KAPITEL EINUNDZWANZIG

Als die Abenddämmerung hereinbrach, schien es, als würde der Schnee, der immer noch auf Dächern und in Parks lag, sich mit einer inneren Lichtquelle verbinden und heller werden, während der Himmel dunkler wurde. Eine kurze Schmelze am Nachmittag war gnadenlos in ihr Gegenteil verkehrt worden und hatte eine lebensgefährliche Patina aus Eis auf dem Pflaster und sägezahnförmige Eiszapfen an den Traufen hinterlassen. Brooke holte sich eine Taschenlampe aus dem Spinning House, ehe er sich, eingewickelt in den Mantel aus dem Großen Krieg, forschen Schritts zum Fluss aufmachte: nicht zu dem mittleren Abschnitt zwischen den steinernen Collegemauern, sondern zum Oberlauf in der Höhe von Mill Pond, wo die kreidelastigen Bäche aus den Bergen im Süden hereinströmten und durch die Auen in Richtung Stadt wanderten.

Der Mill Pond selbst hatte über die Jahrhunderte des Herumwirbelns, ehe das Wasser unter die Silver Street Bridge verschwand, eine tiefe Grube geformt. Sogar jetzt, da vom Fluss kaum mehr als ein Rinnsal übrig war, blieben seine finster-grünen Tiefen unberührt, verborgen unter einer trüben Eisschicht. Von dem trägen Bach, der ihn speiste, war nur noch ein trockenes Bett übrig, inmitten dessen ein glitzernder Wasserfaden sich durch Kies und Sand einen Weg durch Coe Fen bahnte, die Wiesenlandschaft, die auch Brooke früher an diesem Tag durchquert hatte.

Kalte Luft setzt sich gern in Senken und Untiefen fest, und so spürte Brooke, als er die Stufen zum Stocherkahnanleger hinabschritt, dass die Temperatur noch weiter abfiel. Ein Bootswart kontrollierte die Ketten, mit denen die Wasserfahrzeuge gesichert worden waren – zwanzig oder mehr, die nun eines neben dem anderen auf dem Flussbett lagen. Ein Police Constable stand neben einer mit flackernder Flamme brennenden Kohlenpfanne, die auf dem Kies aufgestellt worden war.

»Alles in Ordnung?«, fragte Brooke.

»Sir. Ich soll diese Treppe und den Anleger bewachen. Alle anderen Treppen stromabwärts werden auch bewacht, bis runter zur Great Bridge.«

Der PC deutete mit einem Nicken über Brookes Schulter. »Da sind die Truppen.«

Das Zivilschutzdepot hatte zugestimmt, dem Borough für diese Nacht zwanzig Mann auszuleihen. Die Männer, überwiegend zu alt oder zu jung für den Militärdienst oder Kriegsdienstverweigerer, bildeten ein recht merkwürdiges Bataillon, wie sie da mit ihren Taschenlampen und einer Auswahl an Gartengeräten herannahten: Harken, Besen, Hacken, und einer hatte sogar eine Schubkarre dabei.

Brooke bat sie, die Stufen zum Flussbett hinunterzusteigen, während er auf dem Anleger blieb, als stünde er auf einer Bühne über seinem Publikum.

»Mein Name ist Inspector Eden Brooke«, sagte er. »Wir sind Ihnen dankbar, dass Sie uns heute Abend helfen. Der Fluss ist beinahe trocken. Ein Kind wurde vor zwei Nächten hineingeworfen, in einem Sack. Wir müssen den Fluss von hier bis Baits Bite absuchen. Das Kind wurde zuletzt gesehen, als es unter der Mathematiker-Brücke vorbeitrieb.«

Brooke deutete stromabwärts. Jenseits des modernen Bogens der Silver Street Bridge konnte man soeben noch vage die Silhouette des hölzernen Wunders selbst erkennen, eine geisterhafte Wölbung, geschaffen aus geraden Balken.

»Ich bedauere, dass Sie so eine grausige Arbeit vor sich haben. An der Great Bridge und der Schleuse auf der anderen Seite gibt es heiße Suppe und Tee. Halten Sie die Augen offen. Wann immer Ihnen etwas verdächtig erscheint oder ungewöhnlich, wann immer etwas Ihre Aufmerksamkeit erregt, melden Sie es einem der Constables.«

Im flackernden Lichtschein der orangefarbenen Flammen der Kohlenpfanne konnte Brooke den Schrecken in ihren Augen sehen. In diesem merkwürdigen Licht wirkten sie seltsam bedrohlich, beinahe wie ein Lynchmob, der nur darauf wartete, seine Fackeln zu entzünden und sich auf den Weg in die Barackensiedlung jenseits der Gleise zu machen.

