Brooke setzte alle Ressourcen ein, die das Borough zu bieten hatte. Ein Funkwagen wurde nach Baits Bite entsandt, der nächsten Schleuse flussabwärts, während Vorbereitungen getroffen wurden, um den ganzen Fluss bei Morgengrauen von der Mathematiker-Brücke stromabwärts mit Netzen zu durchsuchen.
Auf welchen Bereich sollte sich die Suche konzentrieren? Es war anzunehmen, dass das Kind zusammen mit Brooke und dem Stocherkahn durch die Schleuse getrieben war, obgleich sich die Tore da bereits schlossen. Das bedeutete, dass es in einen der Wirbel geraten und in ein Nebengewässer oder einen Graben getragen worden sein konnte.
Die Nachtschicht des Borough war im Einsatz, an beiden Ufern sollten drei von ihnen die Meile von der Great Bridge zu Baits Bite abgehen. Die motorisierte Flusspatrouille der Army war dem oberen Flusslauf zugeteilt worden. Den mobilen Suchscheinwerfer einer Flakgeschützstellung auf dem Marshall Airport hatte man ans Ufer gerollt. Jenseits der Gischt des zwischen den Schleusentoren herabfallenden Wassers zeigte sich die Oberfläche ebenfalls lebendig, voller Blasen, Strudel und Treibgut aus Zweigen und Ästen, Moos und Schilf. Lichter flackerten in den Kanal- und Hausbooten, deren Eigner an Deck Beobachtungsposten bezogen hatten. Der WVS, der Women’s Voluntary Service, den man wegen des Notfalls alarmiert hatte, war mit einem mobilen Teestand an der Schleuse eingetroffen.
Mit jedem Viertelstundenschlag der städtischen Uhren schwand die Hoffnung.
Brooke richtete im Schleusenwärterhäuschen eine Art Kommandoposten ein. So charmant die Hütte von außen wirkte, so streng utilitaristisch war sie von innen. Die Dekoration beschränkte sich strikt auf das Grün-Weiß der Cam Conservators, einer uralten Flusswächterorganisation, wie eine Messingtafel neben der Tür verkündete. In den vorderen Räumen lagerten schmiedeeiserne Ersatzteile für die Schleuse, Bootshaken und große Fässer mit Schmieröl für Schleuse und Tore. Der Schleusenwärter, ein Witwer, schien nur eine kleine Küche mit Pritsche und Kanonenofen im hinteren Bereich zu bewohnen. Aber er besaß ein Telefon, ein an der Wand hängendes Bakelitmodell mit einer an der Seite angebrachten Karte, auf der in Druckschrift die Nummern für die Schleusen weiter oben und weiter unten am Fluss aufgeführt waren.
Brooke legte Einsatzpläne für die Tagschicht vor, um die Suche fortzusetzen, darin enthalten eine unausgesprochene Frage: die Suche wonach? Nicht mehr nach einem Kind. Nach einer Leiche. Es konnte kaum Zweifel geben, dass der Junge – die Stimme hatte hoch geklungen, aber laut dem Pförtner ging es definitiv um einen Knaben – bereits auf dem Grund des Flussbetts lag, die Lunge voller Wasser. Aber es ging nicht nur um die Suche nach einer Leiche – die Identität des Opfers wäre ein Hinweis in sich, und es mochte noch mehr geben: Wunden, die ihm zugefügt worden waren, Kleidung, eine Schnur, der Sack selbst.
Brooke studierte die Karte des Schleusenwärters im Licht einer kahlen Birne. Er hatte die ockerfarbene Brille gegen die grüne ausgetauscht, um die schmerzhafte Blendwirkung des elektrischen Lichts zu dämpfen.
