Auf dem Heimweg hielt Brooke auf der Trinity Street unter Jo Ashmores luftigem Dachhorst inne. Der komprimierte Schnee dämpfte das gewohnte Ratatatat seiner Metall-Blakeys auf dem Pflaster, und die Abwasserrohre waren in der Kälte eingefroren, was die Stille vollendete. Deshalb wiederum war es ihm möglich, das Lachen zu hören: Jos perlende Stimme, eindeutig, aber sie war nicht allein auf ihrem Beobachtungsposten.
Die Männerstimme klang unauffällig, hatte aber einen neckischen Unterton. Brooke stand rauchend im Schatten und dachte über seine Reaktion nach. Er fühlte sich fehl am Platz und enttäuscht, dass er auf Jos jugendliche Gesellschaft, den heißen Grog und den Panoramablick über die Stadt verzichten musste. Aber da war auch ein Gefühl väterlicher Zufriedenheit darüber, dass ihr langes Exil auf dem Dach, von dem aus sie das Leben nur beobachten konnte, sich offenbar dem Ende näherte. Als er aufblickte, konnte er Zigarettenrauch über die Straße treiben sehen. Ihre Worte wurden leiser, und Brooke stellte sich vor, wie sich die beiden dort oben einander näherten, was ihm das Gefühl gab, ein Voyeur zu sein. Also ergriff er die Flucht.
Wieder machte er sich auf den Weg nach Hause zu einem heißen Bad und sogar ein bisschen Essen, ganz im Sinne von Aldiss’ strengen Regeln, doch gegenüber den geisterhaft weißen Wänden des Senate House blieb er abrupt stehen, als ihm in der stillen Luft der appetitliche Duft von frisch gebratenem Speck in die Nase stieg. Er folgte seiner Nase zum Market Hill. Der viereckige Platz war verlassen, abgesehen von ein paar mit Planen abgedeckten Ständen und einem einzelnen Lichtspritzer, dort, wo der Teestand trotz der Eiseskälte wieder aufgemacht hatte.
Ein Platoon Soldaten drängte sich um den Verkaufstresen, während sich eine Gruppe Straßenbahnfahrer, immer noch in Uniform, mit dampfenden Bechern in Händen um eine kleine Kohlenpfanne versammelt hatte, über der Rauch unberührt von Wind in einer vertikalen Säule emporstieg. Rose King, die Eigentümerin, war Brookes älteste und verlässlichste Nachteule. Ihr Stand war gewöhnlich vierundzwanzig Stunden am Tag geöffnet. Das bittere Winterwetter hatte sie zunächst zu einer vorübergehenden Schließung gezwungen, aber nun war sie wieder im Geschäft. Die Nachtschicht behielt Rose sich persönlich vor, die Arbeit bei Tageslicht überließ sie ihren drei Töchtern.
Nach dem Großen Krieg hatte Brookes erste Runde als uniformierter Constable, eine Nord-Süd-Linie durch die Altstadt, ihn viermal in der Nacht über den Market Hill geführt, eine Wanderung, die nie so recht offenbaren wollte, wo genau der »Hill« lag, bedachte man, dass Platz und Straßen hier allesamt so flach und eben wie das umgebende Marschland waren. In einem alten Buch über die Geschichte der Stadt, das Claire ihm einmal zu Weihnachten geschenkt hatte, hatte er die Lösung des Rätsels gefunden: Es gab keinen Hügel, denn das alte sächsische Wort leitete sich von einem Begriff für einen Treffpunkt ab. Höhe war, wie es schien, eine sekundäre Qualität.
Es war definitiv ein guter Treffpunkt für Nachteulen.
Die Soldaten bildeten eine Lücke, um Brooke zum Tresen durchzulassen.
»Schau her, schau her, der Nachtdetective«, sagte Rose und schüttete eine dunkle, tanninhaltige Brühe in einen großen Becher. Sorgfältig steckte sie eine graue Haarlocke unter ihr kunterbuntes Kopftuch. »Das Übliche?«, fragte sie und legte zwei Speckstreifen auf den Grill.
Roses Tresen war ihre Bühne und jede Bewegung eine dramatische Geste. Sie schnitt zwei Scheiben Brot und bestrich sie mit einem einzigen Streich ihres breiten Messers mit Margarine.
Bewaffnet mit zwei Bechern Tee kam sie heraus und stellte sich mit Brooke nahe an die Flammen, die inmitten des Rauchs zu flackern angefangen hatten. Ihre Fingerspitzen ragten aus fingerlosen Wollhandschuhen hervor.
»Kalte Nacht«, bemerkte Brooke.
