KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

Als Brooke die King’s Parade hinaufging, löste sich auf ein für ihn nicht hörbares Kommando hin eine saubere Reihe Chorknaben, die gerade die große Kapelle verließen, auf, und eine wilde Schneeballschlacht begann. Davon abgesehen war es still im Stadtzentrum, auch wenn leise Pianoklänge aus den Türen des Mitre an der Bridgeland schwebten. Die Uhr schlug zehn, als er auf der Great Bridge den Fluss überquerte. Er stieg zum Castle Hill hinauf und bog am Fuß des Hangs nach links in eine Gasse beim Old Ferry ab, einem für samstagabendliche Raufereien berüchtigten Wirtshaus.

Edisons Mitteilung war deutlich gewesen: Wenn er Zeit hätte, sollte Brooke bei erster Gelegenheit zum Castle End Working Men’s Institute in der Upper Town gehen. Unter keinen Umständen sollte er es durch die Vordertür betreten. Stattdessen wollte er vom Old Ferry aus den Pound Hill hinaufsteigen und sich in den Lieferhof auf der Rückseite des Clubs schleichen. Dort sollte er anklopfen, um Einlass zu erhalten. Nicht zum ersten Mal war Brooke beeindruckt von Edisons natürlicher Autorität und Zuversicht, die sich in der Tatsache spiegelte, dass er ganz offensichtlich die Verantwortung für den Einsatz vor Ort übernommen hatte.

Brooke folgte dem Weg, den sein Detective Sergeant ihm beschrieben hatte. Seine Schuhe glitten gefährlich über Eis und Schnee des Hügels, als er sich bergan vom Fluss entfernte. Das Stuke – wie die Einrichtung liebevoll genannt wurde – war eine Mischung aus roten Ziegeln und cremefarbenem Zierrat, ein nutzloser gotischer Prunkbau, bezahlt, wie es auf einer Plakette hieß, von den Spenden diverser Colleges. Die Verdunkelungsrollos vor den Lanzettfenstern waren beeindruckend wirkungsvoll. Der Club hätte wie ausgestorben aus gesehen, wenn nicht eine verräterische Rauchsäule über dem Schornstein gestanden hätte. Edisons Anweisungen folgend, ging Brooke auf die Rückseite und klopfte kraftvoll an die breite Tür mit der Aufschrift KELLER.

Ein Bediensteter in weißem Hemd und Krawatte ließ ihn wortlos ein. Am Ende eines Korridors erkannte Brooke die Bar und dahinter einen großen Raum voller Tische, an denen Männer paarweise Dominosteine herumschoben. Zigarettenrauch hing in der Luft, hier und da verdrängt von dichten Schwaden Pfeifenrauchs. Im Radio lief etwas Orchestrales, das die Atmosphäre verfeinerte: Vaughan Williams, vielleicht, oder Britten.

»Alte Herrschaften, heute Abend«, sagte der Bedienstete. »Hab ihnen erzählt, wir hätten Familienbesuch. Die sind nicht dumm, aber sie wissen, wann sie den Mund halten müssen.«

Im Obergeschoss saß Edison im Kerzenschein an einem Gaubenfenster und hielt liebevoll ein Pint Bier in Händen.

»Sir. Irgendwas Neues vom Fluss?«

Brooke informierte ihn über die jüngste Entwicklung: »Ich habe Doktor Comfort seiner Autopsie überlassen.«

Die Neuigkeiten gaben Edison erkennbar zu denken, denn er nickte und nippte mehrfach an seinem Bier. Brooke wartete darauf, dass der Bedienstete ihm den bestellten Whisky brachte, ehe er sich einen Stuhl heranzog und neben seinem Detective Sergeant Platz nahm.

»Welches Haus?«, fragte er.

»Tja, Sir, das ist weniger ein Haus als ein Kaninchengehege. Tut mir leid, dass ich Sie hergerufen habe, aber der nächste Schritt ist knifflig. Ich dachte, das würden Sie sich persönlich ansehen wollen.«

Gegenüber führte eine schmale Straße vom Pound Hill herab, kaum mehr als ein breiter Pfad und ungefähr hundert Yard lang. Das war Honey Hill, mit verfallenen Gebäuden, größtenteils Holzständerwerk, das zu beiden Seiten gefährlich in die Gasse hineinragte. Ein Flickwerk aus Dächern, getüpfelt mit Schornsteinen und Fenstern, vervollständigte das Bild einer mittelalterlichen Armensiedlung, die unverändert in das zwanzigste Jahrhundert getragen worden war.

»Ein echtes Elendsviertel«, kommentierte Edison. »Wir wollten niemanden auf unsere Anwesenheit aufmerksam machen, daher war das nicht ganz einfach. Die Gebäude bilden einen verzahnten Block. Es gibt mindestens sechs Vermieter, die Wohnungen, Zimmer oder Betten anbieten. Ich habe beim Rat nachgefragt: Es gibt drei Toiletten und ein einziges Bad. Alles abbruchreif. Die Wasserversorgung besteht aus einem Trinkbrunnen am hinteren Ende.«

Edison schüttelte den Kopf, nippte erneut an seinem Pint und stellte es ab.