Die Karte zeigte den Cam, der aus den Bergen im Süden herabfloss, sich um den Stadtkern schmiegte und schließlich weiter in die Fens strömte. Das Kind war in den Fluss geworfen worden – wo? Die Antwort musste flussaufwärts der Mathematiker-Brücke liegen. Kleinere Nebenflüsse – der Oberlauf des Cam, der Granta, der Rhee – bildeten ein ganzes Netzwerk aus Bächen und Teichen. Wie lange konnte das Kind geschwommen sein, ehe es die Mathematiker-Brücke passiert hatte? Ein paar hundert Meter, vielleicht eine halbe Meile? Bei Tageslicht würden die Funkwagen des Borough zu den Brücken und Dörfern stromaufwärts ausgesandt werden, die sich direkt an die von viel Grün gekennzeichneten Vororte mit ihren Zwischenkriegs-Doppelhausbauten anschlossen, in denen sie mit der Haus-zu-Haus-Befragung beginnen konnten. Hatte irgendjemand Kinderschreie gehört? Vermisste ein Familie ein Kind?
Die filigrane Darstellung des Verlaufs von Fluss und Bach, Graben und Entwässerungskanal auf der Karte verschwamm vor Brookes versehrten Augen. Er war erschöpft und brauchte ein Plätzchen, um sich auszuruhen. Das beste Heilmittel gegen die Schmerzen war jetzt ein Spaziergang unter den kalten Sternen in der Linderung verheißenden Dunkelheit. Und er musste dabei nicht einmal allein bleiben, denn die Stadt war voller Nachteulen, die jederzeit ein warmes Kaminfeuer, einen Tee, einen Whisky oder auch guten Rat bereithielten, wenn ein Fall sich als unlösbar darstellte. Oder sogar eine Couch oder einen Lehnsessel, falls der Schlaf ihn wie so oft ohne Vorwarnung überfiel wie ein Hammerschlag.
Folglich verließ er das Häuschen des Schleusenwärters und machte sich auf den Weg zurück in die Stadt. Parker’s Piece – der große offene Park der Stadt – präsentierte sich als geisterhafte Ansammlung weißer Rundzelte; ein Armeelager seit der ersten Kriegswoche. In den Lücken zwischen den Zelten brannten hier und da Feuer. Beim Anblick dieser Szenerie kam ihm abrupt eine Nacht im Jahr 1934 in den Sinn, als er als Detective Sergeant Teilnehmer des Hungermarschs aus Jarrow beschattet hatte. Die zerlumpten, arbeitslosen Männer hatten die Stadtgrenze in der Abenddämmerung erreicht. Zunächst waren sie am Girton College mit Tee und Brötchen empfangen worden, ehe ihnen das Borough mit strikter Teilnahmslosigkeit begegnete, als sie Parker’s Piece erreichten. Dieses Gefühl, dass seine Pflicht und sein Verständnis in entgegengesetzten Richtungen an ihm zerrten, hatte dafür gesorgt, dass er Demonstrationen seither mit Argwohn beäugte.
Aber hier, in einem Militärlager, fühlte er sich wohl. Claire sagte immer, er wirke zielstrebig und gäbe eine ansehnliche Figur ab: Hut; breite Schultern; ein Körper, der sich nach unten verjüngte bis hin zu den Füßen, die aussahen, als wären sie miteinander verschmolzen; gleichsam ein Nagel, der in den Boden getrieben werden sollte. Ein Corporal im Kampfanzug kam mit einer Taschenlampe auf ihn zu und überprüfte seinen Dienstausweis, ehe er ihn mit der Warnung, er möge aufpassen, wo er hintrete, durchwinkte.
Fünf Minuten später hatte er die fernen Eisentore von Fenner’s Cricketfeld erreicht. Kein menschlicher Fußabdruck zeigte sich auf dem Spielfeld, nur die gespenstischen Spuren von Vogelschwingen, zurückgelassen beim Abflug, tüpfelten das Außenfeld. Eine kurze Straße, gesäumt von großen Vorstadthäusern, mündete in einer Sackgasse. Die grüne Tür des letzten Hauses war stets unverschlossen, also öffnete er sie vorsichtig und kletterte die zwei Treppen hinauf zu einem Schlafraum.
Detective Chief Inspector Frank Edwardes lag in seinem Sterbebett, gestützt auf einen Haufen Kissen, und das Licht der Kerze, die neben einem Bücherstapel stand, fiel auf die marmorgraue Haut seines Gesichts. Das Fenster, angelehnt trotz der Kälte der Nacht, bot einen Blick auf das geisterhafte Cricketfeld. Der Mond tauchte es, nun, da die Wolkendecke dünner wurde, in ein kaltes Licht und malte Schatten unter die kahlen Ulmen, die das Gelände umschlossen.
