Auf dem Spielplatz von St. Alban’s traf Brooke auf die Kinder, die in dieser besonderen Art herumschwärmten, die nur Unterzehnjährigen zu eigen war: eine Version der brownschen Bewegung, der willkürliche Oszillation von Molekülen in Gasen. Brooke stellte sich immer vor, er könnte das verräterische Geräusch summender Bienen hören.
Die Geschwindigkeit der Zirkulation war in diesem Fall durch neuerlichen Schneefall in der Nacht erheblich beschleunigt worden. Auf dem beengten Hof gab es nur einen Abfluss, der übergelaufen war. Das Wasser war gefroren, sodass in der schwirrenden Menge gelegentlich ein Kind mit hohem Tempo vorüberschoss. Schneebälle flogen in alle Richtungen. Die Zwanglosigkeit von St. Alban’s stand in einem scharfen Kontrast zu dem Klischee jesuitischer Grausamkeit. Mrs Walsh, die Frau des Schulleiters, stand mittendrin in dem Gewühl und schwang ein Kind durch die Luft, als nähme sie an Highland Games teil, im Begriff, die Axt zu werfen.
Das Schulgebäude hatte zwei Stockwerke und große, mit Metallgittern versehene Fenster. In einer Nische in der Mitte der Fassade stand eine Statue von St. Alban. Übriggebliebener Weihnachtsschmuck verstellte den Blick auf die Innenausstattung. Zum ersten Mal schien Brooke die Identität des Schutzheiligen der Schule und der Kirche wichtig zu sein: St. Alban, der erste christliche Märtyrer Englands. War er erwählt worden, um die kulturellen Wogen zu glätten? Um die viktorianischen Ängste vor einer irischen Übernahme der Kirche im Allgemeinen zu mildern?
Als Brooke eintrat, klingelte draußen auf dem Spielplatz eine Glocke. Liam Walsh, der Leiter, nahm ihn im Hauptkorridor der Schule in Empfang, dem Rückgrat des verkümmerten Erdgeschosses. Heute trug er einen abgenutzten Kordanzug und strich sich mit der Hand durch das schüttere rote Haar. Kinder jagten selbstvergessen um ihn herum. Am hinteren Ende des Korridors stand eine Jungfrau Maria in einer Grotte, die Haut in realistischen Farben bemalt. Ein Licht brannte in einer silbernen Schale, und Bernadette kniete zwischen den steinernen Blumen.
Walshs Augen, die den Parkettboden studiert hatten, hoben sich langsam, um Brookes Blick zu begegnen, aber er musste dort unten eine Andeutung dessen gefunden haben, was nun kommen musste. »Schlechte Neuigkeiten, Inspector? Wir haben gebetet, und zumindest die Kinder waren voller Hoffnung.«
Brooke sagte ihm, dass der Junge gefunden worden war und es keinen Zweifel daran gab, dass es sich um Sean Flynn handelte.
»Ich werde noch heute Morgen nach London fahren, um die Eltern zu informieren. Wir werden natürlich eine formelle Identifikation abwarten müssen, vielleicht am Wochenende«, erklärte Brooke. »Aber wie ich schon sagte, das Kind passt auf die Beschreibung des vermissten Jungen. Wir haben den Leichnam unterhalb von Jesus Lock gefunden, seine Kennkarte weiter stromaufwärts. Er hat einen Schlag auf den Schädel davongetragen, der allein ausgereicht hätte, um ihn umzubringen. Wir müssen den Mann finden, der das getan hat, Mister Walsh. Ich möchte noch einmal mit den Kindern sprechen.«
Walsh schwieg und hielt den Kopf gesenkt, und Brooke erkannte mit Schrecken, dass er betete. Ein kurzes, flüchtiges Kreuzzeichen erlöste ihn, und er ging voran zu der Jungfrau am Ende des Korridors. Um sie herum strömten die Kinder zurück in ihre Klassenzimmer, und das Gebäude füllte sich mit den Ausdünstungen von feuchter Wolle und nassem Leder.
