Davon haben wir jetzt zwei oder drei jede Nacht. Eine Meile lang, Brooke. Braucht zwanzig Minuten, um vorbeizurattern. Wenn so einer entgleist, das wäre ein Albtraum. Und wenn man ihn dann noch anzündet, hört man den Knall noch in Berlin.«

Wie aufs Stichwort konnten sie in der Stille von ferne das Rattern eines Zuges hören.

Brooke betrachtete ihr Profil, die leicht geöffneten Lippen, die leuchtenden Augen. Seine Tochter hatte geflüstert, Jo habe einen neuen Liebhaber, einen Piloten. Und dieser sei anders, nicht nur ein fescher Schnurrbart, der mit wehendem Seidenschal im offenen Wagen einherfuhr. Und zweifellos hatte etwas die Stimmung hier in dem zugigen Dach-OP verbessert. Besuchte der neue Mann sie auf dem Dach? Wandel lag jedenfalls in der Luft. Brooke waren ein paar subtile Veränderungen aufgefallen: Ein kleiner Spiegel hatte immer auf der richtigen Höhe in der Hütte gehangen, dass Jo Lippenstift auflegen konnte. Der war fort. Und sie zündete sich nicht mehr mit einem extravaganten Streichholz die Zigaretten an, sondern viel diskreter mit einem Feuerzeug, das sie mit der Hand abschirmte, den Kopf abgewandt. Und ihr Lächeln wirkte nicht mehr so brüchig.

»Es gibt noch wildere Gerüchte«, berichtete Ashmore und versteckte das Gesicht hinter ihrem Feldstecher. »Einer der OP-Männer sagte, ein Kamerad, der ein Gespräch im Zug mit angehört hat, hätte ihm erzählt, einer der Bombenleger aus Coventry hätte, als man ihn geschnappt hat, Pläne in der Tasche gehabt: Buckingham House, offensichtlich. Die sind immer noch alle in London – der König, die Königin. Und sie haben versucht, Chamberlains Sohn umzubringen – haben Sie das schon gehört?«

Brooke nickte. »Nicht gerade welterschütternd, nicht wahr? Die Bombe war in einer Tabaksdose, Jo. Und er war in Irland.«

»Mag sein. Aber wir sind in Alarmbereitschaft. Uns steht dieser Besuch Prinz Henrys bevor. Sie können sich vorstellen, was für einen Wirbel der auslösen wird. Und da kommt immer mehr Papierkram aus London über die IRA. Diese beiden Bombenleger, die in Birmingham auf den Henker warten. Wenn die baumeln, wird die IRA zurückschlagen. Die können gar nicht anders.«

Und dann lachte sie. Ihr hübsches Gesicht strahlte bei der Aussicht auf Exekution und Chaos.