»Eden«, sagte Edwardes und schlug plötzlich die Augen auf.
Sie hörten Schritte in dem Stockwerk unter ihnen. »Das wird Kat sein, die Ihnen Tee kocht.«
»Ich habe sie geweckt«, sagte Brooke.
»Das bezweifle ich.«
Kat, Edwardes Frau, war eine Krankenschwester, die früher mit Claire zusammengearbeitet hatte und sich nun um ihren Mann kümmerte.
»Irgendetwas Neues vom Fluss?«, fragte Edwardes.
Neben dem Bett nahm eine Reihe Funkgeräte eine ganze Wand des großen Schlafzimmers ein. In Friedenszeiten war Edwardes ein »Ham« gewesen – ein begeisterter Amateurfunker –, einer von Tausenden überall im Land, die einfache Sendeanlagen bauten, Netzwerke unterhielten und exotischen Botschaften aus Europa und darüber hinaus nachspürten. Der Krieg hatte ein Verbot aller Funkgeräte mit sich gebracht, die samt und sonders bei der Obrigkeit abgeliefert werden mussten. Doch es gab eine große Ausnahme: Jeder Ham, der zustimmte, den Äther nach nützlichen Informationen abzusuchen und sie umgehend an die Geheimdienste zu übermitteln, konnte seine Ausrüstung behalten.
Edwardes verfolgte die Funknachrichten aus den Fahrzeugen des Borough zusammen mit dem restlichen nächtlichen »Verkehr«.
»Keine Neuigkeiten«, sagte Brooke. »Keine Spur von ihm. Ich hab seine Hand gesehen, Frank. Hätte ihn beinahe erwischt, aber die Strömung war zu stark, und die Schleusentore standen offen.«
»Gut gemacht«, bemerkte Edwardes.
»Was?«
»Dass Sie nicht reingesprungen sind, Eden. Niemand mag allzu waghalsige Helden. Wir alle wissen, dass Sie im Fluss schwimmen, aber nicht in der Dunkelheit, nicht in eiskaltem Wasser, nicht bei Hochwasser. Sie hatten keine Chance.«
Brooke nickte zustimmend. »Das ist richtig. Zu kalt, Edwardes, sogar für mich. Und der Junge war im Handumdrehen wieder verschwunden. Inzwischen schwimmt Eis auf dem Fluss, große Schollen. Es muss nur noch ein bisschen kälter werden, nur noch etwas länger kalt bleiben, und die Studenten werden Schlittschuh laufen.«
Edwardes zündete sich eine Zigarette an und warf den Kopf zurück. »Das würde ich zu gern noch mal sehen. So habe ich Kat kennengelernt. Im letzten Winter vor dem Großen Krieg, draußen bei Coe Fen. Ich war gestürzt, und sie hat mir aufgeholfen.« Seine Augen starrten irgendetwas in mittlerer Entfernung an.
Als er 1919 aus dem Sanatorium zurückgekehrt war, hatte Brooke sein Studium im Michaelhouse aufgegeben, um sich dem Borough anzuschließen. Der Schaden an seinen Augen hatte ihm umfängliches Lesen und Laborrecherchen unmöglich gemacht. Sein Vater, ein distanzierter Mann, hatte einen Nobelpreis für die Entwicklung eines Serums gegen Diphterie gewonnen, ein Durchbruch, der Tausende, vielleicht Millionen von Leben gerettet hatte. Brooke, ein Kriegsheld, hatte immer noch das Bedürfnis, dem Frieden ein Gefühl von Sinn abzuringen. Die Polizei hatte ihm die Möglichkeit eröffnet, sich mit der Lösung logischer Probleme zu befassen und der Stadt, die er sich als einsames Kind angeeignet hatte, zu dienen.
