KAPITEL NEUNUNDZWANZIG

Die Sonne über Cambridge ging bereits unter, als Brooke aus dem Zug stieg und über die Station Road zu »The Homecoming« marschierte. An diesem Abend schien es ihm, als würde der siegreich ausschreitende, gelehrte Soldat spotten über Brookes Unfähigkeit, den Tod eines fünfjährigen Kindes zu enträtseln. Im Krieg gab es auf dem Schlachtfeld stets eine Gewissheit: Man kannte seinen Feind und wusste, wann er geschlagen war. Die Kunst der Ermittlungsarbeit erforderte mehr Feinsinn. Die Familie des toten Kindes mochte dysfunktional sein und sonderbar distanziert, aber er hatte kein Motiv für einen Mord feststellen können. Blieben noch die IRA-Attentäter. Heute Nacht würde die Zeit für Patrick O’Leary ablaufen. Das Borough würde in die Räumlichkeiten des Iren auf Honey Hill eindringen, und die Fragen, denen er sich würde stellen müssen, reichten von seiner Rolle beim S-Plan bis zum Tod eines unschuldigen Kindes.

Nachdenklich betrachtete er den Schnee, der sich auf »The Homecoming« gesammelt hatte, besonders auf dem umgedrehten deutschen Helm, der zur Beute des Siegers gehörte. Er erinnerte ihn daran, dass die Kinder an diesem Ort dem mysteriösen, patriotischen Iren begegnet waren, der ihnen Willkommensfähnchen überreicht und ihre Namensplaketten gelesen hatte. Der kleine John McQuillan, Seans neuer Freund, war derjenige gewesen, der sich an die Begegnung erinnert hatte. McQuillan schien ihm ein nervöses Kind zu sein, wechselweise geschwätzig und schweigsam. Hatte er die ganze Wahrheit gesagt?

Brooke warf einen Blick in sein Notizbuch: Er hatte die tüchtige Mrs Aitken gebeten, das Spinning House anzurufen und die Adresse der Familie zu hinterlassen, die sich um den Jungen kümmern sollte. Das Haus befand sich in New Town, einem Verbund aus Arbeiterklassestraßen hinter dem hoch aufragenden Turm der Church of Our Lady and the English Martyrs; die Mutterkirche der bescheidenen St. Alban’s Church. Die Saxon Street lag dicht genug an der Kirche, dass der Schatten des Turms sie wie ein Messer in zwei Teile zerschnitt. Dort traf Brooke auf einen Haufen Kinder und Jugendliche, die mit selbst gebastelten Schlitten spielten. In der schmalen, feuchten Straße herrschte ein höllischer Lärm.

Die Tür von Nummer 57 war nur angelehnt. Hinter ihr lag ein Hausflur mit blankem Boden. Drei Kinder, zwei davon Jungs, die ein Kleinkind festhielten, drängelten sich auf der Schwelle an ihm vorbei und schrien, sie seien weg, um an dem Spaß teilzuhaben. Im Hauswirtschaftsraum saß eine Frau an einem Tisch und sah einem Mann zu, der einen Teller mit Gehacktem und Kartoffelpüree verspeiste.

Mrs Harper schüttelte Brooke die Hand und sagte, ihr Mann Sidney sei gerade erst von einer langen Schicht in der Zuckerrübenfabrik zurückgekommen, darum habe sie die Kinder raus an die frische Luft gelassen.

»Tut ihnen gut«, erklärte sie und setzte einen Kessel auf. Mr Harper arbeitete sich derweil gemächlich durch das Gehackte und nahm sich eine Flasche Bier, das er Zoll um Zoll in einen Zinnbecher umfüllte.

»Wie geht es John?«, fragte Brooke.

Mrs Harper stellte ihm einen Stuhl nahe an das Kohlenfeuer.

»Er ist oben, zusammen mit meinem Jüngsten«, sagte sie erkennbar erfreut. »Dieses Kind verdient ein gutes Zuhause.«

Mr Harper grunzte und schenkte sich mehr Bier ein. Kurz blickte er Brooke an. »Was zu trinken?«, fragte er.

Sie gaben ihm ein Glas und eine Flasche, und er setzte sich, genoss die Wärme und lauschte dem fernen Getöse der Kinder auf der Straße. Inzwischen war es beinahe dunkel, wodurch die Helligkeit des Feuers mit jeder Sekunde intensiver wirkte.

»Hatte er denn in London ein gutes Zuhause?«, fragte er.

»Er ist nicht glücklich. Ich glaube, er vermisst seinen Freund – den Jungen, der verschwunden ist. Grausam, so etwas. Sie haben sich im Zug kennengelernt und auf Anhieb verstanden. So ist das in diesem Alter. Ron, mein Jüngster, tut, was er kann, aber man sieht, dass Johnny einsam ist.« Sie dachte darüber nach. »Na ja, eigentlich wirkt er eher verloren.«

Sie holte Luft, als wollte sie sich zu einer Entscheidung durchringen. »Zuhause ist nur seine Mum, so wie es klingt. Irgendetwas stimmt da nicht, aber wir wissen nicht, was genau dahintersteckt. Er fragt nur immer wieder, wie lange er bei uns bleiben kann. Ich habe fünf kleine Kinder. Hier geht es zu wie in einem Wanderzirkus. Es bricht mir das Herz, dass er nicht nach Hause will.«

Mr Harper nickte.

»Ich würde gern erfahren, ob der kleine Sean etwas zu ihm gesagt hat, das er uns bisher nicht erzählt hat«, sagte Brooke. »Sehen Sie, wir haben den Leichnam gefunden, also geht es jetzt um Mord.«

»Nur zu«, sagte Mr Harper. »Ich gehe mal einen Schneeball werfen«, fügte er hinzu und trampelte zur Haustür.