»Aber er ist da drin, ja?«

»Ja, Sir. Der örtliche Constable kennt den Namen. Patrick O’Leary – also P. O. An Samstagabenden ist er ein regelmäßiger Gast in den Zellen des Spinning House. Trunkenheit und Ruhestörung, ein Raufhandel im letzten Oktober. Trinkt im Commercial am Mitcham’s Corner. Ich habe einen Detective Constable beauftragt, ihm von der Arbeit nach Hause zu folgen. Er ist Bauarbeiter.« Edison sah zur Uhr. »Vor zwei Stunden heimgekommen. Er ist zur dritten Tür rechts rein. Wie gesagt, das ist ein Kaninchenstall, aber es gibt keinen Weg hinaus, außer über die Straße. Es sei denn, er ist schwindelfrei und verzweifelt, dann könnte er auch über die Dächer zu verschwinden versuchen. Aber wenn wir reingehen, können wir die Straßen überwachen. Irgendwann muss er ja wieder runterkommen.«

Am Honey Hill wurde eine Tür geöffnet, und ein Hund kanterte heraus, hockte sich in den Schnee und trottete wieder hinein. Von seinem Eigentümer war nur eine Hand zu sehen.

»Etwas anderes«, sagte Edison. »Nach dem, was man mir in Coventry erzählt hat, ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Bombenwerkstatt hier ist. Dünne Wände, haufenweise Leute – das funktioniert einfach nicht. Es muss sich um eine Garage handeln, einen Lagerraum, einen Keller.«

»Und wenn wir ihn beobachten, könnte er uns dorthin führen?«

»Darum geht’s, Sir.«

Unten gesellte sich zu der Kakophonie herumgeschubster Dominosteine abrupt geselliges Raunen.

Die Schneedecke auf Honey Hill war makellos, abgesehen von dem Fleck, den der Hund hinterlassen hatte.

Brooke zündete sich eine Zigarette an.

»Wie Sie gesagt haben, Edison. Eine knifflige Entscheidung. Wir könnten ihn heute Nacht in der Zelle haben. Sollten wir ihn verlieren, kommt uns das teuer zu stehen. Irgendwelche Telefonleitungen in dem Block?«

»Keine einzige, Sir. Die nächste Zelle ist dort.«

Weit unten am Pound Hill konnten sie eine Telefonzelle unter einem Tannenbaum sehen. Schnee hatte ihr eine adrette Pyramide aufs Dach gehäuft.

Das Dilemma lag auf der Hand. Sollte die IRA-Zelle einen zweiten Anschlag planen und O’Leary merken, dass er beobachtet wurde, könnte er die anderen alarmieren. Dann würden sie alle untertauchen, könnten aber beschließen, zuvor noch die zweite Bombe zu zünden. Oder hatte der Mord an Sean Flynn sie in Panik versetzt? Vielleicht würde der Rest der Bande hierher zum Honey Hill kommen. Oder O’Leary führte sie zu seinen Kameraden.

Es war eine Falle, aber sie brauchten Zeit, um sie zuschnappen zu lassen.

»Ich wäre erheblich glücklicher, wäre diese Telefonzelle nicht dort«, sagte Brooke. »Was, wenn er weiß, dass wir ihn beobachten? Was, wenn er Alarm schlägt?« Er wog die Möglichkeiten ab und traf eine Entscheidung. »Beobachten wir ihn heute Nacht und morgen. Mal sehen, was er tut und mit wem er redet. Vielleicht haben wir Glück. Ich richte einen Dienstplan ein, damit Sie eine Pause bekommen. Aber überwachen wir ihn eine Weile.

Ich muss morgen früh nach London, um Sean Flynns Eltern aufzusuchen, nachdem ich Pater Ward die schlimme Neuigkeit überbracht habe. Ich kann nicht einfach im örtlichen Revier anrufen und dort für die Eltern die Nachricht hinterlassen, dass ihr Junge tot ist. Ich werde es ihnen von Angesicht zu Angesicht sagen. Außerdem ist das eine Chance, mehr über Sean und seine Familie zu erfahren. Gegen Abend bin ich zurück. Wenn sich hier weiter nichts ändert, werden wir O’Leary morgen Nacht einsammeln, um Mitternacht.«

Brooke stieg die Treppe hinunter, bestellte ein frisches Pint für Edison und trat hinaus in den Schnee. Während er dort in der Stille stand, wühlte er in seiner Manteltasche. Das Klappmesser hatte seiner Mutter gehört, daher der Perlmuttgriff, und die Klinge war abgenutzt, weil sie damit Rosen geschnitten hatte. Er marschierte den Pound Hill hinab, betrat die Telefonzelle und trennte das Kabel durch.