Edwardes war sein Mentor gewesen. Sie hatten beinahe zwanzig Jahre zusammengearbeitet, von Krieg zu Krieg, und die Stadt im Zeitalter der Stempelgeldschlangen während der Großen Depression beaufsichtigt. Vor neun Monaten hatte ein unspezifiziertes Geschwür den alten Mann ereilt. Brooke hatte das Büro seines Vorgesetzten übernommen, und er hätte auch seinen Rang haben können, doch er hatte es nicht eilig gehabt, in die Fußstapfen eines Sterbenden zu treten. Die Fiktion, Edwardes würde geheilt und bei guter Gesundheit zurückkehren, wurde sorgfältig aufrechterhalten. Aber sein Leben würde in diesem Raum enden, und zwar wahrscheinlich noch bevor im Frühjahr der erste Ball auf Fenner’s rollte.
Morsecode hallte plötzlich durch den Raum, und Edwardes griff zu seinem Block und notierte mühelos Zeilen scheinbar zufälliger Lettern in Fünfergruppen.
Als wieder Stille einkehrte, studierte er seine Notiz und lachte. »Nicht einmal kodiert«, sagte er. »Einer von unseren. Es ist immer einer von unseren. Ein Ham draußen in Royston. Er sagt, er hätte gerade eine Nachricht aus Felixstowe aufgefangen, dass dort die Sirenen heulen. Vielleicht ist er das jetzt endlich. Der echte Krieg.«
Brooke setzte sich in den Lehnsessel, als Edwardes anfing, die neuesten Nachrichten von BBC zu umschreiben: Angst vor einer deutschen Invasion in Norwegen, Truppenbewegungen nahe der französischen Grenze. Seine Stimme schien zu verklingen, und als Brooke die Augen schloss, stürzte er rücklings in einen jähen Schlaf.
Edwardes las, als Brooke zwanzig Minuten später wieder erwachte. Auf dem Tisch neben ihm stand eine Tasse mit kaltem Tee.
Edwardes klappte das Buch zu. »Erzählen Sie mir mehr über das Kind im Fluss.«
»Der Pförtner im Queens’ hat eine Stimme ›Hilfe‹ schreien gehört. Nur dieses Wort. Er ist in einem Sack unter der Mathematiker-Brücke durchgetrieben. Ich schätze, er dürfte vier oder fünf sein. Ein Junge. Es gibt keine Hoffnung, aber es wäre schön, wenn es wenigstens Gerechtigkeit geben könnte. Das Problem ist, dass ich mir den Mörder nicht vorstellen kann. Wer würde so etwas tun?«
»Sie haben Recht. Das sprengt jegliches Verständnis. Das ist Ihr Problem – er ist ein Schreckgespenst, dieser Mörder. Er kommt mit einem Sack daher, um sich die ungezogenen Kinder zu holen. Nikolaus, nur verkehrt herum. Ein Sack mit Spielzeug für die braven Kinder, nur der Sack für die bösen. Wenn Sie genau darüber nachdenken, sagt das eine Menge aus. Ich würde mich auf das Warum konzentrieren, nicht auf das Wer. Der Modus Operandi ist schonungslos. Und so einen Sack hat man nicht einfach so bei sich. Also Vorsatz. Und dazu rabiat und erbarmungslos, also würde ich auf einen Profi schließen. Das ist kein Familiendrama, nicht wahr? Wo hat er ihn reingeworfen?«
Brooke fing an, sich im Geiste die Brücken stromaufwärts von der Mathematiker-Brücke vorzustellen: Silver Street, die Little Bridges, Fen Causeway …
Der alte Mann legte den Notizblock mit den hingekritzelten Punkten und Strichen weg. »Sie spazieren nicht mit einem Sack, in dem ein zappelndes Kind liegt, durch Cambridge – richtig?«, fuhr Edwardes fort. »Er muss einen Wagen benutzt haben oder einen Laster und hat das wahrscheinlich bewusstlose Kind auf der Ladefläche oder im Kofferraum transportiert. Dann hält er an, wirft den Sack übers Geländer und fährt davon. Das eiskalte Wasser bringt den Knaben wieder zu Bewusstsein.«
»Gott! Was für ein Gedanke.«
Edwardes setzte sich auf. »Ich werde Ihnen was sagen, Eden. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat er schon früher getötet. Und Sie wissen, was das bedeutet. Es ist ein Klischee, aber eben auch die grausame Wahrheit: Wenn er muss, wird er wieder töten.«