Ein Polizeiwagen traf ein und spuckte ein halbes Dutzend uniformierter Officer aus, die von der Grafschaftspolizei zur Unterstützung abgestellt worden waren. Sie hatten eine Metallkiste dabei, in der sich Dutzende von Wachsfackeln befanden.

Brooke nahm sich eine davon und schwenkte sie. »Früher waren die mal sehr nützlich«, sagte er und fing an, sie zu verteilen. »Die Busgesellschaft hat sie den Schaffnern an nebligen Abenden mitgegeben, damit sie mit ihnen vor dem Bus gehen und den Weg freimachen konnten. Eine langsame, aber sichere Reise.«

Er zündete das Ende der ersten Fackel an und hielt sie hoch. Die Flamme leuchtete in einem intensiven Rotblau und flackerte unstet.

»Sie brennen eine Stunde lang. Wir halten an der Great Bridge Ersatz bereit.«

Die Gruppe machte sich unterhalb der Silver Street auf den Weg, erst eine Reihe von Männern, dann eine zweite, um alles doppelt zu überprüfen. Die Fackeln sprenkelten mit ihrem Licht das Mauerwerk, als sie unter der Brücke hindurchgingen. Am Queens’ College standen zwei Studenten still rauchend an einem Fenster und sahen zu.

Während sie flussabwärts zogen, folgten die Backs einem vertrauten Muster. Das linke Ufer bestand überwiegend aus offenen Auen, die aus der Tiefe des Flussbetts nicht zu sehen waren. Auf der rechten Seite drängten sich hohe Collegewände an das Ufer und ragten über den Fluss hinaus.

Sie marschierten weiter, behielten ihren dilettantisch wirkenden Rhythmus bei, durchbrochen von dem einen oder anderen Ausruf, der Treibgut im Flussbett signalisierte: ein Fahrrad, ein löchriger Stocherkahn, ein Messingschlüssel mit einem hölzernen Anhänger. Die vorausschreitende Reihe zog weiter, während die Constables dahinter die Funde untersuchten. Weiter vorn konnte Brooke die King’s College Bridge sehen, aus deren Schatten sie schließlich heraustraten und die Spitztürme der großen Kapelle vor sich hatten, die sich, vom Mond beschienen, vor dem Sternenhimmel abhoben. Die marschierenden Männer brachten ihre eigene Kondenswolke hervor, gleichsam ein Gegenstück zu den dampfenden Kühen, die Brooke eine Weile früher in den Auen gesehen hatte.

Zumeist unter Brücken aufgefunden trat immer mehr Treibgut zutage, während sie nach Norden zogen. Pintgläser, Weingläser, ein paar Flaschen, ein Silberteller mit dem eingeprägten Wappen des Clare Colleges; ein zerbrochener Kristalldekanter lag unter den Fenstern von Studentenzimmern, eine tote Katze war gegenüber der Wren Library an einen Stein gebunden worden.

An der Seufzerbrücke hielt Brooke inne und zündete sich eine Zigarette an.

Das vertraute, elektrische Summen der Erschöpfung brachte sein Herz zum Rasen. Im Sommer hatte er es geliebt, hier zu schwimmen, in dem Bereich, in dem die Collegegebäude beide Ufer besetzten. Fackelschein tanzte über die gedeckte Brücke, die von den mittelalterlichen Höfen des St. John’s auf der rechten Seite zu der viktorianischen Neo-Gotik auf dem linken Ufer führte. Der steinerne Tunnel, der sich dazwischen wölbte, war feucht und schaurig und stand in perfekter Harmonie zu der Reputation des venezianischen Originals, durch das Gefangene vom Dogenpalast zum Gefängnis der Republik geführt worden waren. Brooke konnte gerade noch die schattenhaften Gestalten der Studenten ausmachen, die über die gedeckte Brücke gingen, dazu verurteilt, dem kraftlosen Läuten der Essensglocke zu gehorchen.

Sie gingen weiter. Bald hatten sie die Great Bridge erreicht, wo eine mobile Teeküche aufgebaut worden war, die in fettdichtes Papier gewickelte Sandwiches mit heißen Würstchen verteilte. Inzwischen war Rationierung angeordnet, und alle hatten gelernt, solche Gaben rasch zu verspeisen und dabei jeder ernsthaften Begutachtung des verwendeten Fleischs zu entsagen. Würstchen waren allgemein als »Wundertüten« bekannt. Der Arbeitstrupp haute an der Brüstung kräftig rein, froh, für kurze Zeit der übermäßig kalten Luft unter der Brücke entkommen zu sein.