»Wird noch kälter. Aber die Leute gewöhnen sich daran, also dachte ich, wir zeigen unseren guten Willen. Die ganze Nacht geöffnet seit fast zwanzig Jahren, Brooke, da darf England schon etwas erwarten. Kann die Kunden nicht im Stich lassen. Das hier ist die Heimatfront, und wärmer wird’s auch nicht, nicht wahr? Das Eis hält schon seit einer Woche, womöglich länger. Hören Sie mal.«
Rose war eine Anhängerin volkskundlicher Mystik, vor allem, wenn es um das Wetter ging.
Brooke lauschte angestrengt, konnte aber nichts außer der Unterhaltung der Soldaten hören, also zuckte er mit den Schultern.
»Genau«, verkündete Rose triumphierend. »In den meisten Nächten kann man um diese Zeit die Züge im Güterbahnhof hören, die Räder, das Koppeln. Stille bedeutet Nordwind. Nicht hier unten, da oben …« Sie deutete zum Himmel hinauf.
»Wie geht es den Mädchen?«, fragte Brooke, erpicht darauf, das Gespräch auf rationalem Terrain zu halten.
»Die große Neuigkeit lautet, dass Dawn schwanger ist. Es ist ihr Erstes, und sie hat es nicht mal gewusst. Ich habe es ihr gesagt – es war sonnenklar. Das Haar glänzend, die Augen strahlend, Wangen rosig wie Äpfel. Sie hat richtig geglüht. Ist jetzt im dritten Monat.«
Ein flüchtiges Bild entstand in Brookes Kopf, das Bild der strahlenden Mrs Walsh, der jungen Gattin des Schulleiters von St. Alban’s. Erwartete den Schulleiter auch eine glückliche Nachricht? Wusste er es vielleicht schon?
Brooke erzählte Rose von Joys Baby und der Vorstellung, Großvater zu werden und dass Claire schon jetzt das alte Kinderzimmer unter dem Dach strich. Ein Kinderbettchen war bereits erstanden worden, doch das lagerte im Gartenschuppen, um kein Unglück anzulocken.
Rose strahlte, erfreut darüber, Hinweise auf das Beharrungsvermögen alten Aberglaubens zu erhalten. »Die anderen Mädchen haben alle Hände voll zu tun. Wir haben drei Evakuierte aufgenommen.«
»Londoner?«
Sie nickte. »East Ender. Das öffnet einem die Augen, das kann ich Ihnen sagen. Badezeit ist was ganz Neues. Und diese Sprache … Trotzdem, das Geld hilft, und wenn man die Lebensmittelmarken zusammenlegt, kann man eine ordentliche Mahlzeit zubereiten.«
Der Gedanke, dass die Regierung für den Unterhalt der Kinder bezahlte, war Brooke noch gar nicht gekommen. Angeblich sollten zehntausend Kinder bei Familien in der Stadt untergebracht werden. Die Stadt hatte sich in einen riesigen Spielplatz verwandelt.
»Irgendeine Spur von den Eltern?«
»Sie haben die Kinder Weihnachten nach Hause geholt, aber jetzt sind alle wieder zurück bei uns. Die Regierung sagt ständig, die Kinder müssten bleiben, man müsse sie von der Gefahr fernhalten. Aber viele gehen trotzdem heim. Unsere werden ihnen folgen, warten Sie’s nur ab. Es sei denn, die Bombardierung fängt an. Dann heißt es Volldampf voraus, nur umgekehrt. Wie bei allem anderen auch. Je mehr sie darüber reden, dass man nicht in Panik verfallen soll, desto wahrscheinlicher wird es, dass sich Panik ausbreitet.« Rose trank ihren Tee. »Wie geht es Ihrem Jungen?«
»Luke? Wir warten ständig auf Briefe. Er sitzt an der belgischen Grenze fest und wartet darauf, dass es losgeht. Joys Mann ist auf einem U-Boot. Sie versucht, nicht darüber nachzudenken, aber es funktioniert nicht. Sie wissen doch, dass man sich für die U-Boote freiwillig melden muss? Die schicken niemanden runter, der nicht will. Mich erstaunt, dass sie überhaupt eine Mannschaft zusammenbekommen, ganz zu schweigen von Hunderten.«
Sie verfielen in Schweigen und sahen den Flammen zu.
»Vor einer Stunde hatte ich hier die Leute vom Zivilschutz. Die haben alle über das Kind geredet, das Sie im Fluss gefunden haben.« Rose warf einen verstohlenen Seitenblick auf Brookes von den Flammen angeleuchtetes Gesicht. »Sie finden den Mörder. Ich weiß, das werden Sie. Aber wenn nicht oder wenn es lange dauert, dann nehmen Sie es nicht persönlich. Gehen Sie heim, Eden. Schlafen Sie.«
Brooke setzte seinen Hut wieder an den angestammten Platz, salutierte mit mildem Spott und ging von dannen.