»Wir haben vorerst alle Evakuierten in eine Klasse gesteckt«, sagte Walsh, und seine Flüsterstimme war noch schlechter zu hören als sonst. »Sie sind alle im gleichen Alter, und wir haben den Platz. Sie sind grundverschieden voneinander. Viele von ihnen sind allein gereist, ohne Freunde, aber inzwischen sind sie einander nähergekommen. Das alles muss furchteinflößend für sie sein.«
Sie betraten das Klassenzimmer. Die Kinder saßen paarweise an Tischen und lauschten Mrs Walsh, die die Namen in alphabetischer Reihenfolge aufrief. Vor der Klasse wirkte sie älter, aber trotzdem immer noch bemerkenswert jung, verglichen mit ihrem Ehemann. Und sogar hier in dem feuchten Klassenraum und dem grellweißen Licht, das vom Spielplatz hereindrang, strahlte sie förmlich vor Gesundheit.
Sie rief die Nachnamen der Kinder auf und nickte knapp, als eines nach dem anderen sich erhob und dann wieder Platz nahm.
»Danke, Mrs Walsh«, sagte der Schulleiter. »Wenn ich darf. Wir müssen für die Seele von Sean Flynn beten, Kinder. Wie es scheint, hat Gott entschieden, ihn nicht zu uns zurückzuschicken. Wir müssen für seine Eltern und seine Brüder beten. Sean wird schon bald im Himmel sein, dennoch müssen wir auch für ihn beten.«
Verunsichert standen die Kinder auf und stimmten in das Vaterunser ein.
Brooke dachte an das vermisste Kind. Frank Edwardes hatte recht. Die Entführung, der Mord, das alles war ganz offensichtlich geplant gewesen. Aber das Kind war ein Gast, das niemanden hier kannte. Wie konnte dieser kleine Junge eine Gefahr für irgendjemanden dargestellt haben? Unterhielt seine Familie Verbindungen zur IRA? War er seinem Mörder irgendwann zwischen dem Verlassen seines Zuhauses und dem »Licht aus« in der Kirche begegnet? Aber wem war er begegnet und wo?
»Kinder«, sagte Walsh und signalisierte ihnen, sie sollten sich setzen. »Das ist Detective Inspector Brooke von der Polizei. Er versucht, die Person zu finden, die Sean geholt hat, die ihm wehtun wollte. Ihr habt nichts zu befürchten. Er hat nur ein paar Fragen. Meldet euch, wenn ihr Antworten für ihn habt.«
Brooke fiel auf, dass die Kinder dem Schulleiter trotz seines sanften Auftretens und des freundlichen Tons in absoluter Stille zugehört hatten. Eines der Mädchen auf der Vorderseite des Klassenraums hatte ein Taschentuch hervorgeholt und hielt es sich vor den Mund. Die gute Laune der Jungs war vollends verflogen. Als Brooke sich vor die Tafel stellte, verfolgten alle Kinder wie versteinert seine Bewegungen.
Die Geschichte von der Reise der Evakuierten nach Cambridge und St. Alban’s war schnell ergründet. Sie hatten sich an King’s Cross von ihren Eltern verabschiedet und einen Sonderzug mit abgetrennten Abteilen und einem einzelnen Korridor bestiegen. Sean hatte sich mit fünf anderen Kindern zusammengetan, sich aber vor allem mit John McQuillan angefreundet.
McQuillan stand auf, als er darum gebeten wurde. Früher hatte Brooke als Polizist in Uniform die Wirkung, die Autoritätspersonen bei Kindern erzielten, öfter beobachten können. Das hier jedoch war ganz anders. Der Junge sah verängstigt aus.
»Hat Sean dir erzählt, ob er glücklich oder unglücklich war? Wie war er, John?«
Die Schultern des Jungen waren in einer konstanten Drehbewegung gefangen. »Weiß nich’«, sagte er.
»John«, mahnte Mrs Walsh, »sprich ordentlich.«
»Ich weiß es nicht, Sir.«
»Hat er geweint, als ihr alle London verlassen habt?«
»Nur die Mädchen haben geweint.« Der Junge war zappelig und schob einen Ärmel seines Pullovers hoch, unter dem ein tintenfleckiger, blasser Arm zum Vorschein kam. Brooke erhaschte einen Blick auf die Zeichnung einer Fußball-Eckfahne mit den Buchstaben QPR.