Brooke blickte stromabwärts. Dort änderte sich das Muster zum ersten und einzigen Mal: links das Madgalene College, rechts der ausgedehnte Anleger, dahinter eine offene Parklandschaft. Ein paar Kanalboote hier, dann kamen Hausboote, alle auf dem Trockenen oder in dunkeln Pfützen gestrandet. Ihre Heizungen und Pumpen arbeiteten, um das Vordringen des Eises zu verhindern.

Zwanzig Minuten Pause, dann ging es wieder die Stufen hinab in das trockene Flussbett. Die Stadt blieb hinter ihnen zurück. Vor ihnen hob sich die dunkle Silhouette der Jesus Lock vor den Bäumen ab, die im hellen Lichtschein zweier vom Militär in Madingley Hall angeforderten Flakscheinwerfer lagen.

Aber zuerst die Schleuse: Die beiden Reihen Freiwilliger kamen zusammen, um, angeführt von Brooke, im Gänsemarsch durch die Lücke zwischen den Schleusentoren zu marschieren. Anschließend teilten sie sich wieder auf und bemühten sich, das ganze breite Bett abzudecken, das dort seine lange Reise gen Norden zur fernen See begann. Zu beiden Seiten lagen Hausboote kreuz und quer auf Grund, mehrere davon beleuchtet. Menschen standen an Deck und beobachteten schweigend, wie die Suche unerbittlich voranschritt. Auf einem Boot, einem baufälligen Wrack, behangen mit Takelwerk, erklang für wenige Sekunden Jazzmusik und verstummte dann wieder.

Die gleißenden Scheinwerfer transformierten jeden Kieselstein, jede weggeworfene Flasche und ließen sie so plastisch hervortreten wie Artefakte in einer Galerie, ein jedes angetan mit einem eigenen schwarzen Schatten.

Brooke sah den Sack zuerst, dreißig Yards voraus, keine hundert Yard von der Stelle im Zulauf zur Schleuse entfernt, an der er die fahle Hand hatte untergehen sehen. Erst schöpfte er Hoffnung: Der Sack sah erschlafft aus, leer geradezu, wie er da flach auf dem Kiesbett lag. Doch das erwies sich als grausame Illusion, denn als er näher kam, sah er, dass er in einer Mulde im Flussgeröll lag, umgeben von einer dünnen Schicht Eis. Der Leichnam hatte sein eigenes flaches Grab gefunden.

Neben dem Sack blieb er stehen, die Taschenlampe auf die Füße gerichtet. Die Hand des Kindes lag immer noch außerhalb des Leinensacks. Die rhythmischen Schritte der Suchmannschaft stockten und verklangen hinter ihm, Gespräche verstummten. Für die Dauer eines Gebets herrschte vollkommene Stille. Brooke trat vor und schnitt das Zugband des Sacks auf. Das Leinen sackte herab und gab den Blick frei auf beide Arme und einen Hinterkopf mit einem Schopf schwarzer Haare, verkrustet mit Eis, blutig um eine tiefe Wunde herum. Er schnitt den Sack der Länge nach auf. Der Leichnam, gefroren und steif, verharrte in seiner fötalen Haltung.

Er stellte die Laterne ab. In ihrem Licht stachen deutlich die ausgestreckte Hand und der nackte linke Arm hervor. Am Unterarm waren die tintigen Reste eines Kinderspiels zu sehen. Brooke erkannte es als Galgenmännchen, ein Spiel, bei dem ein Spieler ein geheimes Wort wählt, von dem nur die Anzahl der Buchstaben verraten wird, die der andere Spieler dann einen nach dem anderen erraten muss. Jedes Mal, wenn er falsch rät, darf sein Gegner einen Strich des Galgenmännchens zeichnen. Das noch unvollständige Wort bestand aus A_CH_A_. An dem Galgen baumelte ein Männchen, ein einzelner Strich über den Hals kündete von seinem Tod und für den Knaben von einem letzten kindlichen Sieg.

Brooke stand still da, die Menge im Rücken. Er wurde doch von einem Gefühl der Einsamkeit überwältigt, eine seltene Emotion. Plötzlich fragte er sich – eigennützig –, ob er wohl später, wenn die Leiche abtransportiert und seine Pflicht getan war, Zeit finden würde, zum Krankenhaus zu gehen und Claire zu besuchen, um sie zu berühren und die Wärme ihrer Haut zu spüren.