»Werde erwachsen, Sidney Harper«, sagte seine Frau mit einem amüsierten Kopfschütteln.

Dann hörten sie Schritte auf der Treppe, und zwei Jungs stürzten herein. Der Größere, vermutlich der junge Ron, flüchtete seinem Vater hinterher, als Mrs Harper John anwies, sich zu setzen. Sie gab ihm einen Becher Tee und erklärte, sie wolle die Gelegenheit wahrnehmen, um oben die Betten zu machen, ehe sie sie allein ließ.

»Da oben ist es ziemlich kuschelig«, bekannte sie. »Zumindest halten sie sich da gegenseitig warm.«

Brooke sah dem Jungen an, dass er immer noch Angst hatte. Inzwischen war er sicher, dass der gehetzte Blick auf mehr hindeutete, als nur ein unglückliches Leben daheim.

»Ich war gerade in London, um Seans Mum zu besuchen«, sagte er. »Sie kann sich nicht vorstellen, wer ihm hätte wehtun wollen. Hat er dir irgendetwas verraten, John? Ich weiß, das habe ich schon einmal gefragt. Aber es ist schwer, vor all den anderen offen zu sprechen. Mrs Harper sagt, du bist nicht glücklich. Sie glaubt, es liegt an Zuhause. Oder ist es vielleicht wegen Sean? Ist da etwas, das du mir sagen möchtest? Du kannst mir alles erzählen.«

»Was passiert dann?«, fragte er.

»Dir wird nichts passieren. Warum sollte es?«

Er starrte seinen Becher an. »Wir haben im Zug Spiele gespielt. Er mochte Spiele. Ich liebe sie. Wir hatten einen Ball, also sind wir auf dem Gang auf- und abgedribbelt. Wir haben die Mädchen zum Kreischen gebracht und ein Fenster in einer Tür zerbrochen. Das habe ich nicht erzählt. Der Schaffner hat es gesehen und hat gesagt, wir würden jetzt Ärger bekommen. Sie würden uns einsperren und den Schlüssel wegwerfen. Und als er weg war, hat Sean ein Feuer gemacht.«

»Ein Feuer?«, hakte Brooke nach.

»Ja. Da war ein Abfalleimer mit Müll, und Sean hatte eine Schachtel Streichhölzer.«

»Wo hatte er die her?«

»Aus der Küchenschublade bei sich zu Hause.«

»Aber ihr habt nicht den Zug in Brand gesteckt, richtig?«

»Es ist wieder ausgegangen.«

»So ein Pech.«

»Er hat auch Sachen geklaut.«

Zum ersten Mal schlich sich eine schlitzohrige Note in den Bericht.

»Schokolade an einer Ladentheke im Bahnhof. Ich musste im Regal auf etwas zeigen – Brauseriegel – und er hat zwei Fry’s genommen. Die haben wir auf dem Weg nach unten gegessen.«

»Kleine Verbrechenstour, was? War das allein seine Idee?«

»Ja. Er hat gesagt, das macht er oft. Vielleicht hat er etwas gestohlen, und darum ist der Mann gekommen und hat ihn geholt? Vielleicht war es etwas Kleines. Haben Sie in seinen Koffer geguckt?«

»Nur Kleidung, John. Krimskrams. Eine Owzthatdose.«

»Wir haben im Zug Owzthat gespielt«, sagte John. »Ich war England, Sean die Aussies.«

»Der Mann mit den Fähnchen, hat der mit dir gesprochen? Oder mit Sean?«

Endlich blickte der Junge auf. »Er hat gesagt, wir sollen die Fahnen schwenken. Er hat sich unsere Plaketten angesehen und gesagt, er hätte auch Familie in London. An einem Ort, der County Kilburn heißt. Oder sowas.«

Brooke lächelte. »Genau. Viele Iren denken, das wäre eine irische Grafschaft. Aber das ist ein Erwachsenenwitz.«

Nun, da er den Vandalismus und den kleinen Diebstahl gestanden hatte, wirkte der Junge nicht mehr ganz so angespannt. War das schon die Wurzel seiner unverkennbaren Angst gewesen? Vielleicht fürchtete er, er würde für vergangene Missetaten bestraft, wenn er nach Hause ging. Und Brooke bezweifelte, dass Sean wirklich der alleinige Anstifter bei dem ganzen Spaß gewesen war.

Brooke stellte seinen Teebecher auf den Herd. »Die IRA hat Sean nicht erwähnt, oder? Du weißt doch, was das ist?«

»Klar. Ich bin ja nicht blöd. Wir haben über Fußball geredet. Über die IRA reden gehört sich nicht. Meine Mum sagt, wenn man etwas über die hört, soll man es am besten gleich wieder vergessen.«

Einen Moment saßen sie schweigend beisammen, dann stand Brooke auf. »Es tut mir leid, dass du deinen Freund verloren hast, John.«

»Ich möchte nicht wieder nach Hause«, sagte er. »Ich will hierbleiben. Hier ist es viel lustiger.«

»Ich würde einen Tag nach dem anderen nehmen«, riet ihm Brooke. »Ich bin sicher, deine Mum hat dich sehr lieb. Also hat sie gewollt, dass du in Sicherheit bist, und darum bist du hier. Wenn die Deutschen Flugzeuge nach London schicken, dann will sie dich bestimmt nicht so schnell wieder dort haben. Wer weiß … der Krieg könnte lang werden.«