»Habt ihr im Zug mit Erwachsenen gesprochen?«
Er schüttelte den Kopf. »Sean und ich haben über Fußball geredet. Und dann haben wir Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst gespielt. Wir mussten Kirchtürme und Kühe finden. Eine Frau hat uns Saft und ein Brötchen gegeben.«
»Und Galgenmännchen habt ihr auch gespielt, nicht wahr?«
McQuillan setzte eine misstrauische Miene auf. »Ja, Sir.«
»Und Sean hat gewonnen?«
McQuillan nickte.
»Und was war dann? Was ist passiert, als ihr Cambridge erreicht habt?«
Der Junge brachte keinen Ton heraus, also winkte Brooke ihm zu, er dürfe sich setzen.
Ein selbstbewusstes Mädchen namens Alice nahm den Faden auf. »Am Bahnhof haben sie uns wieder Saft gegeben. Da war ein Laster mit einem Ladentisch … Und ein Süßigkeitenladen war da auch, und wenn jemand Taschengeld hatte, dann konnte er was kaufen. Danach mussten wir alle zur Toilette gehen. Eine Frau hat uns gezeigt, wo, weil sie gesagt haben, dass der Weg zur Schule weit wäre. Und dann ist Mister Smith gekommen und hat gesagt, dass wir ihm folgen müssen. Also haben wir es getan.«
Mr Smith, so erklärte Mr Walsh, war der Hauswart der Schule.
»Ein Mann hat uns Fahnen gegeben«, meldete sich nun McQuillan erneut zu Wort, begierig, die Geschichte wieder für sich zu reklamieren. »Mister Smith hat es nicht sehen können, weil er ganz weit vorne war. Aber wir haben die Fahnen genommen.«
Die anderen Kinder schwatzten dazwischen, um den Mann mit den Fahnen zu beschreiben. Groß, Donkeyjacke, schmutzige Fingernägel. Alle hatten sich in ihren Zweierreihen an den Händen gehalten und mit den Fahnen gewedelt.
»Sie bemühen sich, die Evakuierten willkommen zu heißen«, erklärte Walsh. »Sie geben ihnen Flaggen oder Ballons oder Süßigkeiten. Sogar Kuchen.«
»Ich mochte den Mann nicht«, sagte eines der Mädchen bestimmt. »Er hat nach Whisky gerochen«, fügte es hinzu und lief rot an, vielleicht, weil ihm in den Sinn gekommen war, dass es zu viel über das Leben daheim offenbart hatte.
»Wo war das?«, fragte Brooke.
Einer der anderen Jungs, der etwas älter war als der Rest der Bande, konnte sich gut erinnern. »Da war so ein Denkmal für den Großen Krieg. Ein marschierender Soldat. Der hat mir gefallen.«
Brooke nickte. Die Statue mit Namen »The Homecoming« stand am unteren Ende der Station Road. Ein kahlköpfiger junger Soldat, der in die Stadt marschierte, den Blick auf den Bahnhof gerichtet, als warte er darauf, dass seine Kameraden sich zu ihm gesellten. Die Figur wirkte froh und siegreich; der Krieger trug einen Lorbeerkranz. Der Soldat war nach einem Freund Brookes aus seiner Studentenzeit modelliert worden, ein Trinity-Mann, der tatsächlich siegreich zurückmarschiert war – oder zumindest lebendig.
»Hat er irgendetwas gesagt?«, fragte Brooke. »Der Mann mit den Fahnen?«
»Er hat gesagt, die Fahne wäre für mich – Mary«, sagte ein Mädchen. »Wir hatten alle unsere Etiketten, darum wusste er, wie wir heißen. Patrick hat er gesagt, das wäre ein guter Name. Hat er doch, oder?«
Patrick nickte.
»Hat er all eure Etiketten gelesen?«
Mehrere Kinder nickten.
»Wie hat er sich angehört – hatte er einen irischen Akzent?«
Keines der Kinder sagte einen Ton, aber erneut nickten mehrere von ihnen.
Der Rest ihres ersten Tages war einem strikten Zeitplan gefolgt. Die Kinder hatten in der Kirche eine Mahlzeit erhalten und waren gebeten worden, sich auf den Kirchenbänken ein »Bett« für die Nacht zu machen, ehe man sie zum Schulspielplatz gebracht hatte, wo Mr Smith Spiele für sie veranstaltet hatte. Um sechs waren sie wieder drin und bekamen Tee, während Pater Ward ihnen Geschichten vorlas. Anschließend sangen sie Lieder, die Mrs Aitken am Piano begleitete. Die Türen wurden abgeschlossen, Namen aufgerufen und die Lichter gelöscht.
Brooke bat darum, den Hauswart zu sprechen, ehe er wieder ginge. Joe Smith, den sie beim Schneeschaufeln auf dem Spielplatz antrafen, erwies sich als Überraschung: in den Zwanzigern, jugendlich frische Züge, hatte er den Posten übernommen, während er auf seine Einberufung wartete. Sein Vater war bereits mit dem Expeditionskorps draußen in Frankreich. Sein Akzent war reinstes Londoner East End, und selbst, als er sich auf seine Schaufel stützte, vermittelte er das Gefühl potenzieller Bewegung: von rhythmisch stampfenden Knien, pumpenden Armen; ein Mann, der in die Ferne rannte.
Walsh sagte ihm, dass sie Seans Leichnam im Fluss gefunden hatten.
Danach standen sie schweigend da, bis der Schulleiter dem jungen Mann die Hand auf die breiten Schultern legte.
»Ein Athlet, unser Joe«, bekundete er. »Er läuft wie der Wind, steht um sechs auf, und dann geht’s wie ein Windhund am Fluss entlang. Und mit dem Fußball wirkt er auf dem Spielplatz wahre Wunder.«
Nachdem er den jungen Mann solchermaßen empfohlen hatte, wirkte Walsh plötzlich niedergeschlagen, ganz so, als hätte er Verrat an der allgemeinen Atmosphäre der Trauer begangen. »Ich muss los und Pater Ward die Neuigkeit überbringen«, erklärte er und eilte davon, zurück in die Wärme der Schule.
Brooke fragte den Hauswart nach dem Mann, der die Fahnen verteilt hatte, aber die Kinder hatten recht. Er hatte ihn nicht gesehen und hatte, als er sich am Speaker’s Corner am Rand von Parker’s Piece umgedreht hatte, gestaunt, als er all die Kinder mit Fähnchen hatte wedeln sehen.
»Keine Spur von ihm, aber sie hatten alle Fahnen und haben damit wie verrückt herumgewedelt. Das war ein Anblick. Es hat sie eindeutig aufgemuntert. Ein paar Leute haben sogar dazu geklatscht und so. Leute auf der Straße und auch ein paar auf Parkbänken. Schön zu sehen. Ein echtes Willkommen.«
»Haben Sie Sean später auf dem Spielplatz gesehen?«
»Oh, ja. John habe ich seither auch kennengelernt – John McQuillan –, die zwei haben am ersten Tag regelrecht aneinandergeklebt. Waren beide fußballverrückt. Und ziemlich gut. Ich hab sie Hinterherlaufen, Nachsetzen und Ballhochhalten üben lassen. Sie hatten Talent, so viel steht fest.«
Brooke trat näher. »Es tut mir leid, das fragen zu müssen. Wir sind ziemlich überzeugt, dass wir Sean gefunden haben, aber es wäre hilfreich, es genauer zu wissen.«
Smith nickte und ordnete die Füße neu an, als wäre er zum Paradieren aufgefordert worden.
»Ich werde gleich seine Eltern in London aufsuchen. Sie haben das Recht, umgehend informiert zu werden. Wir werden natürlich eine formelle Identifikation benötigen. Das zu arrangieren könnte jedoch noch einige Tage in Anspruch nehmen. Deshalb wäre es eine große Hilfe für mich, wenn ich schon jetzt sicher sein könnte hinsichtlich seiner Identität. Würden Sie, könnten Sie die Leiche für uns inoffiziell identifizieren? Es würde nur einen Moment dauern.«
Jegliche Farbe sickerte aus Smiths vormals so energiegeladenen Zügen. »Ja, natürlich. Wenn das hilft. Ich kann sein Gesicht noch vor mir sehen. Also, ja, ich könnte. Aber es gibt doch immer noch Hoffnung – dass es ein Irrtum war und dass das irgendein anderes Kind ist?«
Brooke setzte seinen Hut wieder auf. »Ich weise meinen Sergeant an, einen Wagen zu schicken. Dauert vielleicht eine Stunde, länger nicht.«
Er berührte kurz seine Hutkrempe und wandte sich zum Gehen.